Am Ende Der Dämmerung

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10

Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

»Was haltet ihr eigentlich von der Kapelle?«, fragte Olaf.

»Also ich weiß nicht, die spielen immer nur diese Schlager«, entgegnete Charlotte. »Ein bisschen Swing könnte auch nicht schaden, oder?«

»Sie fürchten wahrscheinlich die zivilen Aufpasser«, meinte Rosa. »Seitdem die Nazis Jazz und Swing auf den Index gesetzt haben, sollen die ja immer mal wieder auf Tanzveranstaltungen auftauchen.«

Charlotte fiel sofort ihr Elternhaus ein. Auch ihr Vater, der Vorzeige-Nazi, redete ständig von entarteter Musik, wenn er Jazz meinte und von Negermusik, wenn er sich ganz präzise ausdrücken wollte. Ihr war es so peinlich.

»Ich finde es übrigens schön, dass wir beide zusammen an diesem Wochenende dienstfrei haben«, sagte Rosa, während sie Charlotte ihre Hand auf den Unterarm legte. »Das passiert ja wirklich selten.«

»Ich hatte ursprünglich gar nicht frei«, entgegnete Charlotte, »nur wegen der Umbaumaßnahmen haben sie den Plan geändert.«

»Ach ja, die Umbaumaßnahmen. Da machen sie ein richtiges Geheimnis drum. Ich habe gehört, dass die SS Räume und Betten bei uns okkupierte hat.«

»Ja, das Gerücht kenne ich auch. Angeblich als Lazarettabteilungen für Angehörige der Leibstandarte in der Kadettenanstalt.«

»Zum Glück haben wir mit denen nichts am Hut, aber wer weiß, was noch kommt. Man muss immer an das Schlimmste denken.«

Charlotte schob sich das letzte Stück ihrer Schmalzstulle in den Mund und nahm einen Schluck von ihrem Getränk.

»Komm Lotte, lass uns mal eine Runde drehen«, sagte Olaf, erhob sich und umrundete den Tisch. »Du erlaubst doch, Liebling?«

»Na, ich weiß nicht...« Rosa schmunzelte, während Olaf Charlotte sanft hochzog und mit ihr zur Tanzfläche ging. Aus dem Augenwinkel beobachtete Charlotte, wie Heinz ihr vom Nebentisch aus hinterher sah. Auch Olaf konnte gut tanzen. Nicht nur deswegen beneidete sie Rosa um ihren Freund. Charmant, humorvoll und gutaussehend. Als Elektro-Ingenieur bei der AEG im Wedding verdiente er darüber hinaus gutes Geld. Bald wollen sie heiraten und zwei Kinder kriegen und irgendwo ins Umland ziehen, wie Rosa ihr anvertraut hatte. So ähnlich stellte auch sie sich ihre Zukunft vor, nur dass sie unter keinen Umständen aufs Land ziehen würde. Sie brauchte einfach das städtische Leben, schon Steglitz war ihr viel zu ruhig. Aber irgendwann, daran glaubte sie fest, würde sie auch wieder Glück haben und jemand finden, mit dem sie in Berlin ihr Leben teilen könnte. Sie musste einfach nur Geduld haben.

»Vielen Dank für den Tanz, Olaf«, sagte Charlotte, als er sie wieder zum Tisch zurückführte. »Es hat mir viel Spaß gemacht.«

»Ganz meinerseits, Lotte.«

Sie sprachen noch eine Weile, dann wollte Rosa noch einmal tanzen.

»Man, das wird ja richtig anstrengend«, lachte Olaf. »Ich gehe nie wieder mit zwei Frauen auf ein Sommerfest.«

Dann folgte er seiner Freundin, die schon auf dem Weg zur Tanzfläche war. Charlotte blickte den beiden hinterher. Ein tolles Paar! Sie wollte sich gerade wieder ihrem Getränk zuwenden, als sie erstarrte. Am Rand der Tanzfläche standen die SA-Männer mit Biergläsern in der Hand und pöbelten die tanzenden Paare an. Sie hatten also doch Einlass bekommen. Charlottes Stimmung verschlechterte prompt. Gedanken an das, was gerade in Deutschland vorging, drängten sofort wieder in ihren Kopf. Selbst Sommerfeste wurden von diesen braunen Bastarden nicht mehr verschont. »Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang zum See, Charlotte?« Heinzs Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie schluckte, holte tief Luft. Spaziergang zum See? Sie hatte keine Ausrede parat. Warum auch? Verlegen lächelnd erhob sie sich. Eigentlich eine gute Idee, nicht nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie schlenderten nebeneinander zum Wasser hinunter. Es war stockdunkel geworden und der Himmel war mit Sternen übersät wie ein sommersprossiges Gesicht im Juli. Kaum hörbar schoben sich die schmalen Wellenstreifen schmatzend ans Ufer. Ein beleuchteter, weißer Haveldampfer verschwand soeben hinter Schwanenwerder.

