Am Ende Der Dämmerung

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Samstag, 30. Juli 1938

Berlin-Zehlendorf,

Am Großen Wannsee

Ein Abend von bleibender Erinnerung

»Rosa, Olaf und noch eine hübsche Dame«, grüßte der junge Mann mit der schwarzen Melone auf dem Kopf am Eingangstor des riesigen Clubgeländes. »Schön euch zu sehen. Tretet ein und amüsiert euch.« Mit einer ausladenden Armbewegung und einer Verbeugung komplimentierte er die drei Neuankömmlinge auf das Gelände.

»Vielen Dank, Roland«, lachte Olaf, »das werden wir, oder?« Er zwinkerte seinen beiden Begleiterinnen zu, seiner Frau Rosa und ihrer besten Freundin Charlotte, mit der sie auf der Station 12 des Stubenrauch-Krankenhauses in Lichterfelde als Stationsschwestern zusammenarbeitete. Olaf und Rosa waren begeisterte Ruderer und seit mehr als drei Jahren Mitglieder des Ruderclubs Südwest am Westufer des Großen Wannsees. Kaum ein Sommerwochenende verging, an dem sie nicht mit ihren schnittigen Booten auf der Havel unterwegs waren, zwischen Glienicker Brücke und der

Wilhelmstadt oder auf dem Tegeler See, ihren bevorzugten Ruderrevieren. Das Sommerfest des Ruderclubs war seit Jahren der Höhepunkt der Saison und galt als das beste unter den vielen Festen, die von den Segel- und Ruderclubs an der Havel veranstaltet wurden.

»Dort sind noch ein paar freie Plätze«, freute sich Olaf und steuerte sogleich einen Tisch unter einer großen Kastanie an. Die beiden Mädels folgten ihm. »Ist es nicht wundervoll, Lotte?« fragte Rosa, als sie nebeneinander am Tisch saßen. Sie schaute ihre Freundin mit verklärtem Blick an. »Ich liebe nichts mehr als diese lauen Sommerabende an der Havel.«

»Ja, ich finde es großartig hier«, stimmte ihr Charlotte zu. Auch sie sog die stimmungsvolle Atmosphäre ein.

Vor dem Clubhaus war eine Bühne aufgebaut, auf der eine Combo gerade ein Foxtrott-Intermezzo spielte, während sich unzählige Paare auf einer Fläche davor zum Tanz drehten. Bis hinunter zum See erstreckte sich die große Rasenfläche, auf der sonst die Boote lagerten und sich jetzt Tische aneinanderreihten, an denen ausgelassene junge Leute aßen, tranken und lachten.

»Wir haben wirklich wieder einmal Glück mit dem Wetter«, sagte Olaf. »Es hätte auch anders kommen können. Und wie hell es noch ist. Dort drüben ist das Strandbad. Kann man hinschwimmen.«

»Na ja, jetzt übertreibst du aber«, sagte Rosa und zeigte ihm einen Vogel. »Ach Charlotte, ein paar Häuser weiter, hatte übrigens Max Liebermann gewohnt. Seine Frau lebt wohl noch dort.« Charlotte nickte nachdenklich. »Der würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was in Deutschland gerade vor sich geht.«

Ein Kellner mit schneeweißer Jacke erschien an ihrem Tisch, ein Tablett leerer Gläser in der Hand.

»Was wünschen die Herrschaften zu trinken? Das Essen gibt es vorne im Clubhaus.«

»Ich hätte gerne eine Berliner Weiße, Waldmeister«, sagte Rosa und sah Charlotte fragend an.

»Ich nehme auch eine, aber eine rote, bitte.«

»Und mir bringen Sie bitte ein großes Gezapftes«, fügte Olaf hinzu.

Der Kellner notierte die Bestellungen, nickte und verschwand.

»Ihr kennt bestimmt viele Leute hier, oder?«, fragte Charlotte. Olaf wiegte den Kopf.

»Na ja, ein paar Clubmitglieder, aber die sind hier heute in Unterzahl. Ich habe noch keinen Bekannten getroffen, außer Roland am Eingang. Das Fest ist für alle offen, nicht nur für Ruderer.«

»Genau«, ergänzte Rosa, »und so viele Mitglieder sind wir auch gar nicht.« Charlottes ließ ihren Blick umherwandern und sie verharrte einen Moment am Nebentisch, wo zwei junge Männer saßen und sich angeregt unterhielten. »Und, Lotte, ist etwas für dich dabei?«, fragte Olaf grinsend.

