Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

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»Der Prozeß gegen Eva Mariotti wurde am 26. Oktober unterbrochen (die Liste der Zeugen schien erheblich erweiterungsbedürftig) und am 24. Februar 1964 wiederaufgenommen. Nach erneuten Zeugenaussagen, Zusammenbrüchen, Widersprüchen zu eigenen Aussagen hüben wie drüben fiel dem Staatsanwalt in seinem erneuten Plädoyer für lebenslängliches Zuchthaus nichts sachlich Neues, aber immerhin eine etwas leichtgeschürzte Paraphrase für das alte Donnerwort ein: ›Sie (Eva Mariotti) wickelte sie (die Männer) sozusagen um den Finger‹ (›Welt‹, 10. März 1964). Um den Finger gewickelt – die Teufelin!«

»Der Hexenprozeß 1964 hat sein Ende gefunden. Zwar hat die Verteidigung Revision eingelegt, aber wie auch immer diese Geschichte enden mag, für Eva Mariotti ist sie zu Ende. Männermoral und die Eifersucht der Häßlichkeit konnten am Tage der Urteilsverkündung ihre makabre Befriedigung finden: Eva Mariotti war gebrochen, armselig, ihres Geistes und ihrer Glieder nicht mehr Herr. Unfähig zu gehen, zu stehen, zu sitzen, zu weinen, schien sie, da ihre Natur es besser mit ihr meinte als das Leben, in Trance versunken.«

»›Und siehe, der Mangel an Beweisen dafür, daß Frau Klein gemordet hat, ward reichlich wettgemacht durch den Überfluß an Beweisen für ihren unsittlichen Lebenswandel‹– man hat wenig Veranlassung, diese Kraussche Feststellung aus dem Jahre 1905 im Jahre 1964 nach den Fällen Rohrbach, Brühne und Mariotti zu korrigieren.«

»Im Zweifelsfalle gegen die Frau, besonders, wenn sie ›unsympathisch‹ ist, das heißt: nicht schielt, keine Hühnerbrust hat und keinen dünnen Knoten. Die Feindesmacht gegen sie ist unübersehbar. Auf die Aversion der Geschlechtsgenossinnen kann sie sich fest verlassen (Amerikas Schauanwalt Belli weiß, warum er in einem Prozeß, den er für eine Frau führt, keine Frauen als Geschworene duldet). Aber auch auf das andere Geschlecht. Es rächt sich für sein ungesund gutes oder lästig schlechtes Gewissen. Je nachdem.

Schöne Frauen sind zu allem fähig. Sie sind für alles verantwortlich. Sollen sie büßen. Für ihre Schönheit. Für das, was sie damit anrichten. Und für das, was sie damit nicht anrichten.«

Und vorher, in einer Feststellung, deren sachliche Unbestreitbarkeit allein, gäbe es alles andere nicht, schon genügte, alle deutschen Staatswesen des bisherigen zwanzigsten Jahrhunderts, gleichgültig, was sie an eigener Barbarei oder an Berufungen auf westliche Humanität leisten, aus dem Zivilisationsbereich auszuschließen:

»Daß Eva Mariotti schon vor Prozeßbeginn vielen Millionen Lesern als Mörderin präsentiert wurde, ist durchaus legal in unserem Lande, das es zu irgendeinem Gesetz, das dem englischen contempt of court entspräche, noch nicht gebracht hat.«

Und in einem Rückblick auf die Verlautbarungen eines Presseberichterstatters während des Prozesses gegen die Brühne12:

»Weiter wußte er: ›Die Angeklagte gibt in den folgenden zweieinhalb Stunden beredte Proben ihrer geistigen und körperlichen Frische.‹ Und das ist ebenso unverzeihlich wie unklug. Als Gebrochene könnte Vera Brühne noch auf Mitleid hoffen, aber jemand, der in so brenzlicher Lage seine Sinne beisammen hat, wirkt provozierend.

›Sie redet mit ihrer rauchigen Stimme frei von der Leber weg, ist hin und wieder einem Scherz nicht abgeneigt … Ihr rheinisches Temperament verführt sie manchmal zu saloppen Redensarten.‹ Mit einem bißchen Klugheit hätte Vera Brühne ahnen müssen, daß durch so ein Auftreten nicht viel zu gewinnen und beinahe alles zu verlieren war. Rauchige Stimme – vielerlei Laster schwingen da mit. Redet frei von der Leber weg – das ist auch nicht gut im Lande der offiziellen Stotterer und Blattableser. Und noch als Frau.