»Ich möchte aber nicht so lange bleiben, sonst machen sich meine Freunde Gedanken«, bemerkte Charlotte, »Sie wissen nicht, wo ich bin.«

»Nein, ich ja auch nicht«, entgegnete Heinz. »Mein Freund wird sich auch fragen, wo ich bin, wenn er vom Tanzen zurückkommt. Er hat gerade das erste Mädel aufgefordert.«

Heinz ging zum Ufer und bückte sich. »Das Wasser ist schön warm. Wenn wir Badezeug dabeihätten, könnten wir eine Runde Schwimmen.«

»Im Dunkeln hätte ich Angst. Zum Baden bin ich meistens am Schlachtensee.«

»Da würde ich gerne einmal mitkommen.«

Sie schlenderten den schmalen Weg am Ufer entlang. Kurz darauf erreichten sie eine Baumgruppe, unter der eine Bank stand.

»Sehen Sie mal, Charlotte, ein schattiges Plätzchen.« Heinz freute sich sichtlich über seinen Scherz und steuerte auf die Bank zu. »Wollen wir uns etwas setzen?«

»Eigentlich würde ich gerne noch ein bisschen laufen.« Charlotte spürte die Hitze in sich aufsteigen.

»Ach kommen Sie, die Bank steht doch nicht umsonst da.«

Heinz nahm Charlotte an die Hand und zog sie sanft hinter sich her. Nachdem er sich gesetzt hatte, klopfte er mit der Handfläche auf den freien Platz neben sich. »Na setzen Sie sich schon, Charlotte, ich beiße nicht.« Zaghaft setzte sie sich. Heinz hob einen Stein auf, schleuderte ihn ins Wasser und schaute ihm wortlos hinterher.

»Ist es nicht romantisch hier?«, fragte er einige Sekunden später und legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Ja«, hörte sie sich mit belegter Stimme sagen. Ihr Herz begann zu rasen. Sie war nie schüchtern gewesen, hatte nicht das erste Mal den Arm eines Mannes auf ihren Schultern gespürt, aber irgendetwas blockierte sie. Im Hintergrund hörte sie die Kapelle einen Foxtrott spielen.

»Wir könnten eigentlich ‚Du‘ zueinander sagen, was meinst du, Charlotte?« Seine Finger begannen, ihre Halspartie zu kraulen. »Meinetwegen«, entgegnete sie heiser ohne ihn anzuschauen und presste ihre Hände auf die Oberschenkel. Es herrschte das blanke Chaos in ihrem Kopf. Einerseits fühlte sich zu diesem Mann hingezogen, andererseits mahnte eine innere Stimme sie zur Zurückhaltung. Und diese Stimme behielt immer noch die Oberhand.

»Was machst du beruflich, Heinz?« Charlotte hatte sich diese Frage schon seit geraumer Zeit gestellt, jetzt konnte sie damit noch etwas Distanz bewahren.

»Oh, ich arbeite in einem riesigen Projekt«, begann er mit stolzem Unterton. »So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.«

»Wirklich? Und was ist es?«

»Wir bauen auf der Insel Rügen eine gigantische Wohnanlage für KDF-Urlauber. 10000 Zimmer, Schwimmbäder, Kino, Festhalle. Alles was ein entspannter Urlaub benötigt. Sogar Anlegestellen für Ausflugsdampfer sind vorgesehen. Die gesamte Anlage besteht aus acht Gebäudeblöcken, keine 150 Meter vom Strand entfernt, insgesamt viereinhalb Kilometer lang und für bis zu 8000 Familien. Eine Idee des Führers persönlich.«

Heinzs Augen leuchteten stolz, während Charlotte irritiert über seinen letzten Satz nachdachte.

