Am Ende Der Dämmerung

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»Das wird nichts, sage ich Ihnen. Wir können hier einpacken! Je eher, desto besser!«

Chantal sah den Deutschen fasziniert an und überlegte, wie sie mit dieser Offenbarung umgehen sollte. Das war zu viel auf einmal. Oder war es auch der Alkohol? Sie brauchte eine Pause.

»Was Sie gerade erzählen ist kaum zu glauben«, sagte sie. »Aus Ihrem Mund, meine ich. Wir sollten etwas essen, bevor Sie fortfahren.«

»Aber selbstverständlich, eine gute Idee. Ich habe auch einen riesigen Hunger.«

Als Chantal zum Buffet kam, auf dem Quiche, Canardà l’Orange Rôti de boeuf, Crepes, Mousse au chocolate und andere Köstlichkeiten aufgebaut waren, spürte sie eine Beklemmung in sich. Während der Großteil der französischen Bevölkerung Fleisch und andere Zutaten nur noch auf Schwarzmärkten und zu astronomischen Preisen erstehen konnte, ließen es sich die Herrenmenschen hier gutgehen. Sie konnte die aufkeimende Wut kaum noch unterdrücken. Wie schon bei ihrem ersten Besuch in diesem Gourmet-Tempel, hätte sie die sorgsam arrangierten Schalen und Pfannen am liebsten von den Tischen gefegt. Ihr Appetit war wie weggeblasen, als sie sich einen leeren Teller vom Stapel nahm.

Nachdem Stading sich mit der Serviette den Mund abgetupft hatte, zündete er sich eine weitere Zigarette an. Er nahm einem Schluck Rotwein und musterte Chantal mit entrücktem Gesichtsausdruck.

»Was ist mit Ihnen, Monsieur Stading? Jetzt wirken Sie nachdenklich«. Stading rutschte von seinem Hocker und baute sich seitlich hinter ihr auf. »Ich brauche Ihre Hilfe«, raunte er ihr ins Ohr, während er sich vorsichtig nach allen Seiten hin umschaute. Chantal drehte den Kopf und sah ihn überrascht an.

»Ich habe wichtige Unterlagen und möchte diese den Alliierten übergeben. Brisantes Material!«

Sie zuckte zusammen, als wenn ein Blitz direkt neben ihr eingeschlagen wäre. Ein Überläufer? Darauf war sie nicht vorbereitet.

»Mein Beitrag, den Krieg etwas früher zu beenden«, fügte er hinzu, den Blick in den Raum gerichtet. »Es könnte mich allerdings wegen Hochverrats den Kopf kosten. Insofern muss ich meine meine Aussage von vorhin, mein Job wäre kein Geheimnis, etwas revidieren.«

Chantal spürte plötzlich den Druck, mit dem ihr Herz das Blut durch die Venen pumpte, das Pochen ihrer Schläfen, die unangenehme Feuchtigkeit, die aus allen Poren ihrer Haut austrat. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf und alle schnitten sich in einem Punkt. Sie war plötzlich mitten in einem ganz anderen Spiel!

»Und was kann ich für Sie tun?« Ihre belegte Stimme klang unsicher und brüchig.

»Wie schon gesagt, ich muss mit meinem Material einen Weg zu den Alliierten finden. So bald wie möglich!« Er machte eine Pause, räusperte sich. »Und glauben Sie mir, meine Dokumente über den Atlantikwall würden den Alliierten einige Türen öffnen.«

Chantal atmete flach. Reflexartig griff sie zum Weinglas und trank einen Schluck.

»Wie kommen Sie darauf, dass gerade ich Ihnen dabei helfen könnte?« Stading lächelte reserviert.

»Das sagt mir mein Instinkt. Auch wenn Sie, wie ich glaube, keinen direkten Zugang zu den Alliierten haben, werden Sie bestimmt in der Lage sein, eine Verbindung herzustellen.« Er klopfte die Asche seiner Zigarette über dem Aschenbecher ab. »Obwohl ich diesen Gedanken schon ein paar Tage mit mir herumtrage, ist das jetzt ganz spontan, wissen Sie.«

»Und was macht Sie so sicher, dass ich nicht einen der anwesenden Herren hier anspreche? Man würde Sie in den nächsten Minuten verhaften.«

Ein Lächeln huschte auf Stadings Gesicht und verschwand genauso schnell, wie es gekommen war.

