Der Erzähler Rudolf Steiner

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Ort und Eigenart dieser Studien



Bei allem Anspruch auf eine systematische Ergründung der Themen sind die folgenden Studien in erster Linie Essays. Die systematische Ordnung der Textsammlung, die gleichwohl besteht, hat sich schlicht sachgemäß durch das Verfolgen der Fragestellungen ergeben. Die Studien sind um gründliche Recherche bemüht, in systematischer Hinsicht aber nicht an Vollständigkeit oder geschlossener Darstellung orientiert. Ihr Weg ist nicht immer linear, dafür aber wohl wendig und anregend, denn Seitenblicke oder historische Nahperspektiven erschließen nicht selten mehr und anderes als der zielorientierte Blick in die Ferne oder nur geradeaus. Mir geht es um einen engagierten, wachen, sich wandelnden und im Habitus freien Umgang mit Steiners Werk, der tatsächlich am wissenschaftlichen Diskurs (wie immer er im Einzelnen aussieht) teilnehmen will, von ihm angeregt wird, aber auch mit der Hoffnung auf Rückfluss verbleibt.



Eine Vorableserin dieses Buches kommentierte, dass es sich doch wohl eher um Antipasti denn um ein solides Vollwertgericht handle. Damit muss ich wohl leben. Aber es gefällt mir. Antipasti sind vielfältig und sie regen an. Sie schließen auf für neue Aromen und Geschmacksnuancen und bieten gelegentlich eine Überraschung. Sie eröffnen den Appetit und schließen den Genuss nicht ab. Und sie wirken leicht. Das mag vielleicht helfen, auf der anderen Seite die Disziplin aufzubringen, es auszuhalten, wenn sich aufwerfende Fragen nicht beantwortet werden (können) und die Arbeit trotzdem weitergeht, vielleicht nur an anderer Stelle.



Der Weg dieser Studien weist in zwei Richtungen. Die eine wendet sich an die Kritiker und skeptisch Neugierigen, welchen ich vorschlage, die Maßstäbe ihrer Kritik oder Vorbehalte zu überdenken. Die andere an die engagierten Vertreterinnen und Vertreter der Anthroposophie, die sich die Gesichtspunkte und Grundlagen ihres Engagements auf dem Hintergrund aktueller akademischer Horizonte auffrischen mögen. Stehen auf der einen Seite Aufräumarbeiten im eigenen Haus an, werden auf der anderen Seite akademische Anschlussmöglichkeiten sichtbar gemacht. Beide Richtungen treffen sich in der Frage: Auf welcher Grundlage ist Kritik am Werk Steiners möglich, ohne dabei das dafür nötige Verständnis zu verschenken?



Die mittlerweile geläufige Unterscheidung zwischen einer Steiner scheinbar verklärenden »Binnenperspektive« und einer einzig zum unabhängigen Urteil fähigen »Außenperspektive« bleibt oberflächlich und unscharf. Vermag ein Blick auf die Binnenperspektive einzig eine lebenspraktische Nähe zum Werk Steiners zu bezeichnen, die im Zweifelsfall für den Angeklagten votiert, ist der Blick aus der Außenperspektive, der in der Kritik nichts zu verlieren hätte, nicht deshalb schon unabhängig und kompetent. Die eigentlich für das Verstehen des Werks Steiners relevante Unterscheidung ist nicht die soziologische zwischen »Innen« und »Außen«, zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Es ist vielmehr die Unterscheidung zwischen einer aktiven Nähe des Verstehen-Wollens und der selbstverantworteten Distanz eigenen Urteils, sogar wechselweise in einer Person. Für diese Unterscheidung, die immer eine dynamische ist und die Fähigkeit zum Standort- und Perspektivwechsel mit einschließt, nehme ich in diesem Buch einige Präzisierungen vor. Für die daran Interessierten ist dieses Buch gedacht.