›Der Mann sieht irre nach Geld aus‹, so soll sich Vera Brühne über Herrn Praun fachmännisch geäußert haben. Auf die Gefahr hin, für sämtliche in der Bundesrepublik unaufgeklärten Morde verantwortlich gemacht zu werden, möchte ich bemerken, daß auch ich diesen Satz gegebenenfalls bemühe. Bei manchen Männern ist in der Tat das Geld die bemerkenswerteste Eigenschaft.

… Die Stimme des Volkes äußerte sich aus dem Verhandlungsraum mit ›Pfui‹ und ›Mörderin‹…«

Und in einem andern Rückblick auf den Fall jener Maria Rohrbach13, die, freigesprochen nach dreihundertzweiunddreißig Tagen Haft und drei Jahren Zuchthaus, keinen Anspruch auf Entschädigung hatte: »Maria Rohrbach wurde am Tage ihrer Festnahme von 10 bis 22 Uhr verhört. Die Polizeibeamten wurden dabei ausgewechselt, weil sie zu erschöpft waren.«

Maria Rohrbach wurde nicht ausgewechselt; noch wurde es, nach ihrem Freispruch, das Gesetz.

Es ist schön, daß Petra Kipphoff in der ›Zeit‹ soviel unbemäntelte Wahrheit ausbreiten konnte, und es wäre noch schöner, wenn Veröffentlichungen dieser Art eine Unterstützung durch redaktionelles Sperrfeuer fänden, die ihre Chance, Wirkungen zu tun, auf abendländisches Normalmaß brächte. Aus Gründen von großer Verschwiegenheit und nicht ganz so großer Unerklärbarkeit ist darauf nie oder selten zu hoffen, ja es ist damit zu rechnen, daß das Gegenteil geschieht. Das gleiche Hauptorgan eines in Deutschland traditionell zu brustschwachen Liberalismus, den die Zurückgebliebenheit des Vaterlandes hin und wieder dann aufs tiefste erstaunt, spricht in einem Beitrag über das verlorene Vertrauen (zwischen Justiz und Presse) von Hans Peter Bull vom 18. Oktober 1963 von alledem, was dieses Vertrauen vernichtet hat, nicht14. Nicht von den betrachteten Paragraphen, nicht von »Fehl-« und »umstrittenen« Urteilen, die eben nur als solche erwähnt, in der menschlichen Entsetzlichkeit ihrer Zusammenhänge, Umstände, Folgen aber gar nicht berührt werden, und also nicht etwa vom Fall Manderla – wo drei falsche Zeugen des Staatsanwaltes diesem nicht etwa die Karriere kosteten, sondern nur dem Angeklagten, hätte er für die Anstellung eines Privatdetektivs nicht zufällig genug Geld gehabt, fast die Freiheit. Von alledem schweigt der Referent –, um dann zu dem beruhigenden Schluß zu kommen, daß Deutschland kein Polizeistaat sei, und meine Feststellung, im Kapitel ›Über die Lust am Unrecht und die Unabsetzbarkeit der Niedertracht‹ des schon erwähnten Buches, es sei einer, demnach eine Irreführung: eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, daß der Staat, anders als für Urteile (als hafte er mit Sicherheit, wie wir nachprüfen durften, für die), für fahrlässig fehlerhafte Gerichtsbeschlüsse nicht mehr haftet, sei »sachgerecht« und der Vorwurf der Rechtsunsicherheit, den ich im Hinblick (unter anderm) auf diese Entscheidung erhoben hatte, daher hysterisch.

Aber wo wäre, vom in Deutschland freilich nie bedachten Standpunkt eines Unschuldigen aus, dem durch einen fahrlässig fehlerhaften Gerichtsbeschluß ein Unrecht geschah, der Anteil der Gerechtigkeit an der Sachgerechtigkeit einer solchen Entscheidung?