»Und was machst du bei diesem Projekt?«

»Bauleiter für den dritten Block. 500 Meter lang, sechs Stockwerke hoch. Ich bin dort für die Siemens-Bauunion beschäftigt. Realisiert wird das Ganze übrigens von der Deutschen Arbeitsfront.«

»Und über das Wochenende bist du nach Berlin gekommen?«

»Na ja«, Heinz räusperte sich, »ich wohne schon noch in Berlin und bin im Augenblick dreimal die Woche vor Ort. Den Rest erledige ich von Berlin aus. Demnächst beziehe ich allerdings ein Zimmer in Binz und werde dort von Montag bis Freitag wohnen. Bekomme einen kleinen Zuschuss und der Verdienst ist sowieso grandios. Also ich sage dir, für einen Bauingenieur gibt es kaum eine reizvollere Aufgabe.«

Charlotte nickte, ohne seine Euphorie zu teilen. Ein Nazi-Projekt, von dem er schwärmte! Wahrscheinlich gehörte es in die Reihe dieser größenwahnsinnigen Einfälle Hitlers, die im April in allen Zeitungen des Reiches angekündigt wurden. Der Umbau der Hauptstadt zur Metropole der Zukunft! Und dieser Mann neben ihr war dabei. Sein glühender Enthusiasmus irritierte sie zutiefst. Alles was er sagte ließ nur den einen Schluss zu, dass er diesem menschenverachtenden System äußerst aufgeschlossen gegenüberstand. Charlotte erhob sich und ging ein paar Schritte zum Ufer des Sees. Musik, vermischt mit ausgelassenem Gekicher, drang vom Clubgelände herüber, das Fest schien auf seinen Höhepunkt zuzusteuern. Sie fragte sich, ob Olaf und Rosa sich tatsächlich über ihren Verbleib Gedanken machten. Vielleicht sollte sie wieder zurückkehren. Plötzlich vernahm sie das Knacken von Ästen. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie seine rechte Hand auf ihrer Taille. Gleichzeitig begann er mit den Fingern der linken Hand ihren Nacken zu massieren. Ein warmer Schauer lief ihren Rücken hinunter. Sie wollte sich lösen, verharrte aus unerfindlichem Grund jedoch. Sie spürte seinen heißen Atem im Nacken. Seine Lippen. Sie wandte ihm den Kopf zu und erkannte schemenhaft die Konturen seines Gesichtes. Sein Mund näherte sich jetzt ihren Lippen. Sie roch die Bierfahne, gleichzeitig sein schweres Parfüm. Warum wehrte sie sich nicht? Er küsste sie. Zurückhalten zunächst, dann immer fordernder. Sie ließ es geschehen, blieb jedoch passiv. Lange hatte sie kein Mann mehr geküsste. Jetzt fühlte sie, wie sehr es ihr gefehlt hatte. Aber dieser Mann war der Falsche, das wusste sie seit ein paar Minuten. Kein Mann für die Zukunft, nicht einmal für eine kurze Affäre! Oder vielleicht doch? Seine Hände begann ihren Körper zu ertasten, jeden einzelnen Wirbel ihres Rückens, ihre Taille, die Schultern. Sie ließ es geschehen. Seine linke Hand schob sich behutsam in den Ausschnitt ihres blauen Sommerkleides. Im selben Moment spürte sie seine Erektion. Nein, schoss es ihr durch den Kopf, nicht das! Reflexartig ergriff sie sein Handgelenk, um das weitere Vordringen seiner Hand zu stoppen.

 

»Ich möchte das noch nicht. Ich hoffe, du verstehst das. Wir kennen uns doch erst ein paar Stunden.«

»Aber Charlotte, hab dich doch nicht so. Ich habe mich in dich verliebt. Was ist denn schon dabei?«

Heinz machte keine Anstalt, seine Hand zurückzuziehen. Im Gegenteil, sein Zeigefinger glitt über den Ansatz ihrer linken Brust. Vom anfänglichen Kribbeln in ihren Bauch war nichts mehr zu spüren. Ihre Gefühle waren urplötzlich abgestorben.

»Ich möchte es wirklich nicht«, entschied sie mit festem Ton und versuchte, seine Hand zu entfernen. Ohne auf sie einzugehen, drang er weiter in die Schale ihres BHs ein und legte die Hand über ihre Brust. Der warme, elektrisierende Schauer, der noch vor wenigen Minuten jede Ecke ihres Körpers erreicht hatte, war einem eiskalten Wasserstrahl gewichen, der das Blut in ihren Adern erstarren ließ.