»Natürlich habe ich auch dieses Szenario einkalkuliert, Mademoiselle Verhoeven. Allerdings muss ich gestehen, dass ich Ihnen das nicht zutraue. In diesem, aus meiner Sicht unwahrscheinlichen, Fall jedoch«, er machte eine dramaturgische Pause und blickte auf sein Weinglas, als suche er nach passenden Worten, »würde ich mich kurz und schmerzlos von Ihnen und von dieser Welt verabschieden.«

Chantal runzelte die Stirn.

Stadings rechte Hand verschwand in seiner Hosentasche und förderte kurz darauf eine kleine Messingdose mit einem Schraubdeckel hervor. Mit triumphierendem Augenaufschlag hielt er sie ihr zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand entgegen.

»Unser Notfallset. Enthält eine Kugel aus hauchdünnem Glas. Gefüllt mit Zyankali. Wirkt zuverlässig und schnell. Haben seit zwei Monaten alle Offiziere der Wehrmacht und der SS in der Tasche. Es gehört jetzt sozusagen zur Kampfausrüstung.« Er lachte heiser auf.

»Es gibt übrigens nicht wenige meiner Kollegen, die dieser Kugel mehr vertrauen, als denen in ihren Dienstpistolen.«

Chantal spürte die Beklemmung, die seine Worte bei ihr auslösten. Er schien zu allem bereit zu sein. Sie fragte sich immer noch, warum er gerade ihr seine Fluchtgedanken anvertraut hatte. Wusste er etwas über sie? Über ihre Mission in diesem Restaurant? Oder ist er vielleicht sogar ein Spitzel? Auch davor hatte Florence sie gewarnt. Dann würde seine Geschichte nicht stimmen. Ihr Puls raste.

»Worüber denken Sie nach?«, unterbrach Stading ihre Gedanken. »Ich kann Ihnen versichern, dass wir ein gemeinsames Ziel haben.«

»Es kommt für mich etwas überraschend, wissen Sie. Ich muss gestehen, dass es mich augenblicklich sogar überfordert.«

Krampfhaft versuchte Chantal, die Situation für sich einzuordnen. Es waren nicht mehr nur ein paar nützliche Informationen, um die es hier ging, das war jetzt eine richtig große Nummer und wahrscheinlich eine zu große Nummer für sie. Wenn Stading tatsächlich imstande und bereit war, wichtiges Material über den Atlantikwall zu liefern, Material, dass den Alliierten weiterhelfen würde, dann musste sie alles dafür tun, um dies zu ermöglichen. Aber woher sollte sie wissen, ob sie ihm tatsächlich trauen konnte? Und wie sollte es dann weitergehen? Sie musste noch heute Florence kontaktieren.

»Wahrscheinlich war das jetzt tatsächlich ein bisschen viel für Sie«, sagte

Stading. »Sie sollten in Ruhe darüber nachdenken. Es kommt nicht auf einen Tag an. Trotzdem kann ich nicht mehr allzu lange warten.« Stading suchte ihren Blick. »Ich weiß nicht, warum ich glaube, dass Sie mir helfen können. Ist eine Eingebung. Meine Menschenkenntnisse haben mich bisher jedenfalls noch nie getäuscht.«

Neben Chantal waren zwei Deutsche an den Tresen getreten. Chantal hörte sie über die kommenden Weihnachtsfeiertage plaudern, die sie bei ihren Familien in Deutschland verbringen wollten. Wie sie diese Kreaturen verabscheute. Sich in Frankreich austoben und dann ein paar biedere Tage vor dem Weihnachtsbaum verbringen und den guten Vater und Ehemann geben.

»Ich werde darüber nachdenken, Monsieur Stading«, sagte Chantal und bemühte sich, distanziert und vage zu bleiben, »vielleicht lässt sich ja tatsächlich etwas machen. Ich kann Ihnen jedoch nichts versprechen.« Sie machte eine Pause. »Ihre Menschenkenntnis funktioniert jedenfalls. Sie können mir vertrauen.«

Ein Lächeln entfaltete sich auf Stadings Gesicht.

»Schön zu hören, Mademoiselle Verhoeven. Vielen Dank. Natürlich ist mir auch klar, dass Sie eine Nacht darüber schlafen müssen.«

»Darum geht es nicht. Ich muss vor allen Dingen herausfinden, ob und wie ich Ihnen helfen kann.«

Stading schloss für einen kurzen Moment die Augen.