Es steht zu vermuten, daß die Frage gleichfalls hysterisch ist; nämlich präzise in dem Land dafür gelten darf, dessen Bildungsschicht, einschließlich ihrer Juristen, über ihre diagnostische Zuständigkeit für die Wahrnehmung von Hysterie sich zwölf Jahre lang mit so brillanter, unbestechlicher Gründlichkeit auswies. Offensichtlich, sagt Herr Bull, wenn er die Daten, auf die meine »Anwürfe« an die deutsche Gesetzgebung und ihre Justiz gegründet waren, gerade verschweigt, seien diese maßlos; aber woher bezieht er das Maß, sei es solcher Offensichtlichkeit, sei es des Urteilens überhaupt, wenn ihn das, was in Deutschland passieren kann, so wenig berührt wie er es? Bestätigt eine Unempfindlichkeit des Bewußtseins für einen unmenschlichen Zustand, zu dem im Interesse der Erhaltung dieses selben Zustandes eben diese bemerkenswerte Unempfindlichkeit als integrales Moment selbst gehört, nicht präzise die These, die zu entkräften der Bewußtseinsträger beabsichtigte? Der Satz vom Polizeistaat steht, der von der Lust am Unrecht steht nicht minder: der erste ist hier nochmals belegt oder an die Belege erinnert worden, zu einem gründlicheren Verständnis des zweiten verhalf uns diesmal ein eingereistes, von einer höheren Lehranstalt noch nicht verbildetes Kind – was aber ergibt sich aus der bedauerlichen Gültigkeit dieser Sätze? Ein Volk, das für das Recht nicht einmal ein normales Gefühl hat, wohl aber, immer erneut, wie die Hexenjagd auf die Mariotti wieder erwies, eine Gefühlsidentität mit dem Unrecht, kann auch keine Gesetzgebung und keine Rechtsprechung haben, die seinen Zivilisationsanspruch erfüllen würden – es hat, da anders als es selbst das Recht unteilbar ist, vor dem Gewissen der Völker dann immer noch kein Recht als ein Volk.

Dieses Urteil ist streng; und so gilt es der Feigheit für unbillig, oder es gilt für einseitig oder für überspitzt oder für lieblos oder für schief oder für falsch, und natürlich wäre es denkbar, daß es das ist, aber in einem so wünschbaren Falle müßten die Beweisfehler doch zunächst demonstriert werden, für die Wahrheitsfindung in diesem Saal hat die Entrüstung eines Staatsanwalts kein Gewicht. Müßten nicht alle im Land, deren Anspruch auf Menschenrechte mit ihrer Qualifikation beginnt, Menschen zu sein, vor allem daran interessiert werden, daß es bei dem Urteil nicht bleibt? Müßten sie, und seien sie der Bundesjustizminister, nicht irgendetwas in der Sache schon getan haben, ehe ihre Bettdecke, gute Absicht oder Koalitionsmehrheit sie das nächste Mal deckt? Besagtes Verdikt, welches Deutschlands Geschichtsschicksal längst in klauselloser Stille signiert hat, erwartet seine Revision an dem Tag, an dem der letzte Paragraph, der das Recht schändet, fiel, der letzte Unschuldige frei, der letzte pflichteifrige Unmensch aus den bundesdeutschen Institutionen verjagt ist und die Verteidigung endlich anfangen kann – des Letzten an Recht, auf den guten Willen der Menschen, das einem so langsam lernenden Volke in einer spontaneren Welt dann noch blieb.

 

Schweigen ist Nagold.
Von der Einübung und ihrer Alternative

Bis es soweit ist, muß die Verteidigung dem nach ihr heißenden Ministerium obliegen. Armeen gibt es auf dem ganzen Erdkreis, unter normalmenschlichen Umständen böte die Bundeswehr jedenfalls kein Sonderproblem.

Die moralische Strittigkeit des Berufs spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle: auch eine rigoristische Entscheidung über sie schafft Streitkräfte, welche die Entscheidung nicht teilen, nicht ab. Der Diffamierung der Dienstverweigerer muß ein Ende gesetzt werden. Sie kennt viele Formen; die Entwürdigung wird hier nicht unterschätzt.