»Lass mich sofort los«, rief sie barsch und versuchte, sich mit allen Kräften aus seiner Umklammerung zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte Übelkeit und war kurz davor, sich zu übergeben. Als Heinz ihr Kleid mit einem Ruck aufriss, sodass die beiden ersten Knöpfe am Ausschnitt abgetrennt wurden, erschrak sie heftig. Reflexartig versuchte sie, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. Mit einer heftigen Körperbewegung gelang es hier, sich aus seiner Umklammerung zu lösen und wollte losrennen, stolperte jedoch über eine Baumwurzel und fiel zu Boden. Heinz warf sich sofort über sie. Sie spürte einen starken Schmerz an der Schulter, wollte schreien, aber er presste ihr seine Hand auf den Mund, sodass nur ein Gurgeln herauskam.

»Warum machst du solche Umstände, Charlotte?«, fragte er mit vor Hohn triefender Stimme, während er ihr mit Gewalt den BH herunterriss. Sie erstarrte vor Angst, war plötzlich wie gelähmt. Seine schweißnasse Hand hatte er auf ihren Mund gepresst. Hilflos, mit aufgerissenen Augen, musste sie mit ansehen, wie sich sein Kopf auf ihren Körper herabsenkte. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrer rechten Brustwarze. Ein Blitz durchzuckte ihren Körper, sämtliche Muskeln spannten sich an. Ihr gelang es, den linken Arm zu befreien und ihre Fingernägel in seine Ohrmuschel zu krallen. Als sie mit aller Gewalt an seiner Ohrmuschel zog, schrie er vor Schmerzen auf und ließ von ihr ab. Im selben Moment konnte sie auch die rechte Hand befreien und auf seine Kehle drücken. Röchelnd rollte er von ihr herunter. Sie schwang sich hastig auf die Beine, dann trat sie ihm mit aller Wucht in die Genitalien. Er schrie ein weiteres Mal auf.

»Du widerliches Schwein!«, brüllte sie ihn an und spuckte auf ihn herab. Dann lief sie, von Panik getrieben, zurück zu den Tischen.

»Lotte, was ist passiert, wo warst du?« Rosa sprang entsetzt auf, als sie ihre Freundin erblickte. »Dein Kleid ist ja vollkommen zerrissen und schmutzig.« »Ich will hier weg«, rief Charlotte unter Tränen, während sie mit beiden Händen versuchte, ihre Kleiderfetzen zusammenzuhalten. »Ich will hier weg! So schnell wie möglich.«

Rosa hatte ihre Freundin in beide Arme genommen, um sie zu beruhigen. Auch Olaf war aufgesprungen. Viele Gäste blickten entsetzt zu ihnen hinüber, auch der einzelne junge Mann am Nebentisch.

Beruhige dich doch, Lotte.« Rosa streichelte ihr über das Haar. »Was ist passiert? Sag es mir.« »Er hat versucht, mich zu...« Charlotte wurde von einem Weinkrampf erschüttert.

»...zu vergewaltigen?« Rosa streichelte ihren Nacken. Charlotte nickte stumm.

»Wer war es?«, fragte Olaf in ruhigem Ton, als sie wieder zur Ruhe gekommen war. »Der Blonde vom Nachbartisch?«

Charlotte nickte schluchzend.

»Ich schnappe mir den Kerl. Wo ist er?«

»Am Ufer«, stammelte Charlotte. Olaf drehte sich um und rannte zum See hinunter, verfolgt von den neugierigen Blicken vieler Gäste. Heinz hockte direkt am Ufer, um seine eingerissene Ohrmuschel mit Wasser zu kühlen. Blut lief ihm am Hals hinunter und verschwand in seinem Hemdkragen. Als er Olaf hinter sich bemerkte, versuchte er, sich aus der Hocke zu erheben und sich umzudrehen. Noch in seiner Bewegung trat Olaf an ihn heran und schlug ihm die linke Faust ins Gesicht. Mit aufgerissenen Augen und einem Gurgeln auf den Lippen sackte Heinz in den schlammigen Boden. Olaf warf ihm einen verächtlichen Blick zu, wendete sich wortlos ab und ging zurück. »Was hast du gemacht, Olaf?«, fragte Rosa mit besorgter Miene.

»Ich habe diesem Mistkerl eins in die Fresse gehauen. Er liegt gerade im Wannsee und kühlt seine Birne.«

Olaf wandte sich Charlotte zu, die geistesabwesend vor einer Limonade saß. »Wie geht es dir, Lotte? Ich schlage vor, wir bestellen eine Droschke und fahren nach Hause.«

Charlotte nickte geistesabwesend.