»Vielleicht würde es ja den Prozess etwas beschleunigen, wenn ich Ihnen morgen bei einem zweiten Treffen ein paar Materialproben überlasse. Die würden beweisen, dass ich es ernst meine. Sie hätten dann etwas in der Hand und könnten es, durch wen auch immer, prüfen lassen. Natürlich werden sie sich jetzt fragen, warum gibt der Bursche mir nicht einfach das Material, damit ich es weiterleiten kann und gut ist?« Stading räusperte sich zweimal. »Das wäre natürlich die einfachste Möglichkeit, aber, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es geht auch um mich. Ich muss auch aus Frankreich verschwinden! Ansonsten habe ich ein Problem.«

Chantal nickte verständnisvoll. Sie blickte zur Seite. Die beiden Deutschen waren immer noch miteinander im Gespräch vertieft. Sie wandte sich wieder Stading zu.

»Ja, ich verstehe das alles. Ist übrigens eine gute Idee, dass mit der Materialprobe.«

»Okay, lassen wir das jetzt. Ich bestelle uns einfach noch etwas zu trinken«, sagte Stading. »Ein Glas Champagner?«

»Nein, ich...«

»Ach, kommen Sie Mademoiselle Verhoeven, das geht sowieso alles auf mich. Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.«

Ohne eine Reaktion Chantals abzuwarten, suchte er den Blickkontakt zu einem Kellner und bestellte zwei Gläser Champagner.

4

Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

»Mein lieber Mann, hier ist ja ganz schön was los«, stellte der junge Mann mit den blonden, scharf gescheitelten Haaren und einem kräftigen Körperbau fest, während er von seinem Platz aus in die Runde schaute. »Sieh mal nebenan.« Er nickte unauffällig zum Nebentisch. »Das Mädel mit der Berliner Weiße. Scheint solo hier zu sein. Wäre genau meine Kragenweite.«

»Deine Kragenweite?«, fragte sein Gegenüber grinsend. »Du bist doch verheiratet, Heinz, und hast deine Braut zu Hause. Ich...«

»Das lass man meine Sorge sein, mein lieber Bernd«, fiel Heinz ihm in beleidigtem Tonfall ins Wort.

»Versaue mir jetzt bitte nicht die Stimmung. Außerdem ist ein kleiner Seitensprung nichts Verwerfliches.«

Heinz war sichtlich verärgert. Immer wieder schmieren sie mir aufs Brot, dass ich verheiratet bin. Es wird Zeit, dass ich mal ein paar deutliche Worte spreche. Schließlich ist das ganz alleine mein Problem, verdammt noch mal. Natürlich war es ein Fehler gewesen, Renate zu heiraten. Sie ist eine herzensgute Frau, nett anzusehen, wenn auch nicht attraktiv im herkömmlichen Sinn. Er glaubte allerdings, sie mal geliebt zu haben, was allerdings schon eine Ewigkeit zurücklag. Momentan war ihrer Beziehung jedenfalls die Luft entwichen und wenn er es ehrlich ausdrücken wollte, war der Reifen total platt. Da ging nichts mehr. Renate hatte alles versucht, um ihre Ehe zu retten, ihre Lösung war aber immer nur ein gemeinsames Kind. Das würde sie zusammenschweißen, ihrer Beziehung frischen Wind bescheren! Wie hatte er es gehasst, wenn sie schon beim Frühstück davon anfing. Der ganze Vormittag war hin. Seine Gegenargumente, die berufliche Anspannung und dass er noch etwas erreichen wolle, zählten bei ihr scheinbar gar nicht. Natürlich musste er zugeben, dass es ihm in erster Linie darum ging, seine Freiheit zu bewahren. Sonntagsspaziergänge mit dem Kinderwagen konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

 

Als er Renate vor neun Jahren auf dem Schulhof des Victoria-Gymnasiums in Potsdam angesprochen hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Sie war zwei Klassen unter ihm und himmelte ihn an, wie seinen Namensfetter Heinz Rühmann. Klar, er hatte einen großen Schlag bei den Mädels, sie war auch nicht seine erste Freundin. Schon bald trafen sie sich ein erstes Mal und dann regelmäßig. Als er im folgenden Sommer zu Hause in der elterlichen Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Straße blieb, während seine Eltern in ihrer Sommerresidenz in Heringsdorf auf Usedom verweilten, nutzte er die Gelegenheit, um sie flachzulegen. Seitdem wich sie ihm nicht mehr von der Seite.

