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4

»Ich denke, einen Raub können wir ausschließen«, konstatierte Krog.

Die Spurensicherung im Gebäude war weitgehend abgeschlossen. Krog begleitete Trevisan und Monika Sander bei der Tatortbegehung. Inzwischen war auch Thorke Oselich am Tatort eingetroffen. Die Leichen waren mit Tüchern abgedeckt und die Bestatter warteten geduldig auf dem Hof darauf, dass die Kriminalpolizei den Abtransport in die Gerichtsmedizin nach Oldenburg freigab.

Blut auf dem Boden, Blut an den Wänden, auf den Möbeln, sogar bis an die Decke war das Blut der Opfer gespritzt. »Absoluter Zerstörungswille«, murmelte Trevisan. »Zielstrebig und brutal.«

»Ein gnadenloser Overkill, ein klassischer Fall der Über­tötung«, bestätigte Krog. »Er hat sich nicht lange aufgehalten. Vier Menschen und dennoch hatten sie keine Chance. So wie es aussieht, hat er einfach nur zugeschlagen, mehrfach, ohne sich mit langen Reden aufzuhalten. Dieses Gemetzel dauerte kaum mehr als ein paar Minuten.«

Thorke Oselich schluckte. »Herr Trevisan, jetzt sind Sie kaum hier angekommen und schon passiert so etwas. Sagen Sie mir nur, was Sie brauchen – Material, Leute, ganz egal, diese Sache hat absolute Priorität, wir müssen diesen Irren dingfest machen.«

»Sexuelle Motive vielleicht?«, fragte Monika Sander.

Krog schüttelte den Kopf. »Zwar saß die Kleidung der jungen Frau im Bad nicht mehr ordentlich, sie trug ein Nachthemd und einen Slip, aber das liegt wohl eher an der Auseinandersetzung. Die Frau versuchte, durch das Badezimmerfenster zu entkommen, und der Täter zog sie an ihren Beinen zurück, ehe er sie erschlug. Deswegen würde ich dies eher verneinen.«

»Hass, grenzenloser Hass«, antwortete Trevisan. »Hass führt oft zur Übertötung.«

»Wir richten eine Sonderkommission ein und …«

»Ich denke, zunächst ist es wichtig, möglichst viel über die Toten herauszufinden«, fiel Trevisan seiner Chefin ins Wort. »Wie sie lebten, was sie taten, wem sie dermaßen auf die Füße getreten sind, dass sich der aufgestaute Hass in dieser Grausamkeit entlud. Meist stammen die Täter aus dem Umfeld.«

»Gibt es irgendwelche verwertbaren Spuren?«, fragte Thorke Oselich.

Krog schüttelte den Kopf. »Abdrücke von grobstolligem Profil, ich gehe von Gummistiefeln aus. Größe 44, würde ich sagen. Außerdem haben wir einen Plastikfetzen gefunden, deswegen nehmen wir an, dass der Täter ein Regencape trug. Weitere Spuren haben wir nicht, auch die Tatwaffen, ein Beil und ein Messer, fehlen noch, aber wir suchen derzeit die Umgebung mit Hunden ab.«

»Eike und Lisa befragen die Nachbarschaft, vielleicht hat jemand Beobachtungen gemacht«, erklärte Monika Sander.

»Die Ringfahndung steht«, fügte Trevisan hinzu. »Nur ist es schwer, gezielt nach jemandem zu suchen, wenn man so gut wie nichts über die Opfer weiß.«

»Sollte ein Profiler …«

Trevisan winkte ab und blickte auf seine Armbanduhr. »Wir besprechen uns in einer Stunde auf der Dienststelle und legen unser Vorgehen fest.«

»Gut, Kollege Trevisan«, entgegnete Thorke Oselich. »Sie haben die Erfahrung. Dann sehen wir uns in einer Stunde.«

»Können wir die Leichen freigeben?«, rief einer von Krogs Kollegen der kleinen Gruppe zu, als sie aus dem Gebäude kamen.

Krog warf Trevisan einen fragenden Blick zu.

»Von mir aus schon.«

»Okay, die Leichen können abtransportiert werden«, bestätigte Krog.

Die Polizeidirektorin verabschiedete sich und auch Krog ging wieder seines Weges. Monika Sander und Trevisan blieben alleine im Hof zurück.