Der Ausdruck »das Werk Rudolf Steiners«, den ich gerne verwende, schließt Missverständnisse, Irrtümer und Fehler im Werk und dessen Überlieferung mit ein. Gut ist, wenn wir uns darüber im Klaren sind. Der Ausdruck schließt ebenso »Kontingenz« mit ein. Damit meine ich zum Beispiel das Fragwürdige

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 aber auch die bemessbare Verlässlichkeit der Ausgabe seiner Werke, die zum größten Teil gar keine Schriften sind, sondern frei gesprochenes ephemeres Wort in verschriftlichter Form, die Architektur sind und soziale Kunst und Handlungskonzepte bergen sowie Selbstformung fordern. Da wir Steiners Werk in erster Linie aber in Form von Texten rezipieren und es weitgehend diese Texte sind, die uns den Zugang ermöglichen, sehe ich die Gesamtausgabe seiner Schriften selbstverständlich als Teil von Steiners Werk an, bei aller denkbaren Ungenauigkeit. Im Einzelnen ist zu differenzieren. Wenn eine starke Deutung von einer Textstelle abhängt, ist es ratsam, sich über deren Überlieferung und Authentizität im Klaren zu werden, dichte Beschreibung zu aktivieren oder schlicht eine Interpretation investigativ zu riskieren. Ansonsten ist eine gewisse Unschärfe überlieferter Worte einkalkuliert. Natürlich ist die Gesamtausgabe seiner Schriften nicht Steiners Werk, sondern das Werk derjenigen, die sie zustande gebracht haben. Aber eben das umgreift Steiners Werk, das mehr ist, als das Werk einer Einzelperson. Im Übrigen verweise ich, was das Verhältnis der Ausdrücke »das Werk Rudolf Steiners« und »Anthroposophie« angeht, auf den »Epilog« des Kapitels »Das Performative als ursprüngliche Dimension der Anthroposophie«.







Dekonstruktion des Dogmas



»Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist.«



»Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, dass es der Philosophie doch möglich sei; dass der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivität, an der sie krankt. Sonst muss sie kapitulieren und mit ihr aller Geist.«



Theodor W. Adorno

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Die Ausdrücke »Dogma« oder »dogmatisch« gehören zu den Reizwörtern in anthroposophischen Kreisen. Steiners Darstellungen, so der Konsens, seien keineswegs als »Dogmen« im Sinne unverrückbarer Meinungen oder Lehren zu verstehen. Und als »dogmatisch« eher verpönt gelten Ansichten oder Überzeugungen, die nicht aus eigenem Erleben oder eigener Erfahrung stammen, sondern unbeweglich und intolerant vertreten werden. Ist der Anspruch, undogmatisch zu sein, im Kern ein anthroposophischer, so begegnet gegenläufig dazu doch wiederkehrend der Vorwurf, es würde »gläubig« oder dogmatisch am Wort Steiners festgehalten.

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 Schlägt eine antidogmatische Einstellung hier um in Dogmatismus? Wie dem konkret auch sei, es gilt: Antidogmatismus als Programm schützt vor dogmatischen Verfestigungen keineswegs. Aber: Worin liegt der Reiz antidogmatischer Einstellungen und warum sind sie immer in Gefahr zu scheitern?



Im Folgenden möchte ich – auf dem Hintergrund dieser prekären Situation – mit einigen Momentaufnahmen aus der Entstehungszeit der Steiner‘schen Theosophie zeigen, dass den jeweiligen »Dogmen« im Sinn von Lehrdarstellungen eine in sich widersprüchliche Funktion innewohnt: Sie sollen akzeptiert, aber auch wiederum nicht akzeptiert werden. Verbindet sich mit dieser ambivalenten Forderung gar ein systematischer Sinn und wenn ja, welcher? Im Anschluss an die Erörterung dieser Frage schlage ich drei hermeneutische Regeln vor, die Steiners vorliegendem Werk aus einem mittlerweile in Jahresringen fortschreitenden hundertjährigen Abstand und unter Einbeziehung einer historisch-kritischen Perspektive gerecht werden sollen. Ich beginne indessen, als Ausgangspunkt, mit einer Begriffsbestimmung in drei Schritten, die in ein Gravitationszentrum des Steiner’schen Denkens, Kant und den Deutschen Idealismus, hineinführen.