»Olaf!«, entrüstete sie sich und trat ihm gleichzeitig unter dem Tisch gegen das Schienbein.

»Na komm schon, meine Liebe, solch ein Fest ist doch eine gute Gelegenheit«, mischte sich Rosa ein, während sie ihren Arm um Charlottes Nacken legte.

»Du musst langsam mal wieder zu dir finden.«

Sie gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. Charlotte musste ihr zustimmen. Es war schon fast ein halbes Jahr her, seit sich Harald von ihr getrennt hatte. Nur zwei Wochen vor der Verlobung. Es hatte sie hart getroffen und sie benötigte lange, um sich von diesem Schock zu erholen. Bis heute schmerzte es sie, dass sie niemals den Grund dieser Trennung erfahren hatte. Zuerst vermutete sie einen Zusammenhang mit Haralds beruflicher Situation. Er war bis vor einem dreiviertel Jahr mit Herz und Seele Redakteur beim Berliner Tageblatt gewesen. Als die Nazis die unabhängige Berichterstattung unterboten und der liberale Chefredakteur Scheffer, mit dem Harald sich prächtig verstand, daraufhin das Handtuch geschmissen hatte, wollte auch er nicht länger in der Redaktion bleiben und kündigte. Charlotte hatte es kommen sehen und alles versucht, um ihn davon abzuhalten, was er jedoch mit seinem Verständnis von Journalismus, wie er ihr entgegnete, nicht vereinbaren konnte. Sie war entsetzt. Gerade in dieser Zeit seinen Job zu kündigen, war einfach instinktlos! Ihr war bewusst gewesen, dass er in dieser Zeit keinen neuen Job finden würde und schon bald zeigten sich die ersten Verhaltensmuster, die auf eine beginnende Depression hindeuteten. Dann war er plötzlich weg. Von einem Tag zum anderen. Mindestens achtmal hatte sie vor seiner Wohnungstür in der Weserstraße gestanden, doch sie traf ihn nie an. Irgendwann gab sie auf. Sie dachte bald an eine andere Frau und obwohl sie nie etwas Konkretes in Erfahrung bringen konnte, hatte sie dieser Gedanken bis zum Ende keine Ruhe gelassen. Letztendlich glaubte sie, dass sie sich einfach zu früh kennengelernt hatten, und die Trennung wäre so etwas wie ein Ausbruch Haralds aus einer Routine gewesen. Seit der zehnten Klasse hatten sie zusammen die Schulbank des Dürer-Lyzeums gedrückt und die Liebe zueinander entdeckt. Der Kellner erschien mit den Getränken und riss Charlotte aus ihren Gedanken.

»Zum Wohl«, rief Olaf und hob sein Bierglas. Charlotte staunte nicht schlecht, als er sein Glas mit einem Zug halb austrank.

»So, ich habe einen Bärenhunger«, sagte Olaf, während er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund wischte. »Lasst uns mal etwas essen gehen. Das Berlin Buffet ist hier einsame Spitze.« »Geht ruhig erst einmal«, erwiderte Charlotte, »ich bleibe noch ein wenig sitzen. Habe noch nicht solchen Hunger.«

»Wir können dir auch etwas mitbringen«, sagte Rosa und erhob sich. »Das ist lieb, Rosa, aber ich habe wirklich noch keinen Hunger. Später bestimmt.«

»Warte aber nicht zu lange, Lotte. Das Buffet ist sehr beliebt.«

Nachdem ihre Freunde gegangen waren, ließ Charlotte ihren Blick über die Anlage schweifen, verkniff es sich jedoch, zum Nebentisch zu den beiden Jungen hinüberzuschauen. Die Tanzfläche vor der kleinen Bühne war rappelvoll.

»Unser nächstes Stück heißt: In der Nacht ist der Mensch nicht gerne alleine«, rief der Sänger ins Mikrofon und kurz darauf schmetterte die Sechs-Mann-Kapelle mit Hingabe los, während sich unzählige Paare begannen, zu dem Stück drehen. Ist zwar nicht meine Musik, dachte Charlotte, aber trotzdem ein tolles Fest. Ihr Blick verweilte bei den tanzenden Paaren. Gerne hätte sie auch mal wieder getanzt. Sie hob den Kopf, blickte verträumt in den tiefblauen Nachthimmel und genoss den Augenblick.