Aber sie ist nicht der Kern einer Sache, bei der es längst nicht mehr um das ausgebliebene Wunder eines deutschen Verzichts auf Waffen1 geht, nachdem man, zweimal innerhalb eines halben Jahrhunderts, von der angestammten Verwechslung der Instrumentalitäten der Macht mit dieser selbst soviel Schaden erlitt. Ein solches Wunder hätte den Sprung über das Normale hinweg aus dem Alptraum in Risiko, also, vorausgesetzt, daß er mit revolutionärem Elan erfolgt wäre, in die Freiheit bedeutet, zu Sprüngen dieser Art aber fehlt es dem Volk an jener gewissen Waghalsigkeit, die der Elan ist, und wo es daran fehlt, ein solcher Sprung aber trotzdem versucht wird, führt er dort eben, wo einem revolutionären Willen keine »Macht« der Welt Widerstand leisten kann, meist zu nichts Gutem. Da die Gelegenheit, die vor zehn Jahren noch bestand, versäumt wurde, müssen Ansätze zu einem solchen Willen jetzt auf eine günstigere Geschichtsstunde warten. Inzwischen gilt, daß die Vernunft pädagogisch mit dem Stande zu rechnen hat, in welchem sie die Welt jeweils vorfindet und aus dem sie sie jeweils nur ein bescheidenes Stück voranbringen kann; sie muß, um ihre eigene Verbindlichkeit durchsetzen zu können, diese zunächst also in Beziehung zu der ganz andern Verbindlichkeitserfahrung setzen, die in der Welt, in die sie hineinleuchtet, gilt. Dies wieder setzt voraus, daß eine solche Beziehung möglich, zwischen den beiden Erfahrungen von Verbindlichkeit etwas ihnen beiden Gemeinsames also schon da ist: genannte andere Erfahrung von Verbindlichkeit somit Ansätze von Vernunft schon enthält. Dieses ist in der Tat der Fall; der Rigorismus macht es sich in solchen Fällen leicht zu bequem, was gerade er doch nicht sollte, und wird dort schließlich unverbindlich, wo er wissentlich eben gar nichts erreicht. Die Vernunft, wo sie es mit der Bundeswehr zu tun bekommt, muß auf das Ethos des Soldaten daher abstellen. Das Bild, das diesem vorschwebt, ist immer das des sein Heim, seine Familie, gegen gewalttätige Eindringlinge verteidigenden Hausvaters. In der Tat gibt es solche Situationen, es gibt sie sogar, der Merkwürdigkeit zum Trotz, daß seit dem Anfang des christlichen Zeitalters alle Armeen immer nur zur Verteidigung da waren, die Angriffe also aus dem Nichts heraus erfolgt sein müssen, in der Geschichte, aufs greifbarste gerade, dank deutscher Initiative, in der jüngsten; und was genanntes Urmodell betrifft, so können selbst die Rigoristen doch selten mit Sicherheit sagen, was in einem solchen Fall das Vernünftige eigentlich wäre, noch wie sie selbst sich verhalten würden, träte er ein. Es handelt sich hier also nicht um ein ausgebliebenes Wunder, sondern im Gegenteil, wie immer in der Bundesrepublik, um ein eingetretenes; dasjenige nämlich, daß der posthitlerische deutsche Mensch auch in diesen Dingen nicht nur über das menschliche Normalmaß nicht hinaus ist, sondern trotz des verzweifelten Nachhilfeunterrichts der Geschichte kläglich dahinter zurück; wie Nagold erwies.