Erste Differenzierungen: begriffliche, symbolische und narrative Form



Als Steiner nach 1900 seine Aufgaben als Kulturredakteur und philosophischer Schriftsteller mit der des Vortragsredners, Lehrers und Generalsekretärs der Theosophischen Gesellschaft tauscht, bedeutet das auch einen Wechsel in der Ausdrucksweise. War diese bislang vorwiegend begrifflich-kritisch gewesen, so ziehen mit den Lehrinhalten der angelsächsischen Theosophie zunehmend Ausdrücke und Themen in seine Darstellungen ein, die traditionell eher der Religion oder der Mythologie entstammen und einen vorwiegend bildlich-affirmativen Charakter haben. Im Unterschied zur begrifflichen Weitergabe »auf Augenhöhe« gelten letztere, wenn nicht als pure Traditionen, so doch als Offenbarungen oder Glaubensinhalte, die gewissermaßen »asymmetrisch« rezipiert, also auf Autorität hin geglaubt, nicht gedacht werden.

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Gleichwohl ist hier zu beachten, dass spezifisch theosophische Inhalte wie die Wesensgliederlehre, die Hierarchien- oder die planetarische Weltentwicklungslehre zwar symbolische oder theologische/esoterische Ausdrucksformen und Themen wie Engel oder (esoterisch verstandene) Planeten verwenden, aber ihrem Gehalt nach begrifflich gedacht werden sollen. Steiner hört nach 1900 nicht auf zu denken. Der theosophische löst den philosophischen Steiner nicht einfach ab, sondern beide durchdringen, überblenden sich. Steiner lässt seine philosophischen Ansprüche keinesfalls hinter sich, sondern weitet sie auf neue Inhalte aus, die mythischer oder religiöser Herkunft sind und oft mit symbolischer Ausdrucksweise einhergehen.



Des Weiteren muss im Feld der Steiner’schen Aussagen differenziert werden: Manche Passagen oder Gruppen seines theosophischen Werks sind vorwiegend begrifflich-symbolisch strukturiert wie seine Schrift »Geheimwissenschaft im Umriss« oder viele »Esoterische Stunden«.

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 Andere wiederum sind in der Darstellung vorwiegend narrativ gehalten und setzen stärker auf die erzählten Inhalte, weniger auf begriffliche Dynamik und Kohärenz. Die Aufsatzfolge »Aus der Akasha-Chronik« (GA 11) aus der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« mit der signifikanten, weitgehend aus der Literatur referierenden Schilderung »atlantischer Flugzeuge« ist dafür ein prominentes Beispiel.

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 An solchen Stellen ist das Symbolische oder Bildhafte der Form, wenn man so will, vorwiegend narrativ, kaum noch begrifflich. Es ist also auch kaum in sich begrifflich nachvollziehbar und in der Bewertung eher vom autoritativen Status des Erzählers abhängig als von der Frage: Habe ich Gründe, (einer Person, einem Text, einer Aussage, einer Institution) zu glauben, oder eher nicht?

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Dogma und Kritik



An dieser Stelle gewinnt das problematisch verstandene Wort des Dogmas seine Bedeutung und zwar zunächst im Sinne einer persönlichen Haltung. Dogmatisch bin ich dann eingestellt, wenn ich auf Autorität hin glaube, nicht aber eigenständig denke. Auf Autorität hin zu glauben impliziert bereits meine Zustimmung. Eigenständig und kritisch zu denken würde aber Zustimmung oder Ablehnung zunächst offenlassen. Zwischen Aussage und Zustimmung besteht keine Kontinuität, sondern ein Bruch, der Offenheit anzeigt. Genau diese Offenheit ist interessanterweise in der philosophischen Begriffsgeschichte des Wortes »Dogma« anfangs zu finden. Seiner Herkunft nach beinhaltet das Wort nämlich einen Doppelsinn, den zwischen einer Meinung einerseits und dem Dafürhalten oder Geltendmachen dieser Meinung andererseits.

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 Während sich der eine Bedeutungsaspekt auf den Inhalt einer Meinung richtet, geht der andere auf die Geltung des Gemeinten oder den Akt der Zustimmung. In der Begriffsgeschichte, insbesondere in der heutigen Alltagsverwendung des Wortes, hat sich der zweite Aspekt verselbstständigt: Dogma ist, was unbedingte Geltung beansprucht. Demgegenüber ist an den vergessenen Bedeutungsaspekt einer neutralen »bloßen« Meinung oder neutraler Aussagen zu erinnern.



Philosophiehistorisch bekommt das Wortpaar »Dogma – dogmatisch« mit Kants kritischer Wende ein besonderes Gewicht. Damit nämlich verabschiedet Kant sich in einem Gestus der »Aufklärung« von alten dogmatischen, d. h. ungeprüften Überzeugungen und vergleicht diesen Vorgang rückblickend mit dem Prozess des Erwachens aus »dogmatischem Schlummer«.