11

Sonntag, 12. Dezember 1943

Paris, 20. Arrondissement,

Avenue Gambetta

Mittags

Florence war erst spät zurückgekehrt. Sie hatten daraufhin kurzfristig beschlossen, den Kartoffelauflauf am nächsten Tag zuzubereiten. Nach dem späten Frühstück hatten sie sich ans Kochen gemacht. Nicht zum ersten Mal bestaunte Chantal Florences Kochkünste. Obwohl es kaum Zutaten zu kaufen gab, hatte sie einen schmackhaften Auflauf auf den Tisch gezaubert. Während des Essens diskutierten sie über die aktuelle politische Situation in Frankreich, die sich gerade im Umbruch zu befinden schien. Der Plan einer Invasion der Alliierten war seit einer Woche das alles beherrschende Gesprächsthema hinter den Fenstern tausender französischer Wohnungen. Selbst im öffentlichen Leben waren die Veränderungen zu spüren. Die deutschen Besatzer waren nicht mehr annähernd so zuvorkommend und höflich, wie in den ersten beiden Jahren nach dem Einmarsch. Wahrscheinlich realisierten auch sie, dass sich auf alliierter Seite bald wieder etwas tun würde.

»Dein Auflauf hat wunderbar geschmeckt, Florence«, lobte Chantal, während sie sich vorsichtig mit der Serviette den Mund abtupfte. »Ich platze gleich. Nächste Woche werde ich nichts mehr essen können.«

»Oh danke, meine Liebe. Das freut mich.«

»Ich bin wirklich gespannt, was Maurice und die anderen zu den Dokumenten sagen«, sagte Chantal während sie das Geschirr abräumte, um es in die Küche zu tragen.

»Ich denke, sie werden ebenso angetan sein wie ich gestern Abend. Wenn wir diese Dokumente den Alliierten übergeben könnten, wäre das aus meiner Sicht ein Riesending. Vor allem würde es auch zeigen, wie wichtig die Beiträge der Résistance in dieser Zeit sind. Die Sabotageakte, wie der vor zwei Tagen auf den Militärzug bei Rouen, vor allem aber auch die Kleinarbeit im Untergrund, das funktionierende Netzwerk, die Kurierfahrten, von denen auch du ja schon einige hinter dir hast, die Herstellung von Handzetteln, ich brauch das nicht alles aufzählen. Darauf bin ich richtig stolz, weißt du das.«

Chantal nickte zustimmend, dann ging sie mit dem Geschirr in die Küche. Florence stand auf und folgte ihr mit den Gläsern.

»Vor allem bin ich auch stolz auf dich, Schätzchen.«

Chantal ließ wortlos Wasser in das Spülbecken.

»Du sagst gar nichts, meine Liebe.« Florence und trat hinter ihre junge Freundin. »Worüber denkst du nach?«

Sie begann mit beiden Händen Nacken sanft zu massieren. Chantal schloss die Augen und ließ den Kopf kreisen.

»Du hast goldene Hände, Florence, ich könnte dahinschmelzen. Das kannst du genauso gut wie Kochen.«

»Worüber denkst du nach?« wiederholte Florence ihre Frage. »Komm, sag es mir.«

Chantal zögerte, bevor sie antwortete. »Über mich und meine Rolle.«

»Was meinst du damit?«

»Eigentlich ist es doch absurd, Florence. Ich arbeite hier in Frankreich gegen meine Landsleute, gegen die unerträglichen politischen Verhältnisse, derentwegen ich Deutschland verlassen habe.«

»Du glaubst, du hättest das schon in Deutschland machen sollen?«

»Nein, in Deutschland gab es zu meiner Zeit keine Chance auf einen organisierten Widerstand, von ein paar kleinen Ansätzen abgesehen. Das Volk war berauscht von den außenpolitischen Erfolgen Hitlers und dem wirtschaftlichen Aufschwung. Kaum jemand fragte sich, wohin das führen würde, außer Sozialdemokraten oder Kommunisten, aber die zerfleischten sich obendrein noch gegenseitig oder wurden von den braunen Bastarden aus dem Spiel genommen, indem man sie in Konzentrationslager steckte.« »Was bewegt dich dann, Chantal?«

Florence nahm sich ein Handtuch um das Geschirr abzutrocknen. Chantal drehte sich um, einen nassen Teller in der Hand.

