Am Ende Der Dämmerung

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Chantal dachte kurz über den Zeitrahmen nach, dann nickte sie.

»Sollte irgendetwas dazwischenkommen und ich nichts von dir hören, dann treffen wir uns morgen Vormittag auf dem oberirdischen Bahnsteig der Metro-Station Bastille. Dort haben wir uns schon einmal getroffen, wenn du dich erinnerst.«

Chantal nickte. Florence strich ihr mit dem Daumen ein paar Schneeflocken von der Wange und lächelte sanft. »Komm, dann lass uns gehen, es wird immer ungemütlicher. Ich begleite dich zur Station.«

Arm in Arm schlenderten die beiden Frauen in Richtung Friedhofskapelle und von dort zum Ausgang Porte du Repos. An der Metro-Station Philippe-Auguste verabschiedeten sie sich knapp. Während Florence ihren Weg zu Fuß auf den Boulevard de Charonne in südliche Richtung fortsetzte, stieg Chantal die Stufen zu Metro hinunter.

6

Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

»Na Fräulein, wie sieht es aus? Wollen wir noch einmal? Das hat doch gut geklappt mit uns beiden.«

Charlotte nickte und hoffte, dass er ihre Aufregung nicht bemerkte. Er schien Interesse an ihr zu haben, aber sie spürte auch die Anziehung, die er auf sie ausübte. War da wirklich was? Sie tanzten zu zwei Stücken, dann bat die Kapelle zur Pause.

»Darf ich Ihnen ein Getränk spendieren, Fräulein?«, fragte der junge Mann. »Dort im Clubhaus gibt es eine Bar. Und, nicht zu vergessen, das Buffet!« »Ja gerne, ich wollte mir sowieso etwas zu essen holen.«

»Na, das trifft sich ja gut«, lachte er, dann gingen sie zusammen zum Clubhaus. An der Bar bestellte er ihr ein Glas Weißwein und sich selbst ein Bier.

»Zum Wohl, mein Fräulein.« Er hob sein Glas und nickte ihr zu.

»Zum Wohl«, antwortete sie. Das Kribbeln in ihrer Bauchgegend verstärkte sich. Sie fühlte sich beschwingt. War sie gerade dabei, sich zu verlieben? »Haben Sie etwas dagegen, mir Ihren Namen zu verraten?«, fragte der junge Mann.

»Ich heiße Charlotte.«

»Oh, ein wirklich schöner Name. Ich werde von meinen Freunden Heinz genannt.«

»Sehr angenehm.«

Sie plauderten über Namen und andere belanglose Dinge. Charlotte spürte die Aura, die Heinz umgab. Wie akzentuiert er redete. Sie musste sich eingestehen, dass er sie faszinierte.

»So, jetzt muss ich aber mal zum Buffet«, entschied sie und stellte ihr Glas ab. Sie durfte jetzt nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. »Selbstverständlich Charlotte, ich habe auch wieder Hunger bekommen«, entgegnete Heinz grinsend. »Dabei war ich vor einer Stunde schon einmal hier.«

Olaf hatte recht gehabt, das Buffet war üppig und sah lecker aus. Bouletten und Würste, Bratkartoffeln, Kartoffelsalat, Eier im Glas, Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl, Schmalzstullen und Spreewaldgurken. Sie hatte selten zuvor eine solche Auswahl von Speisen gesehen und konnte sich nicht entscheiden. Als Charlotte und Heinz mit ihren Tellern auf dem Weg zurück zu den Tischen waren, drangen aufgeregte Stimmen vom Eingang des Geländes herüber. Charlotte erkannte vier junge Männer in braunen SA-Uniformen und schwarzen Schaftstiefeln, die lauthals Einlass begehrten und aufgeregt gestikulierten, aber von dem Jungen mit der Melone offensichtlich daran gehindert wurden.