3

Freitag, 10. Dezember 1943

Paris, 6. Arrondissement,

Rue de l’ Eperon

Am Abend

Gilbert Lacroix hatte sein Restaurant Maisondu Plaisir innerhalb nur weniger Jahre zu einem festen Bestandteil der Pariser Gourmet-Szene entwickelt. Mit seinen Spècialitès du Sud-Quest, Gänseleberpastete, Hirschragout und Entenbrust hatte sich der Weinhändler mit dem Körperbau eines Schwergewichtsringers aus Bordeaux einen Stern im Guide Michelin ergattert, worauf er mächtig stolz war. Schnell hatte es sich in Paris und im gesamten Ile-de-France herumgesprochen, dass er für seine Gäste in der Rue de la Huchette das größte Sortiment an exzellenten Medoc-Weinen bereithielt. Das Leben in Paris hatte sich verändert, das musste auch Lacroix konstatieren. Gerne erinnerte er sich an die Zeiten vor der Besatzung, als sein Restaurant an fast allen Tagen der Woche ausgebucht war und die Pariser mindestens drei Wochen im Voraus einen Tisch reservieren mussten. Die Jahre hatten ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht und er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn alles so weitergelaufen wäre. Aber er wollte nicht klagen, denn obwohl sich die politische Lage in Frankreich dramatisch verändert hatte, kam er immer noch wesentlich besser zurecht, als viele seiner Konkurrenten. Dabei war der Michelin-Guide eingestellt worden und er musste auf fast alle alten Stammgäste verzichten. Lacroix konnte es ihnen nicht verdenken, die Menschen waren in diesen schweren Zeiten eben nicht mehr bereit oder in der Lage, ihr Geld in teure Restaurants zu tragen. Dem hatte er Rechnung tragen müssen und da er kaum Skrupel kannte, entwickelte er bald ein Geschäftsmodell, das den meisten seiner Konkurrenten niemals in den Sinn gekommen wäre. Warum, so fragte er sich, sollte er seine Tische nicht exklusiv den deutschen Besatzern anbieten? Höheren Rängen der Wehrmacht oder der SS? Sie wussten sowieso nicht, wo sie ihr Geld ausgeben sollten und schließlich gab es auch noch eine Reihe Franzosen, die selbst in diesen Zeiten noch gut betucht waren und gerne mit den Deutschen tafelten. So würden beide Seiten auf ihre Kosten kommen, seine Geschäfte gingen immer noch gut und die Deutschen konnten weiterhin leben wie Gott in Frankreich. Im Gegensatz zu vielen anderen Pariser Restaurants, die mittlerweile schon Katzen- oder Taubenfleisch verarbeiteten und auf den Speisekarten als Kaninchen- oder Geflügelragout anboten, konnte Lacroix immer noch viele seiner ausgewählten Spezialitäten einkaufen, wenn auch zu drastisch erhöhten Preisen. Dafür wiederum waren seine Gäste verantwortlich, da sie alles konfiszierten, was sie kriegen konnten. Über saftige Rechnungen, die er seinen Gästen vorlegte, holte er sich das Geld zurück.

 

Gilbert Lacroix bewunderte die Deutschen schon vor ihrem Einmarsch in Frankreich. Es hatte ihm eine große Portion Respekt abgenötigt, wie sie aus den Trümmern des Ersten Weltkrieges wieder aufgestiegen waren und nach der Demütigung von Versailles eine solche wirtschaftliche Energie entfalten konnten. Nur an der Seite der Deutschen, da war er sich sicher, würde auch Frankreich wieder eine bedeutende, eine angemessene Rolle im künftigen Europa spielen. Er jedenfalls hatte den Einmarsch begrüßt und auch viele seiner Freunde dachten wie er. Was war denn aus Liberté, Égalité, Fraternité geworden? Diese Grundfeste der Revolution haben letztendlich doch zur Zerrissenheit der Nation geführt. Warum hatten so viele Franzosen einen Groll auf Petain? Dessen wohlgemeinte Mission war doch, Frankreich zu erhalten. Nur durch seine Zusammenarbeit mit den Deutschen war der Untergang des Landes zumindest zeitweise verhindert worden. Vichy hatte sich lange gut gehalten. Das waren doch auch Franzosen! Klar, irgendwann wurde Petain zu schwach, zumal er sich von Laval, diesem Wahnsinnigen, der den Deutschen bis in den letzten Winkel ihres Arschloches kroch, zum Schluss aus der Hand fraß. Da hätte er ein bisschen mehr Gespür und Verhandlungsgeschick gebraucht, aber dafür war er wahrscheinlich zu alt gewesen.