Überall, wenn auch in besonderem Grade in Ländern, wo im Anfangen wie im Verlieren von Kriegen der militärische Berufsstand gleich erfahren ist, gibt es auf der Welt Martinets, nicht aber gibt es überall Nagold: so wenig wie Unterjettenberg (anbefohlenes Wegtreten, im Dunkeln nach Abschluß einer Übungsabschlußfeier, nach rechts, welche Seite der Truppe dann eine völlig unvermutete Eisbachschlucht ist)2 oder wie Laufschrittübungen, bei denen ein junger Mensch ums Leben kommt, als Finale von Geländemärschen eben eingezogener Rekruten bei glühender Hitze3 oder, was mit den Martinets gar nichts mehr, sondern mit dem Geheimnisbereich des Staates zu tun hat, auch mit diesem aber eben nur geheimnisvoll, die Erschlagung eines Kindes durch eine beim Vorbeizug einer Abteilung sich von ihrem Gefährt lösende Panzerkette, ohne nachfolgende Möglichkeit einer Klarheit schaffenden Etablierung der Schuld, dafür aber mit gerichtlicher Verfolgung und Verurteilung, wegen Verbalinjurien, des unglücklichen Vaters4. Ob der Geheimnisträger in diesem Fall, vor der Erstattung der Anzeige, wenigstens einen Kranz mit schwarzrotgoldener Schleife geschickt hatte, ist dem Autor nicht bekannt. Jedenfalls erkennt man schon, wie dessen so guter Wille, auf das Ethos des Soldaten abzustellen, zunächst Schwierigkeiten hat, zu entdecken, worauf abstellen zu können er so inständig und herzlich sich sehnt, und daß die Bereitschaft, sich verteidigen zu lassen, auf ein derartiges Ethos nicht bauen kann, sollte sich nicht mehr darauf abstellen lassen als eine Weißwurst mit Krautsalat vor dem Twist. Besagtes Ethos, besteht es, sollte, in seiner eigenen Sphäre, die Martinets aus dem Feld schlagen gleichzeitig mit der Anonymität der Büros, schon bei einem solchen Kampf aber, gewinnen sie ihn, würden die Ethosträger jene Erfahrungen sammeln, deren die dann folgende Kampfphase in besonderem Maße bedarf. Erfahrungen mit dem nämlich, was eben Nagold in Deutschland ermöglichte und wovon, wenn davon die Rede ist, man anders als von den Martinets immer schweigt: mit dem Zustand des Menschen, des Materials also, welches sie zur Ausbildung in Empfang nehmen und dessen Verhaltensspanne vom Vertuschen oben bis zur Kriechspur im Unteren reicht. Generalnenner ist das Knochenlose im von Hitler hinterlassenen Deutschen, das sich in Kadavergehorsam, Umfallsucht, sachverschweigende Sachkompetenz, Aalglätte und Radfahrertum je nach biographischer Gegebenheit auffächert und auch für eine moderne Armee schließlich keine wünschbare Grundlage ist. Dieses Wesen ist in der jungen Generation nach manchen Anzeichen im Rückgang begriffen, aber lange nicht so schnell wie nottäte, sonst käme es ja zu solchen Vorfällen nicht, vielmehr würden die jungen Leute ihre Schinder einfach dann auslachen, das Leben aber ihnen gewonnen sein, völlig ohne dessen Einsatz für nichts. Einzusetzen hätten sie zunächst nur ein militärisch vorteilhaftes Maß an Courage, welche sie also in sich entdecken müßten, wobei es gegenwärtig ihnen an Tempo gebricht: unter dem Gesichtspunkt des modernen Krieges, des nicht-atomaren, mit seinen kapriziösen Guerillas, bringt ihr Mangel an Privatinitiative das Vaterland absurd in Gefahr. Hier müßte die Innere Führung eingreifen. Sie kann auf fremde Modelle nicht abstellen. Diese haben mit einem andern Material zu tun – auch die Nato ist in diesem Punkt nicht genormt. Charaktererziehung heißt gar nichts, wenn, in Deutschland, nicht Einübung des Ungehorsams, daher muß dieser zuerst trainiert werden, wenn der Rekrut aus dem Zivilleben kommt.

Was immer an Verdiensten um das Land sonst der Bundeswehr noch beschieden sein möchte, ein solches Herumwerfen des Steuers brächte ihr Ehre und Ruhm. Nicht allein wäre der Entschluß von nie erhöhter Tapferkeit vor dem Feinde, welcher der Seelenzustand in Deutschland ist, sondern er höbe auch die Moral der Armee. Über diese wird geklagt. Man ahnt, nur zu sagen wagt es noch niemand, daß die Menschheit sich einem Punkt nähert, wo der Unterschied sich auf Null reduziert, der zwischen Courage und Zivilcourage begrifflich bis heute gemacht wird; für seine Hinfälligkeit ist gesorgt, weil kein Ernstfall mehr berechenbar ist. Das ist das Ende des Landsknechts, also jener Feigheit, die im Kollektivmut Versteck spielte, Selbstaufgabe mit Grund leichter fand als die Aufgabe gerade einer Behauptung des Selbst, im Leben wie im Tod: schon bei Lebzeiten, ehe er fiel und sich auflöste, löste der Soldat sich in einen Fall von Identitätsschrumpfung auf. Inzwischen, in Deutschland, nach zwei verlorenen Kriegen, ist diese Schrumpfung auf den Soldaten einerseits nicht mehr beschränkt, anderseits gerade für ihn nicht mehr nützlich. Eben die Armee müßte sie also rückgängig machen. Was ihrem Menschenbestand mangelt, ist nicht Todesmut, sondern Zivilität.

Sie müßte also völlig umdisponieren. Statt militärmusealer Griffe, nach deren Klappen die Klio nicht fragt, müßte sie ein Begriffsvermögen, das immer nachklappt, theoretisch wie praktisch in Schliff nehmen, hätte für die Schallwigs und Raubs5 aber weiter probate Verwendung, da auch ein moralisches Aufsässigkeitstraining im Leeren nicht stattfinden kann. Geübt werden muß am Mann, daher empfiehlt sich für den Anfang eine Methode, die als pädagogische Verschlagenheit, Duplizität, hier nur chiffriert werden kann; doch würden die Herren den Code, in den die Chiffre gehört, nach und nach dann schon lernen. Die Bundeswehr, in diesem Fall, würde zivilitäts-pädagogisches Volksinstitut. Sie würde brauchbar. Muß Deutschland eine Armee haben, kann es nur noch eine paradoxe sein, die erste ihrer Art auf der Welt.