Diese primitiven Schläger, dachte sie angewidert. Ihren Status als staatlich anerkannte Hilfspolizisten, den sie seit geraumer Zeit hatten, nutzen sie weidlich aus und tauchten überall dort auf, wo sie den dicken Mann markieren konnten. Mit Schaudern erinnerte sie sich an das Sturmlokal in der Rothenburgstraße, das auf ihrem Weg zum S-Bahnhof Steglitz lag. Schon am Nachmittag hockte die angetrunkene Horde in dieser finsteren Spelunke, aus der bier- und korndurchsetzte Luft auf die Straße drang, spielten Skat und warteten auf ihren nächsten »Einsatz« gegen die Roten. Nachdem sie einmal von zwei Braunhemden angepöbelt worden war, führte ihr Fußweg zum S-Bahnhof nur noch die Schlossstraße entlang.

»Hoffentlich lassen sie diese widerlichen Burschen nicht auf das Gelände«, grollte Charlotte und drängte Heinz, weiterzugehen.

»Ach, die haben doch nur zu viel getrunken«, beschwichtigte er, »ansonsten sind die doch harmlos.«

»Harmlos? Also ich weiß nicht, was Sie unter harmlos verstehen. Alleine wie sie sich dort benehmen ist doch skandalös.«

Als Charlotte zum Tisch zurückkehrte, empfing Rosa sie mit strahlendem Gesicht.

»Hallo Lotte, dich sieht man ja gar nicht mehr. Bahnt sich da was an?«

»Ach Rosa, du und deine neugierigen Fragen.«

»Aber mir kannst du es doch sagen, Schätzchen.« Rosa tätschelt ihre Wange.

7

Samstag, 11. Dezember 1943

Paris, 1. Arrondissement,

Jardin de Tuileries Orangerie

Am frühen Nachmittag

Sie hatten sich im Foyer neben den Kassen verabredet. Warum interessierte sich dieser Mann gerade für eine solche Ausstellung, fragte sich Chantal, während sie irritiert die Plakate betrachtete. Eine Ausstellung von Wandteppichen und Kartons zu Ehren des Vichy-Marschalls Petain. Unfassbar! Schon mit dieser Art von Kunst konnte sie überhaupt nichts anfangen und musste jetzt auch noch feststellen, dass alles dem größten Kollaborateur Frankreichs gewidmet ist. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob es nicht besser gewesen wäre, sich in einem Restaurant zu treffen.

»Schön, dass Sie gekommen sind«, hörte sie plötzlich Stadings Stimme hinter sich. Sie wirbelte herum und zuckte zusammen. Die grau-grüne Wehrmachtsuniform, in der er vor ihr stand und stolz lächelte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Das Bild des hässlichen Deutschen! Ihr war die grenzenlose Affinität ihrer männlichen Landsleute zu Uniformen bekannt. Mit der Machtübernahme der Nazis ging es richtig los. Wehrmacht, SA, SS, Reichsarbeitsdienst, HJ, BDM, dazu Polizei, Post und Bahn. Es gab in Deutschland kaum noch Männer, die keine Uniform besaßen. Nur ungern erinnerte sie sich an die glänzenden Augen ihres Vaters, wenn er seine SS-Uniform aus dem Schrank holte, meistens jedoch nur, um sie stolz zu betrachten und um ein paar Staubflocken zu entfernen.

»Sie schauen mich so zweifelnd an«, murmelte Stading verlegen, nachdem er sie knapp begrüßt hatte. »Ist es meine Uniform? Ich weiß, was in Ihnen vorgeht, aber wie sie sehen, fällt man hier weniger damit auf als in Zivil. Denken Sie einfach, sie sind jetzt die französische Geliebte eines deutschen Besatzers.« Er lachte kurz auf. Chantal nickte nachdenklich. Sie schauderte eher über sein Angebot, aber das war das Spiel, auf das sie sich eingelassen hatte. Während sie wie ein Paar durch die Ausstellungsräume schlenderten und nachdenklich vor den verschiedenen Wandteppichen stehen blieben, um darüber ein paar Worte zu wechseln, registrierte sie, dass Stading mit dieser Ausstellung ebenso wenig etwas anfangen konnte, wie sie selbst. Sie hatte sowieso keinen Blick für das, was dort gezeigt wurde und konzentrierte sich darauf, umstehenden Besucher im Auge zu behalten. Es waren tatsächlich viele Uniformierte in der Ausstellung und eine ganze Reihe von ihnen hatten tatsächlich eine junge Frau am Arm untergehakt. Natürlich Französinnen. Chantal fiel ein, dass sie noch sehr wenig über den Mann neben sich wusste und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um mehr über ihn zu erfahren, als das, was er ihr gestern anvertraute.