»Ach Herr Ober«, rief Heinz, als der Kellner vorbeikam, »wir hatten noch zwei Schnäpse bestellt.«

»Ich weiß, aber ich habe nur zwei Hände zum Tragen. Wenn ich vier hätte, würde ich im Zirkus auftreten.«

»Ist schon klar. Wollte es nur noch mal in Erinnerung rufen.« Heinz wandte sich grinsend wieder seinem Freund zu. »Der ist ein bisschen lahm, was? Ich glaube, da können wir lange warten. Ich werde mich mal um die hübsche Dame am Nebentisch kümmern.«

Grinsend erhob er sich von seinem Platz.

»Na dann viel Spaß«, entgegnete Bernhard und trank einen kräftigen Schluck von seinem Bier.

»Darf ich um einen Tanz bitten, gnädiges Fräulein?«

Charlotte fuhr zusammen. Einer der beiden jungen Männer vom Nachbartisch stand neben ihr. Mittelblonde, scharf gescheitelte Haare, schlank und hoch aufgewachsen. Seine graublauen Augen funkelten im Schein der bunten Glühlampen. Eine interessante Erscheinung, das hatte sie schon feststellen können. Lächelnd nickte sie, erhob sich und folgte ihm zur Tanzfläche.

»Wie gefällt es Ihnen hier?«, fragte er während sie sich zu dem Stück »Wenn Matrosen mal an Land geh’n« drehten.

»Sehr gut. Wirklich ein schönes Fest.«

»Und Sie sind eine sehr schöne Frau. Ich beobachte Sie nämlich schon den ganzen Abend.«

»Oh, vielen Dank.« Charlotte spürte sogleich die Röte in ihrem Gesicht aufsteigen.

»Und wie sind Sie auf dieses Fest gekommen?«, fragte sie um etwas abzulenken. »Ich meine, sind Sie Mitglied in diesem Club?«

»Ja, aber ich muss gestehen, dass ich ein schlechter Ruderer bin. Also mehr oder weniger passives Mitglied. Um ehrlich zu sein, habe ich andere sportliche Interessen. Aber dieses Fest lass ich mir nicht entgehen.«

»Und was haben Sie für sportliche Interessen?«

»Ich spiele Hockey. Beim Berliner Hockey-Club am Hüttenweg.«

»Oh, ich habe auch eine Freundin, die Hockey spielt. In Lichterfelde.«

Sie musste anerkennen, dass er ein guter Tänzer war und sie recht schwungvoll führte. Sie hatte lange nicht mehr getanzt und merkte, dass es ihr trotz der Anstrengung guttat. Nach einigen Runden spürte sie den Schweiß am ganzen Körper.

»Ich glaube, ich brauche jetzt mal eine kleine Pause«, sagte sie japsend und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er nickte verständnisvoll und brachte sie zu ihrem Platz zurück, wo Olaf und Rosa vor ihren Tellern saßen und erstaunt aufschauten.

»Vielen Dank für den Tanz«, sagte sie und deutete einen Knicks an. »War mir ein Vergnügen, mein Fräulein.« Mit einer knappen Verbeugung und einem Augenzwinkern wendete er sich ab und ging lächelnd zu seinem Tisch zurück.

»Und, Lotte?« Rosa konnte ihre Neugier kaum verbergen.

»Was meinst du?«

»Na komm schon, ist er was für dich?«

»Nun hör aber auf, Rosa. Nach einem Tanz. Ich bitte dich.«

»Aber warum denn? Der macht doch einen netten Eindruck. Hat er Interesse an dir?«

»Nun lass sie doch mal, Liebling«, mischte sich Olaf ein. »Du wirst es schon früh genug erfahren. Möchtest du vielleicht mal etwas probieren, Lotte?« Olaf deutete auf seinen Teller, auf dem er eine Boulette, zwei Gewürzgurken und zwei hart gekochte Eier um eine Portion Kartoffelsalat herum arrangiert hatte.

»Na gut, schneidest du mir bitte ein kleines Stückchen ab.«

»Du kannst auch von mir nehmen«, warf Rosa ein und hielt Charlotte ihr Besteck hin. »Ich schaffe das eh nicht.«

»Mal was anderes, Lotte, hast du das mit Georg gehört?«, fragte Olaf nach einer kurzen Pause, während er ein Stück seiner Boulette in den Senf tauchte.