Lacroixs Gedanken begannen sich zunehmend um die Zukunft Frankreichs zu drehen, besonders, nachdem auch Vichy Geschichte geworden war. Irgendwann einmal, da war er sich sicher, würden die Deutschen wieder abziehen ... und ein großes Vakuum hinterlassen. Dieses zu füllen würde Frankreich vor eine enorme Herausforderung, vielleicht sogar vor eine Zerreißprobe stellen. Es würde weit vorausschauende und durchsetzungsstarke Persönlichkeiten erfordern, um dieses stolze Land wieder nach vorne zu bringen. Selbstverständlich zählte auch er sich zu diesem Personenkreis.

Als Chantal das Maison du Plaisir betrat, kam Lacroix mit seinem anbiedernden Augenaufschlag auf sie zu und begrüßte sie mit zwei Wangenküssen.

»Bonsoir, Chantal. Schön dich zu sehen.«

Widerwillig ließ sie es geschehen und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Obwohl sie diesen devoten Wirt bis in die Haarspitzen verachtete, musste sie das Spiel mitspielen. Es war Teil ihres Jobs. Dieses skrupellose Arschloch tat alles, um den Deutschen zu gefallen. Schon als sie das Restaurant vor einigen Wochen zum ersten Mal aufgesucht hatte, erfasste sie das blanke Entsetzen. Die bierselige Atmosphäre eines Schützenfestes mit deutschen Schlagern und Volksmusik hatte sie in einem Pariser Gourmet-Restaurant nicht erwartet. Fast wäre sie auf dem Absatz wieder umgekehrt. Lacroix tat alles, um seinen Gästen einen angenehmen Abend zu bereiten. Er war ein schlauer Hund und hatte ein Gespür für gute Geschäfte. Es reichte ihm nicht, seinen immer zahlreicher werdenden deutschen Gästen das Leben in Paris mit auserlesenen Weinen, Speisen und - auch hier war ihm nichts peinlich genug - deutscher Blasmusik zu versüßen. Geschäftstüchtig, wie er war, hatte er schnell herausgefunden, was die hart arbeitenden deutschen Männer im Ausland noch mehr zu schätzen wissen, als gutes Essen: attraktive Frauen. Da waren sie nicht anders als Italiener, Amerikaner oder selbst Franzosen. Es war eine Win-win-Situation. Die Deutschen konnten für ein paar Stunden einen anregenden Abend genießen und viele hübsche Französinnen ließen sich in dieser enthaltsamen Zeit nicht zweimal bitten, einen Abend auf Kosten des Hauses. oder besser gesagt, der Deutschen zu verbringen. Ein kleiner Fehler hatte sich allerdings in Lacroixs Kalkulation eingeschlichen, dessen Auswirkungen weniger ihn, sondern vor allem die Deutschen traf. Denn auch die Pariser Widerstandsorganisation Liberation Nord war auf diese Amüsements aufmerksam geworden und rekrutierte attraktive Résistance-Aktivistinnen, um sie in diesen edlen Kreis von Besatzern und Kollaborateuren einzuschleusen. Wie konnte man besser an Informationen herankommen, als bei erotisch aufgeladenen Smalltalks mit viel Alkohol?

Chantal konnte sich noch genau an den Sonntagnachmittag vor fast drei Monaten erinnern, als Florence sie zum Kaffee eingeladen hatte. Sie hatten sich eine Zeit lang über belanglose Dinge unterhalten, doch schon bald ging es um die Aktivitäten der Widerstandsgruppe. Irgendwann hatte Florence sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, Informationen direkt von den Deutschen abzuschöpfen. Auf Chantals entsetzten Blick hin erklärte sie ihr, was sie damit meinte. Chantal musste schlucken, sie fröstelte plötzlich. Eine Edelhure? Bei den Boches! Niemals, war ihr spontaner Gedanke. Alles würde sie tun, es gab eine Reihe gefährlicher Jobs im Widerstand, aber niemals mit einem Deutschen ins Bett gehen. Florence hatte ihr aschfahles, versteinertes Gesicht registriert und war an sie herangerückt.

»Es ist nicht so, wie du denkst, Chantal«, versuchte sie sie zu beruhigen, »ich weiß, was dir gerade durch den Kopf geht.« Florence legte ihr den Arm um die Schulter.