»Sie haben gestern nur angedeutet, was Sie hier in Frankreich machen«, begann sie, während sie auf einen hässlichen, ockerfarbenen Wandteppich starrte. »Können Sie mir mehr darüber erzählen.«

Stading räusperte sich. »Aber natürlich, ich versuche es kurz zu machen. Ich bin vor zwei Jahren zum Oberkommando der Wehrmacht nach Paris gekommen. Meine Aufgabe bestand zunächst darin, französische Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt im deutschen Reich anzuwerben. Später war ich für die Zuführung von französischen Zwangsarbeitern aus dem Service de Travail Obligatoire zur Organisation Todt verantwortlich. Ich weiß jetzt allerdings nicht, ob Sie damit etwas anfangen können?«

Chantal wusste von der bedauerlichen Lage der Zwangsarbeiter. Das war also sein Job. Er war genauso wie alle anderen in dieser menschenverachtenden Maschinerie involviert.

»Es sind französische Facharbeiter, die eigentlich auch in Deutschland zum Einsatz kommen sollten«, fügte Stading ungefragt hinzu. »Allerdings klemmt es jetzt oben an der Küste gewaltig, das hatte ich ja gestern schon erwähnt. Ohne sie hätten wir die ganze Sache schon lange beerdigen können. Und die Sabotageakte des französischen Widerstandes seit dem Sommer bereiten uns im Norden Frankreichs immer mehr Probleme. Wir schätzen übrigens, dass bis zum Jahresende mehr als fünfhunderttausend Zwangsarbeiter in den Untergrund abtauchen werden. Da bin ich mal gespannt, wie Rommel darauf reagieren wird.«

Oh, das war doch mal eine Aussage, die optimistisch stimmte! Chantal konnte ihre Genugtuung nicht zurückhalten.

»Ich hoffe nur, dass die Sabotageakte erfolgreich verlaufen.«

»Da kann ich Sie voll verstehen. Sie kennen ja meine Einstellung zu dieser Thematik. Ich würde dieses Hotel in der Avenue Klèber lieber heute als morgen verlassen.«

Er rückte näher an Chantal heran und versuchte aus den Augenwinkeln die Umgebung zu erfassen.

»Ich habe darüber hinaus noch ein anderes Problem«, fuhr er mit abgesenkter Stimme fort. »Seit Beginn meiner Tätigkeit habe ich auch für die Deutsche Abwehr gearbeitet und wir waren ein ständiger Dorn im Auge der SiPo, denn die fühlten sich für die Sicherheit und damit die Verfolgung des Widerstandes alleine zuständig. Den Machtkampf hat die Abwehr verloren und seitdem sind alle Mitarbeiter im Visier der Gestapo.«

 

Chantal war unbeeindruckt. Sie fragte sich, warum er dieses Problem ins Spiel brachte. Wahrscheinlich, um seine bedrohliche Lage hervorzuheben. Sie ging langsam weiter und blieben vor dem Karton des Bildhauers

Janniot mit dem Titel La Renaissance de la France sousl' égide des chefs d' État stehen.

»Lassen Sie uns zu dem kommen, weswegen wir hier sind«, flüsterte Stading, ohne den Blick von dem überladenen Gemälde zu wenden. Er ergriff Chantals Arm.

»Ich werde Ihnen jetzt die Dokumente übergeben.«

Obwohl sie die ganze Zeit darauf vorbereitet war, erschrak sie heftig und wagte es kaum, sich zu bewegen. Stading zog sie sanft zu sich heran. Sie standen jetzt so eng zusammen wie ein vertrautes Paar.