»Nein, was ist mit Georg?«

»Hat Deutschland verlassen. Letztes Wochenende.«

»Was? Das wusste ich gar nicht.« Charlotte ließ ihre Gabel sinken und sah Olaf angstvoll an.

»Ja, die braunen Herrschaften haben sich das Geschäft seiner Eltern in der Grolmanstraße wieder einmal vorgenommen und mit Farbe beschmiert. Zwei Schupos, die von Georgs Mutter auf der Straße angesprochen wurden, sollen einfach weitergegangen sein. Und anschließend zwangen diese SA-Schergen seine Eltern, die Straße zu reinigen.«

Charlottes Blick sprang von Olaf zu Rosa und wieder zurück.

»Sie haben alles aufgegeben und sind spontan zu Freunden nach Dänemark ausgereist«, ergänzte Rosa. »Irgendwann findet der komplette Umzug statt.« Charlotte konnte es kaum fassen.

»Ich habe es geahnt«, zischte sie. »So sieht es mittlerweile aus in Deutschland und es wird immer schlimmer! Jeder Blick in die Zeitung macht mir Angst. Wenn ich die Schlagzeilen des Völkischen Beobachters oder des Stürmers an den Kiosken sehe, bekomme ich jedes Mal aus Neue eine Gänsehaut. Sie wollen uns alle in den Würgegriff nehmen. Mit den Juden fangen sie an, die haben jetzt richtig zu leiden...« Sie atmete tief aus und senkte den Blick.

»Aber das war ja abzusehen. Kann ich Georg nochmal irgendwo treffen?« »Ich glaube, Alfred hat noch Kontakt zu ihm«, sagte Rosa.

»Beim Umzug werden wir auf jeden Fall helfen.«

Charlotte nickte nachdenklich.

»Ist vielleicht nicht das richtige Thema für diesen Abend«, versuchte Olaf die plötzlich getrübte Stimmung wieder zu heben. »Komm Liebling, lass uns mal tanzen.« Olaf sah seine Freundin auffordernd an. Rosa nickte und erhob sich.

»Vielleicht kommst du ja auch noch einmal auf die Tanzfläche, Lotte«, wandte sie sich an Charlotte und nickte augenzwinkernd in Richtung des Nebentisches. Charlotte warf ihr einen drohenden Blick hinterher.

5

Samstag, 11. Dezember 1943

Paris, 9. Arrondissement,

Rue Buffault

Am Morgen

»Guten Morgen, hier spricht Christine Magaux. Entschuldigen Sie Madame, haben Sie den Roman ‚Voyage au bout de lanuit‘ von Louis-Ferdinand

Cèline vorrätig? Ich möchte das Buch verschenken. Es ist dringend, wissen Sie, ich bin heute Nachmittag zum Geburtstag eines Bekannten eingeladen.« »Einen Augenblick. Lassen Sie mich mal nachschauen.«

Chantal hörte, wie am anderen Ende der Leitung der Telefonhörer abgelegt wurde. »Sie haben Glück, Madame«, meldete sich Florence kurz darauf zurück, »ich habe das Buch hier. Wollen Sie vorbeikommen? Wann passt es Ihnen...vielleicht gegen 11 Uhr?«

»Ja, das passt mir sehr gut.«

»Ach Madame, interessieren sie sich für Molière?«

»Natürlich, ich liebe Molière.«

»Dann habe ich noch etwas für Sie. Ist ein Sammelband. Ganz neu hereingekommen. Lassen Sie sich überraschen.«

»Besten Dank Madame, ich werde um 11 Uhr bei Ihnen sein. Au revoir.« Chantal schob das Telefon beiseite und trank von ihrem Cafe au Lait. Sie musste schmunzeln. Es war schon eine geniale Idee von Florence, Werke faschistisch gesinnter Intellektueller wie Cèline oder Brasillach als Code für ihre konspirativen Treffen zu verwenden, die selten in ihrer Wohnung stattfanden, sondern auf dem nahegelegenen Friedhof Père Lachaise.

Aber sie hatte natürlich recht mit der Annahme, dass die Deutschen, die die Pariser Telefonleitungen rund um die Uhr abhörten, bei diesen Autoren kaum einen Verdacht schöpfen würden. Franzosen, die solche Bücher lasen, mussten einfach auf der »richtigen« Seite stehen.