»Ich habe mich lange Zeit gefragt, ob es richtig ist, gegen die eigenen Landsleute zu arbeiten. Es sind ja nicht nur SS-Schergen und Gestapo-Beamte, sondern auch einfache Wehrmachtsangehörige. Viele von ihnen sind gezwungenermaßen hier oder an der Ostfront.«

Chantal schwiege einige Sekunden lang und fuhr dann fort. »Als wir beide uns kennenlernten, Florence, damals auf dem Sommerfest, du erinnerst dich, hätte ich es wahrscheinlich noch nicht gekonnt, obwohl der Einmarsch in Paris für mich ein ebenso großer Schock war, wie für euch Franzosen.« »Und jetzt, Chantal, kannst du jetzt gegen sie arbeiten?«

»Ja, jetzt kann ich es. Jetzt muss ich es! Du weißt es, Florence. Es war auch nicht erst der Tod von Daniel, der meinen inneren Widerstand gebrochen hat. Ich hatte schon für Daniel ein wenig gearbeitet und führe seinen Kampf jetzt umso entschlossener fort.« Chantal widmete sich wieder dem Abwasch. »Ich habe mich lange geschämt, eine Deutsche zu sein. Was hat unser Land an Kulturschaffenden und Wissenschaftlern hervorgebracht. Goethe, Einstein, Marx, Beethoven. Ein ehemals kultiviertes Land, das jetzt schon zehn Jahre lang von menschenverachtenden Gangstern regiert wird, die sich ganz Europa einverleiben wollen. Ich kann das nicht ertragen, Florence. Unmöglich! Seit dem Einmarsch habe ich damit begonnen, meine deutsche Identität abzustreifen und loszuwerden. Das war nicht einfach und wird wahrscheinlich auch kaum komplett möglich sein. Es hat bis jetzt gedauert, aber ich fühle mich derzeit kaum noch als Deutsche. Die Deutschen sind auch für mich nur noch die Boches.«

Florence legte Chantal ihre Hand auf die Schulter. »Du hast in vielen Dingen recht, aber denke auch an die unzähligen Kollaborateure und Profiteure hier in Frankreich, die das grausame Spiel der Boches mitspielen und deren grausame Herrschaft erst ermöglichen. Ohne die würde das alles gar nicht funktionieren. Und es sind nicht nur Petain und Laval. Mindestens jeder dritte Nachbar von uns kollaboriert mit den Boches. Oder sieh dir die Milice Francaise, die seit dem Sommer in der ehemaligen Vichy-Zone ihr Unwesen treibt und um ein Vielfaches brutaler agiert als die SS. Das sind Franzosen...nein, Chantal, auch wir haben einen großen Anteil an diesen Verhältnissen in unserem Land und ich fürchte, wenn die Deutschen abgezogen sind stehen uns noch schwierige Zeiten bevor. Dann wird nämlich abgerechnet.« Chantal nickte und trocknete sich die Hände ab. Zusammen gingen sie zurück in das Wohnzimmer.

»Ich habe deine Verhaltensänderungen bemerkt, Chantal«, sagte Florence, nachdem sie sich neben Chantal auf die Couch gesetzt hatte.

»Wirklich?«

Florence nickte. Sie rückte ganz nahe an Chantal heran, umfasste sanft ihren Kopf und zog ihn vorsichtig zu sich heran. Dann strich sie Chantal mit dem Daumen eine Träne von der Wange und küsste sie auf die Stirn.

»Weißt du, Chantal«, begann sie, nachdem sie einige Sekunden in Ruhe verharrt hatten, »in unserem Widerstand geht es nicht nur um einen Beitrag zur Befreiung Frankreichs. In erster Linie schon, aber es geht vor allem auch um ein Zeichen an Europa und die Welt. Die Botschaft, dass sich ein ganzes Volk niemals solchen Verbrechern unterwirft. Ich bin übrigens ganz zuversichtlich, dass der Krieg bald zu Ende ist.«

Es klingelte zweimal kurz an der Wohnungstür.