Es wäre eine Pioniertat; also doch noch ein Geschichtssprung ins Risiko. Die Alternative ist kein Risiko, sondern die Zackigkeit, die immer verliert; es aber nicht wahrhaben will, weil selbst abgrundwärts ihr Weg ja nie gradlinig, sondern über machtvollste Aufschwünge von unbestreitbarer Zickzackigkeit läuft. Darum hat an Nagold teil, wer es verheimlicht; davon nämlich schweigt, was es bedeutet, besagt. Was es besagt, liegt nicht dort, wo man die Bedeutung in der Hauptsache suchte. Nicht im Befehlsmißbrauch, sondern im Selbstmißbrauch – derer, die, verkrümmt vom Milieu, den Befehlen gehorchten, wie Zirkuslöwen, etwas weniger menschlich, die Löwen zeigen Widerstreben, einen sich nicht dreinschickenden Anflug von Geist, in ihnen regt Vernunft sich, ihr Verhalten drückt ihren Konflikt aus, sie verstauen, was sie entselbstet, nicht im Tornister einer leeren Innerlichkeit. Ein Volk, dem das passiert ist, ohne daß ihm auch hinterher klar wird, was da passiert ist, hält derselbe unverbindliche Bannkreis in Haft, der die Geschliffenen selbst befing und ein verwehbarer Kreisstrich im Sand ist, ein Nichts an Moral, die hypnotische Gefangenschaft eines Huhns. Ein solches Volk ist krank. Aber es trägt in sich die Möglichkeiten seiner Gesundung. Unzählige Einzelne in ihm lehnen gegen den Zustand sich auf. Aber meist abermals nur innerlich; wo sie in dem Land dann etwa Zeitungen machen, dürfen diese Zeitungen nicht so tun, als sei ihr Publikum schon völlig normal.

Darum ist Schweigen Nagold. Die Bundeswehr kann umdisponieren. Da man aber nicht sicher darauf rechnen kann, ist mit der Hoffnung, daß sie es tut, nichts getan. Die Einübung des Ungehorsams kann kein Monopol einer Institution sein, ihr Prinzip ist ja gerade, daß der Mensch über seinen Einrichtungen steht. Seit die Obrigkeit fiel, ist sie in Deutschland in der Seele beherbergt, ihr äußeres Korrelat ist nun der Totalanspruch der Einrichtung selbst, des Institutionellen, das da klappt, wenn dabei auch sein eigener Sinn draufgeht, der Mensch immer mit und die Wahrheit und das Recht schließlich auch. Die Einübung des Ungehorsams ist darum die Angelegenheit aller. Ihre Alternative ist die Hühnerhypnose und was immer ihr in einer Geflügelexistenz folgt. Zum Apparat gehört mehr als die gesellschaftliche Sichtbarkeit seiner Betriebe, es gehört dazu ein Menschentyp, dessen Gedanken er bis in die Träume verbiegt.

Es war 1955, als ich nach vierzehn Jahren in Amerika gerade nach Deutschland zurückgekehrt war und aus einem Fenster im ersten Stock eines Bürohauses in der Frankfurter Kaiserstraße, wo ich auf etwas zu warten hatte, auf die darunter befindliche Straßenecke hinabsah, daß mir das folgende auffiel: auf beiden Seiten eines vollkommen leeren Einbahnsträßchens, das dort mündet, stauten sich die Fußgänger auf dem Bürgersteig, die vorn Stehenden hielten wie ein Polizeikordon die hinten Andrängenden auf. Sie standen einander gegenüber in minutenlanger, feierlicher Habachtstellung, worauf denn aber hatten sie acht, es war unerfindlich und ein wenig gespenstisch. Auf dem nur wenige Meter breiten Damm zwischen den beiden Abteilungen oder Mannschaften gab es nicht den geringsten Verkehr, weder konnte aus der Kaiserstraße, wo er stark flutete, in diese Einbahnstraße welcher einbiegen, noch zeigte sich auf dem weithin überschaubaren Damm eben der letzteren ein einziges Fahrzeug. Man gehorchte, das Licht stand auf Rot, stand dort und blieb auch dort, buchstäblich der Buchstäblichkeit des Gesetzes, dem leeren Anspruch jener »toten Ordnung«, von der bei Hölderlin die Rede geht6 und die ja wirklich tot war in dem Fall, denn der Regulierer war kaputt. Es war nichts mit der Ordnung, diesem Nichts, das es mit der Ordnung war, aber wurde gehorcht, bis zum Erscheinen einer Frau, die nicht gehorchte, nicht wartete, sondern sich durch die Wartenden schob und über den Damm ging, sie war hochschwanger, trug einen Koffer in der rechten Hand, dazu in dem linken Arm, an dem sich ein Kind festhielt, Pakete, und sie erregte soviel Auffallen und Bestürzung, daß man sich ihres Falls sogleich annahm, aber keineswegs nun, indem man ihr mit ihrem Gepäck half, sondern indem man hinter ihr her schimpfte. Nicht erbarmte man, nein man entrüstete sich – mit dem wiederholten Ausrufe: Rot! Rot! wies man, anstatt ihre Unfreiheit zu erleichtern, ihre Freiheit zurecht. Kann die Freiheit, die nach ihrem wohl und ursprünglich verstandenen Interesse verfährt, überhaupt aber anders als verdienstvoll sein vor dem öffentlichen Interesse? Die Unruhe allein, die durch den Auftritt einer Person, die mitten in Frankfurt und in Deutschland da mehr als nur rot sah, in den beiden getrennten Lagern sich ausbreitete, führte in der Tat nach bloß einer Minute dazu, daß erste Zweifel an der Richtigkeit der Ordnung ruchbar wurden hüben wie drüben und nach noch einer, daß dem Beispiel gefolgt wurde, wenn auch zögernd und beklommen, und vor allem, nach den Mienen der meisten, die da auf eigene Verantwortung über den Damm gingen, enttäuscht, ja beleidigt – als Polizisten ihres Mitmenschen diskreditiert.