Chantals Blick wanderte durch das beschlagene Fenster auf die Straße. Paris erwachte. Trotz der morgendlichen Kälte wurde es draußen zunehmend lebhafter. Die Menschen begannen schon sehr früh, Geschäfte und Märkte nach Lebensmitteln abzuklappern, denn im Laufe des Tages wurde die Chance, etwas Bezahlbares für das Wochenende zu bekommen, immer schlechter.

Chantal brach ein Stück Croissant ab und tauchte es in den Kaffee. Fast jeden Samstag frühstückte sie in der kleinen Bar von Roger Boyer, in der es schon am frühen Morgen zuging, wie auf dem großen Basar in Istanbul. Wortgewaltig und gestenreich diskutierten Rogers Gäste die wichtigsten innenpolitischen Entwicklungen der Woche. Die meisten Gesichter kannte sie schon, sehr oft auch die Charaktere dahinter. Mit Beklemmung registrierte sie die sich von Woche zu Woche immer mehr aufladende Atmosphäre. Diskussionen endeten zuletzt auch schon in handfesten Prügeleien. Trotzdem war sich der überwiegende Teil der Gäste, die aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten stammten, darüber einig, dass der Tiefpunkt erreicht war und es irgendwann wieder aufwärtsgehen müsste. Obwohl Rogers Bar gleich an der nächsten Ecke lag, hatte Chantal sie erst vor einigen Wochen für sich entdeckt, als sie die Bar wegen eines wichtigen Telefongespräches betrat. Roger hatte sofort Gefallen an ihr gefunden und ihr einen Pernod spendiert. Seitdem hatte sich ihr Verhältnis zu Roger so intensiv entwickelt, als würden sie sich schon jahrelang kennen. Immer wenn sie auf dem Weg zur Wohnung an der Bar vorbeikam, winkte sie Roger zu und meistens bedeutete er ihr mit wilden Armbewegungen, kurz hereinzukommen. Der kleine Mann entsprach genau dem Klischee des französischen Mannes, wie sie es sich in Deutschland vorstellten. Ein riesiger Schnauzbart, listig funkelnde Augen und nie ohne seine Baskenmütze. Roger wohnte direkt über der Bar, die er schon in der dritten Generation bewirtschaftete und die eine Institution im Kiez war. Hier wurden alle Neuigkeiten und Informationen aus dem 9. Arrondissement zusammengetragen, die für die Bewohner oft überlebenswichtig waren. Wo es Kohlen zu kaufen gab oder wer nachts heimlich ein Schwein geschlachtet und Fleisch zu verkaufen hatte, aber auch über Razzien der letzten Tage und Nächte, in denen die Boches immer häufiger Menschen aus ihren Wohnungen verschleppten.

Chantal unterdrückte zum wiederholten Mal ein Gähnen. Die Nacht war schrecklich gewesen. Sie hatte kaum ein Auge zubekommen. Immer wieder schoss ihr das Treffen mit Stading durch den Kopf. Zweimal war sie in der Nacht aufgestanden, um etwas zu trinken.

»Noch einen Wunsch, Chantal?«, fragte Roger, als er mit einem Tablett an ihr vorbeiging. Sie schaute auf ihre Uhr. In knapp zwei Stunden würde sie Florence am Grab von Moliere treffen.

»Ja, Roger, bring mir noch einen«, sagte sie und zeigte auf ihre Tasse. »Ich habe noch etwas Zeit.«

Für die Fahrt zum Friedhof im Osten der Stadt benötigte sie ungefähr eine dreiviertel Stunde. Friedhöfe, auch da stimmte sie Florence zu, eigneten sich bestens für konspirative Treffen, denn Friedhofsbesucher waren meistens mit ihren Gedanken bei den Toten oder mit sich selbst beschäftigt. Verdächtige Personen, wie Spitzel der deutschen Abwehr, würden hier sofort auffallen, wenn sie denn überhaupt auf die Idee kämen, auf Friedhöfen herumzulungern.

 

»Ich habe übrigens einen Zentner Kohlen für dich, Chantal«, sagte Roger, als er den Kaffee brachte.