»Ja, es geht um Informationen, die wir den Boches entlocken wollen und attraktiven Frauen fressen sie nun mal aus der Hand. Aber du alleine entscheidest, wie weit du gehst. Wenn du etwas erfahren willst, brauchst du dafür nicht mit irgendeinem Fettsack ins Bett gehen. Meistens reichen schon ein paar Andeutungen und Herren geben alles angesichts eines erotischen Abenteuers preis.« Florence begann zu schmunzeln. »Ich bin leider zu alt für diesen Job und sehe auch nicht gut genug aus. Das ist nur etwas für Frauen wie dich.«

Chantal fühlte sich geschmeichelt. Florence gab ihr ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken. Am Ende willigte sie ein.

Lacroix führte Chantal zu einem Platz an der Bar. »Wie immer einen Pernod, meine Liebe?«

»Bitte erst einmal nur ein Glas Perrier, Gilbert.«

Nachdem Lacroix verschwunden war, ließ Chantal den Blick durch den großen, gut gefüllten Raum schweifen. Wie schon bei ihrem ersten Besuch vor einigen Wochen, war sie von den stilvollen Möbeln aus dem letzten Jahrhundert fasziniert. Ebenso von den raffinierten Arrangements auf den mit weißen Tischtüchern gedeckten Tischen, den verspielten, glitzernden Kronleuchtern. An den dunkelgrünen Wänden hatte Lacroix Aquarelle von Raoul Dufy platziert, der hier selbst ein paar Mal zu Gast gewesen sein soll. Und dazu deutsche Volksmusik! Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Es war schließlich ein Pariser Gourmet-Restaurant.

Chantal schlug die Beine übereinander, holte ihren Schminkspiegel aus der Handtasche und prüfte ihr Make-up. Über den Spiegelrand hinweg taxierte sie die Anwesenden. Frauen im Smalltalk mit gestriegelten Herren. Allesamt attraktiv, das musste sie zugeben. Gesellschaftsdamen, wie sie selbst und doch unterschied sich ihre Mission von denen ihrer »Kolleginnen« sehr deutlich. Oder gab es vielleicht außer ihr noch andere Résistance-Aktivistinnen in diesem Kreis? Florence hatte angedeutet, dass sie nicht die Einzige wäre. Sie musste schmunzeln. Die Stimmung war ebenso aufgeladen wie an den Abenden zuvor und dies, obwohl es auch den Besatzern in Frankreich zunehmend schlechter ging. Man soff sich das Leben schön. War das Endzeitstimmung?

»Verzeihen Sie Mademoiselle, darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Eine sonore Männerstimme, akzeptables Französisch mit deutschem Akzent. Sie klappte den Schminkspiegel zu, wandte sich zur Seite und blickte in ein blasses, glattrasiertes Gesicht, in dem zwei hellblaue Augen unsicher blinzelten.

»Aber gerne.« Ihre routinierte Antwort war mehr ein Reflex, denn ein Wunsch. Deswegen bin ich hier, sagte sie sich und setzte ein Lächeln auf. Der Deutsche stellte sein Rotweinglas auf den Tresen, rutschte auf den Barhocker und musterte sie. Die kleinen Falten an den äußeren Augenpartien und der Nasenwurzel deuteten an, dass er doch nicht mehr ganz so jung war, wie sie im ersten Moment angenommen hatte. Sein scharf gezogener Seitenscheitel, der sein dunkelblondes Haar teilte, wie die Seiten eines Buches, hatte etwas Bedrohliches.

»Vielen Dank, Mademoiselle«, begann er und nestelte mit einer Hand an seiner dunkelblauen Seidenkrawatte herum. »Sie sind mir sofort aufgefallen, als Sie das Restaurant betraten.«

»Ach, wirklich? Vielen Dank für das Kompliment.«

In Zivil, wie die meisten hier. Ein höheres Tier, überlegte sie. Die unteren Ränge der Deutschen, so erfuhr sie vor ein paar Wochen, mussten auch in der Freizeit Uniformen tragen.