 

Was sie so enttäuschte und beleidigte, war nicht das Versagen der Ordnung. Gerade die Ordnung in ihrer Wahrheit stellte ja das Verhalten der Frau wieder her. Erschüttert wurde vielmehr eine bestimmte Vorstellung von Ordnung, und auf diese Vorstellung und was ihr zugrunde liegt, müssen wir zurückkommen. Wichtig ist zunächst, daß es einseitig und ungerecht wäre, nur das Verhalten der Mehrzahl in dem geschilderten Fall als charakteristisch deutsch zu betrachten, denn das Verhalten der Frau war es auf seine Weise ebensosehr. Es gibt typische, repräsentative Minderheiten, deren Zuordnung zu der Gesellschaft, in der sie auftreten, gerade in der Entschiedenheit begründet liegt, womit ihr Verhalten mit dem Verhalten der Mehrheit polarisiert, und die Leistung solcher Minderheiten ist umso bedeutender und für die Welt produktiver, je mehr Auflehnung gegen die Verhaltensnorm der meisten sie voraussetzt und also: je sturer und dumpfer und rigider in dieser Sturheit und Dumpfheit eben diese Verhaltensnorm ist, wie sie an der Straßenecke sich zeigte. An solchen Einzelnen, die von jeher ja ihr stiller Ruhm sind, hat es in der deutschen Geschichte nie gefehlt, zwar konnten sie sich so gut wie nie in ihr durchsetzen, aber sie brachten uns weiter. Die alte Regel war aber, daß solche Einzelnen, soweit sie nicht ins Ausland gingen, in eine sogenannte innere Welt auswanderten, und das Neue in der heutigen Situation liegt nun darin, daß diese innere Welt unglaubwürdig geworden ist und keinen Ausweg mehr anbietet. Dabei bleibt die authentische Verinnerlichung, die keine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters ist, sondern einfach und ganz zeitlos das Prinzip der Personwerdung selbst, zu unterscheiden von der falschen Innerlichkeit, in die die Entwürdigung des Menschen verdrängt wird, die schon Hegel sah7 und die seit seiner Zeit, immer requisitenhafter werdend, überhandnahm. Die authentische Innerlichkeit unterscheidet sich schon dadurch von ihr, daß sie von sich selbst nichts weiß noch wissen will. Sie flieht vor dem Tatsächlichen nicht, sondern setzt sich mit ihm auseinander. Sie wendet von der Welt nicht den Blick, sondern sie ist die Distanz eines Blickes, der umso voller, aufmerksamer auf der Realität ruhen darf, als eben die Entrücktheit seines Beobachtungspostens ihm die Wahrnehmung ihres Gefüges erlaubt, ihrer Ordnung und ihrer Unordnung, dieser ganzen Hilfsbedürftigkeit der Schöpfung, welche ihn täglich herausfordert. Der innerliche Mensch ist der Provozierte, ergo Provozierende; denn es liegt im Charakter von Herausforderungen, daß sie Einbahnstraßen nicht sein können.