»Es sind neun Kopien, die ich Ihnen jetzt unauffällig in Ihre Manteltasche stecken werde«, fuhr Stading mit gedämpfter Stimme fort. »Sie dürfen sie auf keinen Fall hervorholen, bevor sie in Ihrer Wohnung sind, verstanden?« Chantal nickte zaghaft. Sie spürte, wie ihr Puls raste. Instinktiv schaute sie zur Seite, um festzustellen, ob nicht gerade in diesem Moment jemand zu ihnen hinüberschaute oder direkt hinter ihnen stand. Paris wimmelte von Denunzianten. Als sie Stadings Hand und die zusammengefalteten Papiere in ihrer Manteltasche spürte, schien sich ihr Puls zu überschlagen. Die Papiere fühlten sich wie eine Bedrohung an. Am liebsten hätte sie das Gebäude sofort verlassen und wäre schnurstracks nach Hause gefahren. Stading bemerkte ihre Aufregung.

»Bleiben Sie ganz ruhig. Niemand interessiert sich für uns. Hier sind wir Deutschen fast unter uns.«

Er begann über Malerei zu plaudern, doch sie nahm seine Worte kaum wahr und dachte nur an die explosive Fracht in ihrer Manteltasche. Nachdem sie noch einige Minuten ziellos durch Ausstellung gewandert waren und dabei weiterhin darauf bedacht waren, den Anschein hoch interessierter Besucher aufrechtzuerhalten, kehrten sie in das Foyer zurück.

»Ich hatte Ihnen ja versprochen, Sie zu einem Glas Champagner einzuladen«, sagte Stading entspannt und bedeutete ihr, ihn zum Bistro zu begleiten, wo sich viele Besucher zu einem Snack oder Getränk eingefunden hatten.

»Warten Sie hier bitte, Maidemoiselle Verhoeven. Ich bin gleich zurück.« »So, dann wollen wir mal. Zum Wohl«, raunte Stading, als er zurückgekehrt war und Chantal ein Glas entgegenhielt. »Vielleicht ist das ja mein letztes Glas Champagner in Frankreich. Einerseits hoffe ich es und würde es gleichzeitig auch bedauern.«

Er schaute sein perlendes Getränk mit einem prüfenden Blick an.

»Für uns Deutsche wird es in der nächsten Zeit vermutlich sowieso keine Anlässe mehr geben, Champagner zu trinken.«

Nachdem sie ihre Gläser geleert hatten, verließen sie die Orangerie. Vor dem Gebäude schloss Chantal kurz die Augen und atmete tief die klare Luft ein. Immer wieder dachte sie an die Dokumente in ihrer Manteltasche und hoffte inständig, dass wirklich niemand die Aktion in der Ausstellung beobachtet hatte.

»Ich würde Sie gerne noch zur Metro-Station begleiten«, unterbrach Stading ihre Gedanken.

»Ja, das ist sehr freundlich von Ihnen, darf ich?« Chantal hakte sich bei Stading unter. Sie spürte plötzlich, wie sich ihre innere Spannung auflöste. Niemand schien Verdacht geschöpft zu haben. Außerdem hatten sich ihre letzten Zweifel in Luft aufgelöst und war sich jetzt sicher, dass der Deutsche tatsächlich überlaufen wollte. Trotzdem musste sie weiterhin vorsichtig sein.

8

Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

»Mein lieber Mann«, schwärmte Heinz mit verklärtem Augenaufschlag, »die Frau ist eine Wucht, sage ich dir.«

Er konnte es sich nicht verkneifen, immer wieder zum Nebentisch hinüber zu schielen. Nicht auszudenken, wenn sie von einem anderen Mann aufgefordert werden würde. Dann müsste er einschreiten. Diese Frau hatte er sich ausgesucht und wollte sie nicht wieder hergeben. Nervös klimperte er mit den Fingern auf dem Rand seines Bierglases.

»Äußerlich auf jeden Fall«, pflichtete Bernhard ihm anerkennend bei. »Eine wahre Schönheit. Und diese Figur. Als du mit ihr zur Tanzfläche gegangen bist, hatten sich alle männlichen Augen auf ihrem Hintern vereinigt, meine selbstverständlich eingeschlossen.« Bernhard lachte.