»Darf ich mich vorstellen, Mademoiselle? Mein Name ist Stading, Werner Stading.«

»Angenehm. Chantal Verhoeven.«

Stading hob die Augenbrauen. »Sie sind Holländerin?«

»Wie man's nimmt. Ich bin in den Niederlanden geboren und aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Amersfoort, wenn Ihnen das etwas sagt.«

»Amersfoort?« Stadings Augen begannen urplötzlich zu leuchten. »Aber natürlich! Ich kann es kaum glauben. Nicht einmal hundert Kilometer von meiner Heimat entfernt! Ich komme nämlich aus Kleve. Müssten Sie auch kennen. Direkt an der Grenze. Mit dem Fahrrad eine halbe Stunde. Wir können uns übrigens gerne auch auf Holländisch unterhalten.«

Chantal erschrak. Daran hatten sie nicht gedacht! Ihre holländische Legende hatten sie gewählt, weil ihr Französisch sehr gut, aber nicht akzentfrei war und ihre deutsche Herkunft größere Probleme aufwerfen könnte. Jetzt schien gerade diese Legende zum Problem zu werden, denn sie sprach kein Wort Holländisch!

»Oh, ich habe Holländisch fast verlernt«, entgegnete sie betont ruhig und hoffte, dass er ihre Verunsicherung und ihr rasendes Herz nicht registrierte. »Ich habe in Holland nur meine ersten Lebensjahre verbracht und alle Brücken in meine Heimat abgebrochen, als meine französische Mutter meinen Vater verließ und mit mir nach Bourges zog. Wir müssen leider beim Französisch bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Stading zu entgegnen, »das verstehe ich vollkommen. Entschuldigen Sie bitte, ich hätte gar nicht davon anfangen sollen.«

»Ach was, keine Ursache. Sie können ja nichts dafür. Mein Name und mein Akzent werfen manchmal Fragen auf, daran habe ich mich schon gewöhnt. Ihr Französisch ist übrigens ausgesprochen gut.«

»Oh, vielen Dank.« Stading wirkte geschmeichelt. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?«, fragte er nach einer Pause und einem knappen Blick auf ihr Glas Perrier. »Einen Wein oder vielleicht ein Glas Champagner?«

»Gerne. Gegen ein Glas Weißwein hätte ich nichts einzuwenden. Der Hauswein ist übrigens her-vorragend.«

Stading nickte, suchte den Blickkontakt zu einem der Kellner, der sofort erschien und die Bestellung aufnahm.

»Was führt Sie in dieses Restaurant, Mademoiselle? Ich meine, Sie sind hier ja nicht gerade von Freunden umgeben.« Ein angedeutetes Grinsen huschte auf sein Gesicht.

»Wissen Sie, ich kenne den Besitzer Monsieur Lacroix ganz gut und seit mein Mann gefallen ist, bringt es mich hier auf andere Gedanken.«

»Oh, das tut mir leid, Mademoiselle Verhoeven, ich meine das mit ihrem Mann. Es sind wirklich keine schönen Zeiten.« Sichtlich verlegen nippte Stading an seinem Rotweinglas.

Nachdem der Kellner den Wein gebracht hatte, erzählte Chantal von sich. Ihre Legende, die sie zusammen mit Florence und Bernard entworfen hatte, war ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Der Deutsche hörte interessiert zu.

»Ein wirklich interessanter Lebensweg«, bemerkte er, nachdem Chantal geendet hatte, »da kann ich kaum mithalten.«

Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche seines Jacketts.

»Rauchen Sie?«

»Nein, danke.«

»Aber ich darf doch?«

Chantal nickte auffordernd. Stading fischte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie sich an. Dann legte er den Kopf in den Nacken, während er den ersten Rauch gegen die Decke blies.

»Ich weiß nicht, wie Sie zu der Besatzung stehen«, begann er zögernd, während er nachdenklich auf seine glimmende Zigarette blickte. as mich angeht, muss ich sagen, dass ich mich um diesen Einsatz in Frankreich nicht gedrängelt habe. Im Gegenteil, ich verabscheue das alles, was hier passiert.« Chantal fragte sich, warum er ihr das erzählte? War er der einzige Unschuldige unter den vielen Boches hier in Frankreich? Wollte er ihr schmeicheln?

 

»Ich bin aufgrund meiner Französischkenntnisse hier in Paris gelandet«, fuhr Stading fort, »und nicht in Warschau oder noch weiter im Osten. Insofern hatte ich enormes Glück gehabt.« Er musterte sie unsicher und trank einen Schluck von seinem Rotwein.