»Das ist sie«, sagte Florence und erhob sich und ging in den Flur. Die junge Kurierin von Maurice Durand trat ein und begrüßte die beiden Frauen knapp ohne ihren Namen zu sagen. Sie berichtete kurz, dass Durand zusammen mit zwei Experten des Special Operations Excecutive aus England Stadings Material geprüft hatte und sie ebenso wie Florence zu der Einschätzung gekommen waren, dass die Dokumente des Deutschen für die geplanten Landungsoperationen von enormer Bedeutung sein würden. Die Kurierin erläuterte darauf hin kurz den Plan des SOE, nach dem Stading zusammen mit einer Begleitung England nach ausgeflogen werden soll und dass sie dabei sind, alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

 

»Eines ist jetzt wichtig«, betonte die Kurierin und schaute die beiden Frauen abwechselnd an. »Die Dèfence de la France benötigt Passfotos von beiden Personen. Maurice sagte, wir sollten vorsichtshalber einen Termin mit dem Fotografen machen. Um sieben in der Wohnung im 2. Arrondissement. Darüber hinaus will Maurice definitiv wissen, ob es bei der Begleitperson bleibt.«

»Der Dèfencede la France ist die Abteilung, die die notwendigen Papiere herstellt«, erklärte sie Chantal und wandte sich wieder an die Kurierin. »Sag bitte Maurice, dass wir auch das finale Treffen in der konspirativen Wohnung ansetzen sollten.«

Die Kurierin nickte, verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Florence bat Chantal, nochmals neben ihr Platz zunehmen.

»Ich habe mit Maurice über dich gesprochen, Chantal«, begann sie und legte eine Hand auf Chantals Oberschenkel.

»Über mich? Worüber denn?«

»Über das, was die Kurierin soeben angeschnitten hatte. Normalerweise sollte der Deutsche von einer erfahrenen Person aus der Gruppe begleitet werden. So haben wir das immer gemacht. Da Stading jedoch dir gegenüber mehrmals geäußert hat, dass ausschließlich du seine Begleitperson sein sollst«, Florence räusperte sich, »würden wir, die Liberation Nord, dem natürlich entsprechen. Aber auch nur, wenn du dir das wirklich zutraust.« Florence musterte Chantal.

»Das Ziel liegt nicht allzu weit von Paris entfernt«, fuhr sie fort. »In drei Tagen wärst du wieder zurück. Ich bin mir absolut sicher, dass du in der Lage bist, diese Aufgabe zu bewältigen. Es liegt, wie gesagt, an dir.« Chantal nickte. Sie konnte ihre Aufregung kaum verbergen.

»Wenn du dazu bereit bist, wirst du allerdings eine große Verantwortung haben, Chantal. Der Deutsche wird aus Gründen der Konspiration keinerlei Informationen über das Ziel und den weiteren Ablauf bekommen und ausschließlich auf dich angewiesen sein. Wir müssen bis zum Ende noch mit dem Restrisiko leben, dass er ein Spitzel sein könnte. Es sind zu viele Aktivisten aus unseren Reihen in letzter Zeit festgenommen oder sogar umgedreht worden. Und...du musst dich jetzt entscheiden, ob du es nicht machen willst.«

Florence machte eine Pause.

»Nochmals, du hättest mein volles Verständnis, wenn du es ablehnst. In diesem Fall müsste der Deutsche eine andere Begleitperson akzeptieren oder die Sache platzt.«

Florence sah Chantal tief in die Augen.

»Ich nehme den Auftrag an«, hörte Chantal sich sagen und erschrak über ihre geschäftsmäßige Wortwahl. »Genau deswegen bin ich doch hier.«

»Du musst dir aber absolut sicher sein«, entgegnete Florence. Sie behielt Chantal weiterhin fest im Blick. »Wenn du auch nur die geringsten Zweifel hast, dann must du es ablehnen. Nicht nur deinetwegen!«

Chantal hielt ihrem Blick stand. »Du weist genau, dass ich es will und auch tun muss, Florence. Nicht nur für Daniel!« Sie unterbrach sich kurz und senkte den Kopf. »Auch für mich und wenn das jetzt alles sehr pathetisch klingt, letztendlich auch für Frankreich!«

Florence nahm Chantal in die Arme. Wortlos verharrten die beiden Frauen, dann löste sich Florence.

»Ich wusste, dass ich auf dich zählen konnte und es freut mich sehr.« Florence gab Chantal einen sanften Kuss auf die Wange.