»Und ich sage dir, beim Tanzen hat sie mich völlig verrückt gemacht. Der blumige Geruch ihrer seidenen Haare, ihr graziler Hals...« Heinz rollte mit den Augen und trank einen Schluck von seinem schalen Bier. »Und dann ihre beiden, na du weißt schon...« Er formte mit seinen Händen zwei ordentliche Wölbungen vor seinem Brustkorb. Bernhard nickte zustimmend. »Hast du schon ihren Namen?«

»Na klar. Charlotte.«

»Und sie hat tatsächlich keinen Freund?«

»Man, das habe ich sie natürlich noch nicht gefragt. Wie sieht denn das aus, hör mal? Aber ich muss zugeben, darüber habe ich mir die ganze Zeit Gedanken gemacht...was ist eigentlich mit dir, hast du auch schon etwas entdeckt?«

Bernhard schüttelte den Kopf und hob die Schultern.

»Leider nicht.«

Sie schwiegen und lauschten der Musik, dann räusperte sich Heinz.

»Schau mal, was ich hier habe.« Er holte ein rotes Büchlein aus der Tasche und legte es vor sich auf den Tisch.

»Du bist in die Partei eingetreten?«, entfuhr es Bernhard, während er seinen Freund erstaunt musterte. Heinz nickte stolz und fuhr mit dem Finger über das NSDAP-Parteibuch mit dem goldenen Adler über dem Hakenkreuz. »Mitgliedsnummer 6.181.388! Kannst mal einen Blick reinwerfen.« Bernhard blätterte interessiert vor und wieder zurück.

»Ich bin ja auch am Überlegen.«

»Man, trete ein, sage ich dir. Das kann dir irgendwann mal helfen. Wahrscheinlich nicht bei den Frauen...«, Heinz grunzte durch die Nase, ...

aber beruflich bestimmt.«

»Sag mal, Heinz, hast du vorne die SA-Typen gesehen?«

»Ja, die führen sich immer noch auf wie die Könige, dabei ist deren Zeit längst abgelaufen. Wenn du mich fragst, ich kann diese Idioten nicht ab. Die eine Hälfte schwul, die andere asozial. Ich hatte mich schon damals gefragt, welchen Narren der Führer an diesem Burschenficker Röhm gefressen hatte. Glücklicherweise hat er seine Entscheidung am Tegernsee noch rechtzeitig korrigiert.«

»Aber das ist auch schon vier Jahre her und sie sind immer noch unterwegs. Und unter den oberen Rängen soll es auch ein paar ganz gescheite Kerle geben. Sogar Promovierte!«

»Das ist doch egal. Die spielen jedenfalls keine besondere Rolle mehr im Reich. Ich gebe denen noch ein Jahr, dann sind sie weg vom Fenster.«

Der Kellner kam und stellte die beiden Schnäpse auf den Tisch.

»Und ich dachte schon, Sie haben die Bestellung fürs nächste Jahr aufgenommen«, feixte Heinz ihm entgegen. Der Kellner nickte beleidigt und verschwand.

»Duck dich, liebe Leber«, rief Heinz und hob sein Glas. »Ich komme!« Bernhard lachte und hob ebenfalls sein Glas.

9

Samstag, 11. Dezember 1943

Paris, 1. Arrondissement,

Rue de Rivoli

Am Nachmittag

»Bleiben Sie noch eine Sekunde sitzen, Brandhuber«, befahl SS-Standartenführer Karl-Heinrich Schrader, nachdem der Fahrer den schwarzen Citroen am Straßenrand angehalten hatte und Brandhuber gerade wie gewohnt herausspringen wollte, um seinem Chef geflissentlich die Fondtür aufzureißen. Stattdessen verharrte der bullige Hauptsturmführer in seiner Bewegung, drehte sich zu seinem Vorgesetzten um und sah ihn fragend an.