»Und trotzdem sehne ich den Tag herbei, an dem ich Paris wieder verlassen kann.«

Ihr fragender Blick veranlasste ihn, ein wenig auszuholen und von seinem Leben zu erzählen. Von seinem beschaulichen, aber wohl langweiligen Heimatort Kleve, den er auch mit 22 Jahren in Richtung Düsseldorf verlassen hatte, von seiner Frau, die er dort kennenlernte und die vor knapp zwei Jahren mit einem anderen Mann durchgebrannt war und von seinen Eltern, die ihn in eine Offizierskarriere gedrängt hatten, obwohl er viel lieber Tierarzt geworden wäre.

»Aber hier in Paris geht es Ihnen doch gut«, bemerkte Chantal. »Theater, Kinos, Restaurants. Im Gegensatz zur Pariser Bevölkerung, die sich kaum noch etwas leisten kann, mangelt es Ihnen doch an nichts, oder?«

Stading hustete und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Das ist richtig und ich will auch gar nicht leugnen, dass man hier als Deutscher sehr gut über die Runden kommen kann, aber es ist für mich eine befremdliche Situation, vielleicht gerade deswegen. Diese irreale Konstellation, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, schadet letztendlich allen, den Franzosen ebenso wie den Deutschen.«

»Da kann Ihnen nur zustimmen«, sagte Chantal, überrascht über die Offenheit ihres Gegenübers. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger den Rand ihres Weinglases ab. Sie war irritiert. Dieser Mann schien kein Fall für sie zu sein. Sie hatte sich auf die typische Besatzerattitüde eingestellt, der sie in den letzten Wochen ständig ausgesetzt war. Den zur Schau gestellten Chauvinismus, die Selbstherrlichkeit, mit der die Boches die Besetzung Frankreichs zu rechtfertigen suchten. Arrogant und herablassend. Sie musste unwillkürlich an ihren Vater denken. An die Feier zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Der Abend hatte nachhaltige Spuren bei ihr hinterlassen und dafür gesorgt, dass das schon zuvor äußerst angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern an diesem Tag vollkommen zerbrach. Noch heute hörte sie ihren Vater über die Juden poltern. In seinen Augen waren es alles Verschwörer, eine das deutsche Volk bedrohende Rasse, die es galt, vom deutschen Boden zu eliminieren. Das war sein Credo, dafür hatte er sich dieser Bewegung verschrieben. Der Eintritt in die NSDAP, noch vor der Machtübernahme, wie er niemals vergaß zu betonen, war sein erster Schritt, der sie nachdenklich machte. Es war der Startschuss zu einer stetig aufwärts führenden Karriere im braunen Reich des verhinderten Kunstmalers aus Niederösterreich. Am Ende hatte ihr Vater eine angesehene Position in der Dienststelle Ribbentrop inne. Als er auf der Feier seinen Dienstherren abschätzig als arroganten, nicht besonders intelligenten Sekthändler bezeichnete und gleichzeitig mit stolzgeschwellter Brust Fotos herumreichte, die ihn Seite an Seite mit dem neuen Reichsaußenminister zeigten, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und musste den Raum verlassen. Dabei teilte sie ihres Vaters Einschätzung über diesen Karrierepolitiker voll und ganz, Entsetzen löste bei ihr die anbiedernde Haltung ihres Vaters den Nationalsozialisten gegenüber aus. Sie hatte ihn nicht mehr wiedererkannt. Das liebevolle Familienoberhaupt, das mit ihr im Garten spielte, an den Sommerwochenenden mit der Familie zum Baden an die Krumme Lanke oder in den Zoologischen Garten fuhr, immer verbunden mit einer großen Portion Eis und einem Glas Limonade. Was war mit dem angesehenen Rechtsanwalt, der bald seine gutgehende Kanzlei einer Nazi-Karriere opferte, passiert? Sie konnte es sich lange nicht erklären.

Nachdem er seinen neuen Dienst angetreten hatte, war er nur noch für diese sogenannte Bewegung da und Abend für Abend nach dem Essen in sein Arbeitszimmer verschwunden, wo er sich bald auch an den Wochenenden verschanzte. Gleichzeitig hatte sie die Veränderungen ihrer Mutter registriert. Mit einer erstaunlichen Hingabe war sie in die Rolle geschlüpft, die die Nazis den Frauen zugedacht hatten: ihrem Mann zu jeder Zeit die Beine zu spreizen, um dem deutschen Volk möglichst viel blonden und blauäugigen Nachwuchs für die großen Aufgaben der Zukunft bereitzustellen und ihn von den lästigen Pflichten im Haushalt zu entlasten. Getreu dem Vorbild und den Predigten der Reichfrauenführerin Scholz-Klink. Bildung und eine eigene berufliche Karriere waren in dieser nationalsozialistischen Lebensgemeinschaft für Frauen nicht vorgesehen. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle Verhoeven, Sie wirken etwas ... nachdenklich«, hörte sie Stadings Stimme und zuckte zusammen.