»Das ist nicht dein Ernst, Roger. Ich wollte schon auf dich zukommen.« »Sag mir, wann du zu Hause bist und ein Freund hier aus dem Kiez bringt sie bei dir vorbei.«

»Oh Roger, du bist ein Schatz.« Chantal erhob sich und drückte Roger einen Kuss auf die Wange. »Vielleicht am nächsten Montag. Gegen Abend.« »Kein Problem. Melde dich einfach. Der Sack ist für dich reserviert.«

Paris, 20. Arrondissement,

Cimitière du PereLachaise

Zwei Stunden später

Paris‘ berühmtester Friedhof bot um diese Zeit, in der sich das von grauem Schnee bedeckte Laub auf den Wegen häufte und die kahlen schwarzen Äste der Bäume vor dem wolkenverhangenen Himmel wie menschliche Skelette wirkten, das trostlose Abbild der Stadt. Schon kurz nachdem Chantal die Kapelle passiert hatte und in die Chaussee Molière et La Fontaine eingebogen war, erkannte sie Florence, die stillschweigend direkt vor dem schwarzen Zaun der monumentalen Grabanlage stand und in sich gekehrt auf das Grab blickte. Auf den Schultern ihres beigefarbenen Mantels, zu dem sie einem schwarzen Wollschal trug und auf ihrem schwarzen Hut hatte sich Unmengen Schneeflocken versammelt.

»Bonjour, Florence«, raunte Chantal, als sie hinter Florence stand. Florence drehte sich zu ihr um und lächelte.

»Bonjour, mon amour.«

Sie küssten sich auf beide Wangen, dann blickten sie eine Weile schweigend auf das Grab. Ein Ritual.

»Ist es nicht kalt geworden?«, fragte Florence in gedämpften Ton und hüstelte.

»Ja, sehr kalt. Ich habe gerade einen Sack Kohlen bekommen.«

»Wirklich?«

»Ja, von Roger. Und er wird mir in die Wohnung geliefert.

»Na was für ein Glück, meine Liebe. Es wird bestimmt wieder ein harter Winter werden. Ich muss mich auch darum kümmern. Unser Treffen hier passt mir ganz gut. Ich musste unbedingt mal an die frische Luft.«

Florence zeigte ein flüchtiges Lächeln. »Ist sowieso nicht viel los im Laden.« Sie strich mit der Hand ein wenig Schnee von Chantals Mantelkragen.

»Du willst mir von deinem gestrigen Abend berichten. Am Telefon hörte es sich an, als wenn es sehr wichtig wäre.«

»Ja, ich denke schon.«

In knappen Sätzen berichtete Chantal von ihrem Zusammentreffen mit Stading. Florence hörte geduldig zu und nickte dann und wann. Nachdem Chantal geendet hatte, schloss Florence für einen kurzen Moment die Augen. Dann schaute sie Chantal forschend an.

»Was hast du für ein Gefühl dabei, Chantal? Wie denkst du über die Sache?« »Ich habe die ganze Nacht lang gegrübelt und wusste bis heute Morgen absolut nicht, was ich davon halten sollte. Es war ein ständiges Hin und Her in meinem Kopf. Einerseits kommen immer noch Zweifel zum Vorschein und ich habe Angst, dass er ein Agent der Deutschen Abwehr sein könnte, andererseits ist die Geschichte auch irgendwie plausibel und stimmig. Vielleicht war es auch einfach nur zu viel für den Moment und es lag daran, dass ich überhaupt nicht darauf vorbereitet war.« Sie machte eine Pause und sah, wie sich Schneeflocken auf den schwarzen Gitterstäben vor dem Grab aufhäuften.

»Im Augenblick tendiere ich dazu, dass alles stimmt, was er sagte«, fuhr sie fort. »Ich bin mir fast sicher.«

»Und warum bist du dir jetzt sicher?«

»Ich kann es nicht erklären, Florence. Intuition? Es gibt da ein paar Dinge, die diesen Eindruck bei mir immer mehr verfestigen.«

Florence sah sie fragenden an.

»Wie ich vorhin schon sagte, Florence, ist dieser Mann überhaupt nicht der typische Boche, so wie wir ihn uns vorstellen. Du weißt, was ich meine. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass er mir sogar positiv aufgefallen ist. Zugegeben, es ist ein rein subjektives Empfinden, aber ich glaube deutliche Signale empfangen zu haben, dass er genug vom Krieg hat und es ernst meint. Ich denke nicht, dass er mir etwas vorgespielt hat.«

»Er hat dich also beeindruckt?«

»Ja, seine Art und seine Sicht auf die Situation haben mich schon beeindruckt.«

»Findest du ihn attraktiv, Chantal?« Chantal spürte, wie sich ihre Gesichtsfarbe urplötzlich veränderte. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. »Nein, bestimmt nicht«, antwortete sie mit fester Stimme. »Warum fragst du, Florence?«