Paris, 16. Arrondissement,

Quai Louis-Blériot

Am Abend

SS-Standartenführer Schrader setzte den Saphir des Grammofons vorsichtig auf der Schallplatte auf. Sekunden später ertönte die Stimme von Zahra Leander. ‚Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen‘. Er nahm die Flasche Frapin aus dem Regal und füllte den Cognacschwenker in seiner Hand. Mit geschlossenen Augen inhalierte er den aromatischen Duft des Alkohols. Dann ging er, das Glas mit dem kostbaren Getränk vorsichtig in seiner linken Hand kreisend, zum großen Fenster mit Blick auf den Quai und die Seine. Der wolkige Himmel über Paris hatte sich komplett schwarz eingefärbt, es hatte aufgehört zu schneien. Schrader nahm einen Schluck und ließ die sanft brennende Flüssigkeit auf der Zunge wirken. Nachdenklich verfolgte er die Lichter eines Lastkahns, der sich die Seine hinauf quälte und im nächsten Moment unter der Pont Mirabeau verschwand. Der Verkehr auf dem Quai hatte jetzt am Abend etwas nachgelassen und war kaum noch zu hören. Überhaupt war es viel ruhiger in der Stadt, als noch vor einem Jahr. Angenehm ruhig. Oder eher beängstigend? Die Nachrichten aus dem Osten jedenfalls wurden von Tag zu Tag unangenehmer. Er konnte die Berichte von der Ostfront schon gar nicht mehr hören. Eine riesige Scheiße, die sich dort abspielt, dachte er und spürte wieder diese mit Zorn vermischte Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Die Russen scheinen nach dem Fall von Charkow das Heft vollends in die Hand genommen zu haben. Haben wir dem denn nichts mehr entgegenzusetzen? Das kann doch nicht sein. Seit Wochen schon werden doch Truppenteile aus Frankreich an die Ostfront verlegt. Da stimmt doch was nicht.

Schrader blickte gedankenvoll auf das Glas, als könne er hier Antworten auf seine unzähligen Fragen finden. Im Osten wehte schon lange ein anderer Wind, im wahrsten Sinne des Wortes, das wusste er aus verschiedenen Berichten, die im Hauptquartier ihre Runde machten. Natürlich hinter vorgehaltener Hand. Seit Stalingrad scheint es dort nur noch ums nackte Überleben zu gehen! Endkampf nennen sie das! Diese armen Schweine. Verrecken gerade in Schneebergen und Schlamm oder verlieren bei der grausamen Kälte ihre Gliedmaßen. Er atmete tief ein. Es ist ein Scheißjob, dort an der Ostfront. Die reinste Hölle! Und es sieht so aus, als wenn es nicht besser werden würde.

Schrader nippte an seinem Cognac. Noch kommt man hier im Westen einigermaßen über die Runden, aber wie lange noch? Auch hier wird sich bald der Wind drehen. Die ersten Anzeichen sind ja schon deutlich erkennbar. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Es war noch nicht lange her, da lebte er sprichwörtlich wie Gott in Frankreich. Das ist vorbei, endgültig! Die Versorgungslage wird auch hier immer katastrophaler. Langsam geht alles den Bach runter. Dazu der zunehmende Widerstand in der französischen Bevölkerung. Unglaublich, was für einen Zulauf die Résistance gerade erfährt. Und die Wehrmacht wirkt zusehend hilfloser im Angesicht der alliierten Bombenangriffe.

Schrader schloss für einen kurzen Moment die Augen und sog noch einmal den Alkohol durch die Nase ein. Selbst der Cognac schmeckte nicht mehr so wie früher. Ein ganz schlechtes Zeichen! Aber er hatte es kommen sehen und ständig verdrängt. Ging ja immer gut. Doch jetzt rächt sich die Strategie dieser Möchtegern-Feldherren Jodl und Keitel. Diese Hampelmänner! Die Westfront war ein riesiger Fehler! Okay, er schnaufte verächtlich durch die Nase, ohne diese Westfront wäre er nicht hier in Paris. Aber egal, die entscheidende Frage ist doch, wie es weitergeht. Wie lange wird das Leben hier noch ertragbar sein? Wenn sich nicht bald etwas Entscheidendes tut, wenn es nicht gelingt, der unweigerlichen Landung der Alliierten in Frankreich etwas Angemessenes entgegenzusetzen, dann ist alles ganz schnell vorbei. Die Amerikaner und Engländer sollen schon mit den ersten Vorbereitungen für ihren Einsatz begonnen haben, das war jedenfalls auf der letzten Sicherheitsbesprechung durchgesickert. Innerhalb der nächsten sechs Monate musste man mit ihnen rechnen. Und aus dem Desaster von Dieppe im Sommer vor einem Jahr, dieser schlampig geplanten Landung, werden sie ihre Lehren gezogen haben. Die nächste Landung wird eine andere Nummer werden, das ist schon mal sicher!

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