»Schauen Sie einmal aus dem Fenster, Brandhuber.«

Brandhuber starrte durch die verdunkelte Seitenscheibe auf die Straße. »Sie kennen den Herrn dort in der Wehrmachtsuniform doch auch, oder?«, fragte Schrader.

»Den mit der Französin im Arm?«

Brandhuber überlegte kurz, dann schien er sich zu erinnern.

»Natürlich, das ist doch dieser Oberst von der Abwehr, der einige Zeit lang ständig bei uns aufkreuzte und uns auf die Nerven ging. War mit seiner Geliebten wahrscheinlich auch in der Ausstellung. Warum fragen Sie, Herr Standartenführer?«

»Der Bursche interessiert mich«, murmelte Schrader, ohne den Blick von dem zwangslos miteinander plaudernden Paar auf der Straße abzuwenden. »Seit wir der Canaris-Truppe den Hahn zugedreht haben, spielen die ihr eigenes Spiel und ich habe schon seit geraumer Zeit den Verdacht, dass die jetzt gegen uns arbeiten. Und der dort auch!«

»Der? Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Brandhuber.

»Ich frage mich einfach, warum der sich plötzlich nicht mehr bei uns blicken lässt.«

»Sie haben ihn wahrscheinlich abgezogen, aber wir können ihn doch mal fragen.« Brandhuber machte Anstalten, den Wagen zu verlassen.

»Bleiben Sie wo sie sind, Brandhuber«, befahl Schrader, »der wird Ihnen sonst was erzählen. Denken Sie lieber mal über den Namen dieses Herrn nach.«

»Ich bin schon dabei, Herr Standartenführer. Auf jeden Fall hat der sich eine hübsche Französin geangelt. Die würde ich auch nicht von der Bettkante schieben.«

Ein mitleidiges Lächeln huschte über das feingeschnittene Gesicht des SS-Standartenführers. Diese Frau ist doch gar nicht deine Kragenweite, lieber Brandhuber, dachte er süffisant. Die ist mindestens zwei Nummern zu groß für dich.

»Ich habe seinen Namen des Herrn«, triumphierte Brandhuber plötzlich und drehte sich mit funkelnden Augen zu seinem Chef um. »Das ist Oberst Stading!«

»Richtig, Brandhuber«, murmelte Schrader anerkennend, »Oberst Stading. Wenn ich Sie nicht hätte. Hören Sie, ich werde am Montag etwas später im Büro sein. Bis um zwölf Uhr will ich alle Informationen über diesen Mann auf dem Schreibtisch haben. Wirklich alles, was aufzutreiben ist. Derzeitige Anstellung, Aufgaben, Kontakte, na ja, Sie wissen schon. Alles! Wohnt der noch im Hotel? Egal, Sie werden es rausfinden. Und Brandhuber«, Schrader machte eine rhetorische Pause, »ich möchte auch alles über diese Frau wissen, verstanden?«

»Aber selbstverständlich, Herr Standartenführer«, entgegnete der Hauptsturmführer mit einem Lächeln. »Sie haben auf jeden Fall Geschmack.«

Paris, 20. Arrondissement,

Avenue Gambetta

Am frühen Abend

Florence schaute von den Dokumenten auf, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Ihr Blick wanderte zu Chantal, die neben ihr saß und, die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel gestützt, eine Tasse Tee mit beiden Händen hielt.

»Ich bin sprachlos«, begann Florence und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Diese Dokumente sind unglaublich, das kann selbst ich schon nach einem flüchtigen Blick beurteilen. Und das sind nur ein paar Auszüge. Ich will nicht zu viel sagen, aber sie könnten tatsächlich von enormer Bedeutung sein, zumindest hier an der Westfront. Dieser Mann scheint Zugang zu vielen wichtigen Informationen zu haben, die die Alliierten benötigen. Wen hast du da bloß aufgegabelt, Schätzchen?«

Florence strich schmunzelnd mit dem Zeigefinger über Chantals Wange. »Eine Sache will mir trotzdem nicht aus dem Kopf gehen«, fuhr Florence fort. »Du glaubst es ja nicht, aber was ist, wenn er doch ein Agent der deutschen Abwehr ist? Wenn das alles Spielmaterial ist? Es hört sich fast zu schön an.«