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 Einerseits beschreibt Kant mit seinen Überlegungen zu einer schlummernddogmatischen Haltung und dem Aufwachen durch Kritik eine, nämlich seine historische Situation. Aber gleichwohl beinhaltet das Moment der Aufklärung eine prinzipielle, wohl immer geltende Situation. Denn insofern wir im Prinzip jederzeit zu neuen Einsichten »erwachen« können, sind wir, potenziell auch immer von dogmatischen Überzeugungen umgeben, deren dogmatischen Charakter wir allerdings erst dann bemerken, wenn wir eine kritische Prüfungen, einen Moment des Erwachens, vollziehen und ihn als solchen erkennen.

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 Insofern steht das denkerische, aufklärerische, kritische Wachwerden der dogmatischen, unhinterfragten, bloß geglaubten Meinung gegenüber. Dogma ist das Gegenteil von Kritik.



Aber bei Kant hat das Wort keine bloß pejorative Funktion. Viel mehr noch ist es Terminus für eine philosophische Methode, die nicht von der Sinneserfahrung ausgeht, sondern von nicht-sinnlichen Begriffen und deren Beziehungen.

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 Kant vergleicht die dogmatische Methode insofern mit der Mathematik, setzt sie aber nicht mit ihr gleich. Für unseren Zusammenhang heißt das: Ein dogmatisches Verfahren in »reinen« Begriffen kann sehr wohl kritisch und selbstverantwortet sein.





Selbstverantwortung und dogmatische Methode



Im Anschluss an Kant führt Fichte aus, dass es überhaupt nur zwei philosophische Systeme gebe, das dogmatische und das kritische. Das kritische sei dem dogmatischen darin überlegen, dass es dem Ich nicht »völlig willkürlich« einen Begriff des Dinges »als de(n) schlechthin höchste(n)« entgegensetze, sondern vom Ich als dem kritischen Prinzip einer selbstverantworteten Philosophie ausgehe.

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 Die Verantwortung des Denkens also, eine Selbstverständlichkeit, liegt beim denkenden Ich, nicht beim gedachten Ding oder Satz. Im Anschluss wiederum an Fichte bringt Schelling diesen Gedanken in Fluss, wenn er als einen Dogmatiker denjenigen bestimmt, »der alles als ursprünglich außer uns vorhanden (und nicht als aus uns werdend und entspringend) voraussetzt«

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 und bestimmt damit umgekehrt als eine kritische Philosophie diejenige, die auf das Werden und Entspringen des Denkens in uns achtet und dem systematisch den gebührenden Stellenwert zuweist.



So können wir als Dogma etwas uns von außen Gegebenes (etwas Gesagtes, eine Behauptung, eine Sinneswahrnehmung, eine Offenbarung etc.) verstehen, als Dogmatismus die Absolutsetzung dieses Gegebenen »ohne Einsicht in die Welt, der die Behauptungen entspringen«,

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 welche bei Schelling wie bei Steiner im eigenen Denken zu finden ist. In dieser Konstellation verweist ein Dogma als etwas Vorhandenes immer zurück bzw. weiter auf eine Prozessualität des Werdens und Entspringens, die aber im »Inneren« – und das heißt auch: selbstverantwortet – zu finden ist. Das Verhältnis von Dogma und Kritik entspricht damit auch der Qualität von Gewordenem und Werdendem. Des Weiteren können in diesem Kontext als Dogmen alle Begriffe verstanden werden, die nicht sinnesbezogen sind. Und: Auf Dogmen können wir – auf diesem allgemeinen begrifflichen Niveau – genauso wenig verzichten wie auf vieles andere, was uns von außen zukommt. Wichtig aber bleibt im Sinn der idealistischen Philosophie der Verweis auf den inneren Vollzug und die Fundierungsordnung: das innere, tätige Werden und Entspringen hat Vorrang. – Als Dogmen im Sinne Steiners sind demgemäß nicht-sinnlich gemeinte begriffliche, symbolische oder narrative Aussagen zu verstehen. Nun scheint es aber Unterschiede zu geben, je nachdem, welche Ausdrucksform im Vordergrund steht.