»Man muss in solch einer Situation auf viele Dinge achten, die einem kaum präsent sind. Persönliche Gefühle sind meistens schlechte Ratgeber und es ist nicht ganz einfach, aber enorm wichtig, Gefühle aus dem Spiel zu halten. Besonders, wenn es um sol-che brisanten Dinge geht. Glaube mir, ich habe das alles schon hinter mir.«

Chantal registrierte, wie Florence mit ihren Gedanken kämpfte. Ein älteres Ehepaar ging mit Blumen in der Hand an ihnen vorüber. Florence nickte freundlich und blickte ihnen hinterher. Als sie sich einige Meter entfernt hatten, wandte sie sich wieder Chantal zu.

»Du sagtest, ihr habt ein weiteres Treffen vereinbart, wo du Materialproben bekommen sollst?«

»Ja, heute um zwei Uhr. In der Orangerie.«

Florence sah Chantal überrascht an.

»In der Orangerie? Wieso denn dort?«

»Dort wird eine Ausstellung gezeigt. Frage mich bitte nicht, worüber. Ich war auch verwundert, aber Stading hat wohl ein paar Eintrittskarten geschenkt bekommen und hat mich auf einen Rundgang zusammen mit einem Glas Champagner eingeladen.«

»Ich muss schon sagen, dass ich das sehr ungewöhnlich finde«, sagte Florence. »Ist das nicht ein schlechter Treffpunkt?«

»Ich hatte ihm gegenüber auch meine Zweifel geäußert, aber er meinte, gerade dort würde man kaum beachtet werden.« Chantal warf Florence einen fragenden Blick zu. »Wenn du irgendwelche Zweifel an der Geschichte hast, Florence, dann sage es mir. Ich werde mich nicht mit ihm treffen und das Thema hat sich erledigt. Wie ich dir schon sagte, er weiß absolut nichts über mich außer meinem Decknamen.«

»Ich frage mich die ganze Zeit, warum er sich dir gegenüber offenbart hat. Es war ja ein hohes Risiko für ihn. Und wie konnte er annehmen, dass gerade du ihm helfen könntest?«

»Genau das ließ mir auch keine Ruhe. Ich weiß es wirklich nicht.«

Florence nickte und schwieg. Ihr Blick wanderte den Weg entlang. »Du solltest dich ein weiteres Mal mit ihm treffen, meine Liebe. Nach dem, was du sagst, glaube auch ich, dass seine Geschichte stimmt. Wenn er tatsächlich wichtige Informationen für die Alliierten hat, wäre es geradezu fahrlässig, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen. Von diesem Probematerial – unsere Experten würden es natürlich genau prüfen – hängt unser weiteres Vorgehen ab.« Florence sah Chantal tief in die Augen. »Eins solltest du aber weiterhin bedenken, Chantal: Wir müssen zu jedem Zeitpunkt darauf gefasst sein, dass er ein Agent der deutschen Abwehr ist. Du kannst nicht in seinen Kopf schauen und die Deutschen haben ihr perfides Spiel immer mehr perfektioniert. Also, meine Liebe, allergrößte Vorsicht! Sollte das Material so brillant sein, dass ein Plan zur Evakuierung entwickelt werden muss, dann...aber was rede ich da, so weit ist es ja noch nicht.«

Chantal nickte. Die Schneeschauer wurden stärker. Sie zog ihren Schal hoch. »Eine Evakuierung würde übrigens über den britischen Geheimdienst laufen«, ergänzte Florence. »Da würde im Vorlauf viel Arbeit auf uns zukommen. Die wollen äußerst gut vorbereitet werden. Aber wie gesagt, darüber brauchen wir jetzt noch nicht zu reden.«

Florence wandte den Blick ab und verfolgte die Schneeflocken, die sich zu Hunderttausenden auf dem Grabmonument versammelten, während

Chantals Blick auf Florences Mütze verharrte.

»So, meine Liebe, ich werde noch im Laufe der nächsten zwei Stunden ein paar Leute kontaktieren und erste Stellungnahmen einholen«, beendete Florence das eingetretene Schweigen. »Was auch immer sich ergeben wird, Chantal, ich bin stolz auf dich. Du solltest heute Abend gegen sechs Uhr mit dem Material zu mir kommen. Kannst du das schaffen? Wir kochen dann gemeinsam.«