»Ich gebe es ja zu, Florence, ohne Kenntnisse von dem Material zu haben, mir will das auch nicht ganz aus dem Kopf gehen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich darüber denken soll.«

»Dieses Material macht mir fast schon ein wenig Angst, weißt du. Es ist fast zu gut um wahr zu sein. Was ist, wenn er uns damit locken oder dich umdrehen will? Hast du wirklich nichts bemerkt, was darauf hinweisen könnte?«

 

»Nein Florence, er hat überhaupt keine Fragen gestellt. Wir haben nur ganz allgemein geplaudert. Mein Eindruck von heute Morgen hat sich nicht verändert, eher verfestigt.«

»Ist das, was er über sich erzählt hat, schlüssig? Gib es irgendwelche Widersprüche? Denk noch einmal nach, Chantal.«

Chantal lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Florence musterte sie. »Nein Florence, ich kann nichts sagen.«

»Gut. Lass dir aber bitte alles noch einmal ganz in Ruhe durch den Kopf gehen. Solltest du auch nur auf die kleinste Ungereimtheit in seinem Verhalten stoßen, musst du es mir sofort sagen. Hat er ein Interesse an dir als Frau?«

Chantal zuckte mit den Schultern. »Das glaube ich nicht, obwohl ich...nein, ich weiß es wirklich nicht.«

Florence erhob sich und ging zum Fenster. Sie zog den Vorhang ein Stück beiseite. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Schneeflocken wirbelten im Schein der Laterne zu Boden, wo sich ein weißer Teppich über die Straße ausgebreitet hatte.

»Ich werde jetzt mit diesen Dokumenten zu Maurice fahren«, sagte Florence, den Blick weiterhin auf die totenstille Straße gerichtet. »Morgen Vormittag, vielleicht schon heute Nacht werden wir das OK für die nächsten Schritte bekommen, da bin ich mir sicher.«

Sie drehte sich wieder Chantal zu, die weiterhin auf der Couch saß. »Wann ist dein nächstes Treffen mit dem Deutschen?«

»Morgen Nachmittag um drei. Er hat mir ein Cafè in der Nähe vom Place De La Concorde aufgeschrieben. Ist wohl nicht weit von seinem Hotel entfernt. Willst du die genaue Adresse wissen?«

»Nein. Ich denke allerdings gerade ein bisschen weiter. Beispielsweise an die Papiere, die wir für ihn anfertigen müssten, falls er tatsächlich evakuiert werden soll. Dafür benötigen wir Bilder von ihm. Das würde bedeuten, ihr müsstet euch morgen zweimal treffen und falls er keine verwendbaren Bilder vorrätig hat, wovon erst einmal auszugehen ist, müssten die noch morgen Abend angefertigt werden. Du siehst, was alles auf uns zukommt, falls es tatsächlich losgehen sollte.«

»Und wo soll das passieren? Das Schießen der Fotos zum Beispiel?«

»In einer der konspirativen Wohnungen. Welche wir nehmen, wird natürlich sehr kurzfristig entschieden. Dort wird dann auch alles genau vorbereitet.« Florence kam wieder zum Tisch zurück, blieb vor Chantal stehen, beugte sich zu ihr hinunter und umfasste ihre beiden Oberarme.

»Du solltest heute hier übernachten, Schätzchen. Falls es dir nichts ausmacht.«

»Nein, natürlich nicht, Florence. Im Gegenteil.«

»Wenn ich zurück bin, kochen wir uns etwas zu essen ja? Ich habe noch ein paar Vorräte in der Speisekammer. Wird allerdings zwei Stunden dauern.« Florence strich Chantal mit der Hand über das Haar. Dann nahm sie die Dokumente, verstaute sie in einer Ledertasche und verließ das Wohnzimmer. Im Flur zog sie die Stiefel und den Wintermantel an.

»Du kannst schon ein paar Kartoffeln schälen. Sie sind auch in der Speisekammer.«