Begriffssprache gegenüber »blindem Dogmenglauben«



Vom Januar bis zum Mai 1904 veröffentlicht Steiner in seiner theosophischen Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« Schriften aus dem Nachlass des Philosophen Paul Asmus (1843–1876), die er von dessen Schwester Martha Asmus (1844–1909) erhalten hatte.

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 Steiner war mit Martha Asmus gut befreundet. Beide nahmen Leitungsfunktionen im Giordano Bruno-Bund wahr und sie gehörte zu den wenigen, die Steiner auch nach jenem denkwürdigen kontroversen Vortrag, in dem er die scholastische Philosophie als Monismus darstellte – den Atheismus seines Umfeldes also mit der Philosophie der katholischen Kirche in Verbindung brachte – in Schutz nahmen.

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 Die Texte des idealistischen Philosophen Paul Asmus nun erschienen genau in dem Zeitraum in Steiners Haus-Zeitschrift, in dem er seine ersten theosophischen Vorträge zu esoterischen Themen wie »Atlantis« und »Akasha-Chronik« gehalten hatte und kurz bevor er darüber in der Zeitschrift in großen Teilen in narrativem Stil zu publizieren begann.



Steiner legte seinem theosophischen Publikum die Schriften dieses Philosophen sehr ans Herz, weil das von ihm praktizierte Denken nicht nur Grundlage spiritueller Erkenntnis sei, sondern vor allem auch zwei typische theosophische Gefahren vermeiden helfe:



»Solches Denken allein kann innere, selbstsichere Festigkeit und Forschergewissheit geben, die den Theosophen zwischen der Skylla einer nebelhaften Schwärmerei und der Charybdis eines blinden Dogmenglaubens hindurchleiten in die hellen Lichthallen der Weisheit« (GA 34, 492).



Mit dem hehren Pathos auf die bestimmt von allen Theosophen angestrebten »Lichthallen der Weisheit« verbindet sich der pragmatisch-aufklärerische Duktus Steiners, der an die eigenständige und selbstständige Erkenntnis appelliert, vor Gefahren der »nebelhaften Schwärmerei« und des »blinden Dogmenglaubens« warnt und eine bodenständige Arbeitshaltung empfiehlt:



»Heute fordert das Denken Bequemlichkeit, und zum Verstehen von Paul Asmus’ Ideen ist volle arbeitende Hingabe erforderlich. Doch der Theosoph weiß, dass nicht die Forschung sich nach dem Menschen, sondern der Mensch sich nach der Forschung zu richten habe, und dass nur volle Hingabe an ihre Forderungen zur Erkenntnis führen kann« (ebd., 489, Hervorhebungen im Original).



Steiner führt das abstrakte, kritische, begriffliche Denken sogar drastisch als eine notwendige Bedingung für Theosophie an:



»Wer dazu nicht gelangen kann, bleibt entweder in den Fesseln einer trüben Mystik hängen, ; oder aber er muss sich mit einem bloßen Glauben an die theosophischen Dogmen begnügen.« (ebd., 492, Hervorhebungen im Original)



Die »Forderung nach Erkenntnis« wird angesichts der ganz anders wirkenden Inhalte, die neben diesen philosophischen Texten noch in der Zeitschrift stehen, vor eine Probe gestellt. Wie verhält sie sich gegenüber »Mitteilungen« über »Unsere atlantischen Vorfahren«, die weitgehend narrativ gehalten sind und die um 1900 naturwissenschaftlich noch recht unscharf bekannte Vorgeschichte in einer ganz eigenen Bilderwelt und Terminologie vorstellen? Angesichts der publizistischen Vorgehensweise Steiners entsteht der Eindruck, begriffliche und narrative Darstellungsweisen sollen sich gegenseitig ergänzen oder »durchwachsen«. Steiner baut offenbar auf ein Wechselverhältnis.