Auch in Deutschland bleibt den Wenigen jetzt also nur noch die Möglichkeit, auf die Provokationen zu antworten, die von seiten der Verhältnisse und der sich ihnen fügenden meisten täglich an sie ergehen; die Möglichkeit, beeinflussend, durch ihr Beispiel erziehend, auf diese meisten zu wirken. Diese neue Lage bedeutet aber, daß sie in der Regel, wie jene Frau an der Straßenecke in Frankfurt, mit ihrer Existenz wirken müssen, viel mehr als etwa durch Worte. Denn das Wort, um zu wirken, verlangt, daß der, der es hört, ihm offen ist, daß er überhaupt noch ein Gehör hat für das Wort; wo, wie jetzt in Deutschland, diese Bedingung nicht mehr, besser vielleicht noch nicht wieder erfüllt ist, kommt bei denen, für die es bestimmt war, das Wort als bloße Ansicht, noch dazu als eine, die abweicht, also als eine verdächtige an. Abweichendes Verhalten hingegen schockiert: es fordert die Mehrheit in ihrer Existenz selber heraus. Wie steht es um diese Existenz? Um eine mögliche Schocktherapie der deutschen Seele und Gesellschaft wenigstens im Umriß bestimmen zu können, müssen wir das Mehrheitsverhalten in seiner Axiomatik erkennen, sozusagen seinen Generalnenner finden. Es gibt ja nicht nur jene Habachtstellungen. Es gibt auch ganz anderes, ja scheinbar entgegengesetztes Mehrheitsverhalten, und ein Versuch, den Generalnenner zu finden, kann nur dann für geglückt gelten, wenn es ihm gelingt, am Grunde selbst der scheinbar gegensätzlichsten Verhaltensformen der Mehrheit in Deutschland eines ihnen allen Gemeinsamen doch am Ende noch innezuwerden. Eine ideologische Rechtfertigung des eingangs beschriebenen Typs verweist gern auf die besondere Gesetzestreue, welche angeblich in solchen Fällen erscheint. Demgemäß ist es zweckmäßig, bei dem allgemeinen Verkehrsverhalten der Deutschen noch einen Augenblick zu verweilen. Sie wissen selbst, daß, außer in Österreich, diesem deutschesten aller Deutschländer, die Unfallziffer im Straßenverkehr kaum irgendwo in der Welt, ja in Europa, so hoch wie in der Bundesrepublik liegt. Sie wissen, daß Geschwindigkeitsbeschränkungen auf bundesdeutschen Straßen so gut wie gar nicht beachtet werden, und es liegt nicht der leiseste Grund für eine Vermutung vor, daß die gleiche Sturheit, die vor einem defekten Rotsignal da minutenlang abwartend verharrt, nicht auch in jenen am Werk sei, die am Steuer eines Autos den Anblick keines vor ihnen fahrenden Wagens ertragen können, ohne ihn überholen zu müssen, auch wenn sie im Ergebnis vielleicht nur eine halbe Sekunde früher am Ziel sind als er.8 Jene Gemeinsamkeit ist dann sehr leicht bestimmt, es ist die Unterwürfigkeit der Seele gegenüber der Mechanik des je Gegebenen und dem ihr innewohnenden Anspruch an den Einzelnen, mit ihr mitzumachen, das heißt aufzuhören, er selber zu sein. Auf der Straße, die ja gestaltpsychologisch, ihrer verführerischen Eindimensionalität zufolge, eine Rennbahn ist, nämlich die den Menschen in Anspruch nehmende heimliche Potenz einer solchen, ist es die Mechanik des Benzinmotors selbst, die sich in ein ebenso mechanisches Seelenbedürfnis umsetzt, um jeden Preis, auch den des Lebens, schneller als der andere zu sein. Das Überholenmüssen wird hier temporär zum Daseinshorizont, so wie das Wartenmüssen es dort wird, wo die Mechanik der Verkehrsregelung sich der Seele selbst als deren Regel aufzwingt, ohne einem Widerstand, nämlich einem Bewußtsein davon zu begegnen, daß es jenseits der Verkehrsregelung ein womöglich noch Absoluteres gibt. Die Transzendenz ist abgeschnürt, ist blockiert; und sie ist es, das ist an der Situation des Neudeutschen das so tief Paradoxe, von einem Bedürfnis nach ihr, das sich nicht nur mit jedem Surrogat nun bescheidet, sondern über der Fülle sich ihm anbietender Surrogate längst das Wahre vergessen hat, auf das es doch eigentlich aus war.