»Oh, verzeihen Sie, ich war tatsächlich etwas weggetreten. Habe beim Einkauf heute Nachmittag etwas vergessen.«

»Dann sollten Sie hier am Buffet zuschlagen, damit es über das Wochenende reicht.« Stading grunzte durch die Nase. Chantal sah sich genötigt, mit zulächeln.

»In welcher Funktion sind Sie hier in Paris?«, fragte sie, um das Gespräch wieder in Fahrt zu bringen, »oder dürfen Sie das nicht verraten?«

Stading räusperte sich. »Doch, doch. Wenn ich Ihnen sage, was ich hier mache, ist das ja noch kein Geheimnis. Ich sitze beim Oberbefehlshaber West im Planungsstab für den Atlantikwall.«

Chantal schluckte. Sie hatte von den mächtigen Befestigungsanlagen gehört, die die Deutschen von Norwegen bis zur Biskaya errichten, um eine Landung der Alliierten zu verhindern. Diese Irren!

»Aber es läuft nicht so, wie es laufen sollte«, fuhr er fort und Chantal registrierte seinen verächtlichen Blick. »Von Rundstedt kriegt das nicht mehr alleine hin. Das wird so nichts.«

Chantal sah ihn fragend an.

»Ja, das sind Dinge, die Sie nicht verstehen können«, fuhr er fort, als er ihren Gesichtsausdruck registrierte. »Einfach ausgedrückt: Wir liegen nicht im Soll! Im Amt ist durchgesickert, dass Rommel die Sache in die Hände nehmen wird. Man munkelt, dass unser Wüstenfuchs schon in der Bretagne ist, aber das ist alles offiziell noch nicht bestätigt.« Er hielt inne, dann lachte er kurz auf. »Was erzähle ich da eigentlich? Ich weiß gar nicht, ob Sie so etwas überhaupt interessiert?«

»Oh doch, ich finde das total spannend.«

An einem der nahen Tische hatte sich eine Gruppe von Deutschen aufgebaut und ließ sich von einem Kellner fotografieren. Sie grinsten wie Spanferkel in die Kamera. Die Stimmung lief dem Höhepunkt entgegen und der Alkohol begann hier und da seine fatale Wirkung zu zeigen. Abgestoßen von der Wirtshausatmosphäre wandte Chantal sich wieder Stading zu, der näher an sie herangerückte war.

»Wissen Sie was ich glaube?«, begann Stading und hielt inne. Chantal sah ihn fragend an.

»Alles, was wir da oben an der Küste machen, ist für die Katz«, fuhr er fort. »Die Alliierten stehen auf dem Sprung. Es dauert nicht mehr lange, dann sind die in Frankreich gelandet. Ich gebe uns noch ein paar wenige Monate, um ehrlich zu sein. Dann ist Schluss mit Besatzung.«

Chantal schluckte. Sie konnte ihr Erstaunen kaum verbergen. Aus dem Mund eines Deutschen waren diese Sätze ungeheuerlich. Anzeichen einer inneren Kapitulation! Defätismus! Nebenan wurde es immer lauter. Lacroix hatte die Musik gewechselt. Lale Andersens Stimme erfüllte den Saal.

»Das könnte übrigens Ärger geben«, bemerkte Stading und nickte in den Raum. »Lilli Marleen ist in Deutschland verboten, aber das scheint hier auch keine Rolle mehr zu spielen ... wo war ich stehengeblieben? Ach so, wir haben natürlich keinen Schimmer, wo die Alliierten landen werden. Klar, irgendwo zwischen Dünkirchen und Brest. Das sind aber an die tausend Kilometer Küstenlinie.« Er lachte trocken auf. »Der absolute Wahnsinn! Alle gehen davon aus, dass sie bei Calais kommen werden, aber ich bin mir da nicht so sicher.« Stadings Augen flackerten. Er blickte noch einmal prüfend zur Seite, aber die Deutschen waren mit sich selbst beschäftigt und kaum noch in der Lage, um sich herum etwas wahrzunehmen.