»Wann wird das symbolische Gewand fallen?« (Martha Asmus)



Martha Asmus, die kritische Denkerin, hat Steiners Veröffentlichungen ab Juni 1904 wohl kaum noch verfolgt. Aber sie dankt ihm sehr bald (am 6. Februar 1904) lebhaft dafür, dass er sich ihres Bruders Werk in der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« angenommen hat. Und der Dank ist ihr Anlass, kritisch auf die Diskrepanz hinzuweisen, die ihr zwischen dem philosophischen Duktus ihres Bruders und dem übrigen Inhalt der Zeitschrift (vorwiegend aus Steiners Feder) auffällt. Es ist die symbolische Ausdrucksweise, an der sie sich stößt und die sie auch im Widerspruch zu dem sieht, was sie von Steiner sonst kennt. Sie erinnert an ein Gespräch, das sie beide während einer Bahnfahrt über die maßgeblichen Frauen der Theosophischen Gesellschaft, Elena Petrowna Blavatsky (1831–1891) und Annie Besant (1847–1933) gehabt hatten, in dem es um deren symbolische Ausdrucksweise gegangen war. Steiner hatte diese Ausdrucksweise nach Asmus’ Worten damals so erklärt, dass »diese Frauen alle solche Lehren, die gegen die Wissenschaft stritten … als Symbole ihrer Vernunft-Erlebnisse der Masse darböten, der die Mysterien nicht anders zugänglich werden können.«

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Symbolische Ausdrucksweisen wären demnach strenge Begriffe fürs Volk.

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 Dem widerspreche allerdings Steiners eigene Position, wie Asmus sie aus Vorträgen Steiners kannte, in der dieser unter anderem Buddha und Christus als »große Initiatoren« dargestellt hatte: »Danach war es die Mission dieser Initiatoren, die esoterischen Lehren den Exoterikern zu bringen und so die Weisheit unsymbolisiert zu verbreiten.«



Die Symbolisierung hat demnach etwas Verschleierndes, die unsymbolisierte Form einen aufklärerischen Duktus. Diesen vermisst Asmus aber jetzt bei Steiner, nachdem er sich offensichtlich der Linie von Blavatsky und Besant angeschlossen hat. Deshalb mündet ihr Brief in die beiden Fragen:



»Haben Ihr Denken und Ihre Lehre verschiedene Formen? Und wenn es so ist, wann wird das symbolische Gewand fallen?«



Die beiden Fragen formulieren in aller Deutlichkeit zwei Probleme bzw. eine innere Spannung, der sich Steiner offensichtlich in diesen Jahren nicht entziehen kann. Das eine ist, wie die starke und gezielte »Verbildlichung« (GA 28, 447) der Erkenntnis, die Steiner in jenen Jahren auf unterschiedlichen Ebenen vollzieht, im Verhältnis steht zum begrifflichen Denken. Es betrifft die symbolischen Formen der Darstellung, egal, ob sie nun auf ausgeprägte Metaphorik, Mythologie, figuratives Wissen oder performative Handlungen und Rituale zurückgreift. Das andere ist die Frage der autoritativen Geltung bei diesem Wissenstyp theosophischer Aussagen, zu denen eben auch die theosophischen Atlantis-Darstellungen gehören.



Die symbolischen Formen bei Blavatsky und Besant wertet Asmus negativ als eine Verschleierung, während sie Steiner als Möglichkeit oder Chance der Mitteilung an »die Masse« beim Gespräch im Bahnabteil angesehen haben wird. Formuliert Asmus einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen »Denken« und »symbolischem Gewand«, lässt sich Steiner auf deren Spannung wie auf einen immanenten Widerspruch, eine unvermeidbare Beziehung ein, die nur angemessen gehandhabt werden müsse. Wie Steiner an seiner Einschätzung von Goethes »Märchen« deutlich macht (GA 28, 391–393), gehört der bildhafte Ausdruck essenziell zur Darstellung esoterischer Themen. Aber er ersetzt das Denken in Begriffen nicht, verwandelt es allenfalls und setzt es immer voraus.

 



Das symbolische Gewand, so füge ich hinzu, kann nur durchsichtiger werden, aber nicht fallen, weil es mit seinem »Träger« eine Einheit bildet. Deshalb kann, um Martha Asmus’ treffende Frage zu modifizieren, das symbolische Gewand nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt fallen, es muss gewissermaßen permanent fallen. Es fällt immer dann, wenn die Figur in Bewegung ist. Es ist das Fallen des Kleides, die Bewegung der Falten, das Changieren des Stoffes, was die Erkenntnis ermöglicht, nicht aber das Gefallen-Sein. Nur der Moment des Fallens ist der der Erkenntnis. Und Erkenntnis wird, als Kultivierung des Fallens, zur Bewegungskunst, w