»Was hältst du davon, Martin?«

»Wie brauchen Informationen über die Opfer«, entgegnete Trevisan. »Für mich stellt sich die Frage, ob alle Familienangehörigen gemeint waren oder ob der Täter es auf einen gezielt abgesehen hatte und die anderen nur im Weg waren.«

»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

»Hass entsteht nicht von jetzt auf heute. Er wächst wie eine Pflanze, die austreibt und immer größer wird, deswegen müssen wir das Leben aller Opfer durchleuchten. Wir brauchen eine gründliche Umfeld-Recherche. Du weißt, was die Psychologen sagen, der Auslöser einer solchen Tat kann schon Jahre zurückliegen. Erinnerst du dich noch an Veronika Oberdorf und das Haus in den Dünen?«

Monika Sander überlegte.

»Manchmal dauert es aus irgendwelchen Gründen Jahre, bis sich der Hass entlädt.«

Sie nickte. »Du hast recht, das klingt nach sehr viel Arbeit. Dazu brauchen wir mehr Leute. Habich und sein Großvater stammten aus dem Osten, bevor sie hierher kamen.«

»Die Chefin sagte doch, wir bekommen, was wir brauchen«, entgegnete Trevisan. »Wie ist sie eigentlich so?«

»Oh, sie ist ganz okay, anders als Beck oder die Schulte-Westerbeck. Sie meint wirklich ernst, was sie sagt.«

Ein Wagen fuhr auf den Hof. Eike Brun und Lisa Bohm stiegen aus. Brun wies mit dem Zeigefinger nach Westen. »Die Rohloffs haben einen Hof einen Kilometer entfernt«, berichtete der junge Oberkommissar. »Der alte Rohloff meinte, dass er so gegen halb acht einen roten Kleinwagen auf der Straße gesehen hat, der mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Carolinensiel gebraust ist. Er war gerade draußen, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.«

»Halb acht«, murmelte Trevisan. »Das könnte hinkommen. Kann er etwas zu dem Wagen sagen?«

Brun zuckte mit der Schulter. »Es war noch dunkel. Er kann nichts über das Kennzeichen und zur Marke sagen und über die Insassen schon zweimal nichts.«

»Weiß die Fahndung Bescheid?«

Brun schüttelte den Kopf.

»Dann gebt es bitte durch, vielleicht ist der Wagen ja noch irgendwo aufgefallen. Sonst noch was?«

»Leider nicht, niemand hat etwas gesehen«, entgegnete Lisa Bohm. »Der Hof liegt ja auch ziemlich abgelegen hier vor dem Deich.«

Trevisan nickte. »Wir treffen uns in einer Stunde auf der Dienststelle, seid bitte pünktlich.«

*

Sie hatten Spuren gefunden. Hinter der Scheune, wo der erschlagene Hund lag, führte eine Stiefelspur über das Grundstück zu einer nahe gelegenen Wiese. Der Boden war feucht gewesen, denn in den Nächten waberte der Nebel über das Land. Die Spuren waren gut sichtbar und führten in Richtung Osten. Harro, der Polizeihund, hatte die Witterung aufgenommen und zerrte an der Leine, so dass sein Herrchen kaum noch folgen konnte. Harro war ein Mantrailer und gehörte der Hundestaffel der Direktion Oldenburg an. Er hatte bei Wettbewerben schon den einen oder anderen Preis eingeheimst und wenn er einmal die Witterung aufgenommen hatte, dann ließ er nicht so schnell wieder davon ab. So zog er seinen Hundführer förmlich über die Wiese und den angrenzenden brachliegenden Acker, bis er schließlich auf einen geschotterten Feldweg traf, wo Harro kurz verweilte.

»Such!«, forderte ihn der Hundeführer auf.

Aufgeregt, die Nase tief am Boden, lief Harro hin und her. Mehrmals wechselte er die Richtung, bis er sich schließlich nach Süden wandte und den Weg entlanglief. Drei Polizisten folgten dem Hund und seinem Herrchen.

»Wohin führt uns der Köter?«, fragte einer der Beamten völlig außer Atem und missgestimmt.

Der Kollege zuckte mit der Schulter. Spuren waren längst keine mehr zu sehen, der geschotterte Boden machte es unmöglich. Der Hund zog wie wild und die Beamten hasteten hinterher. Beinahe wäre der missgelaunte Kollege in eine Pfütze getreten, gerade rechtzeitig wich er noch aus, ehe er verharrte.

»Hey, schaut euch das mal an, was ist das?« Er wies auf eine knapp einen Meter lange, direkt durch die Pfütze führende Spur. Der Kollege, der bereits einige Schritte weitergegangen war, kehrte um und betrachtete den schmalen Streifen, der durch das Wasser führte.

»Das ist die Spur von einem Fahrrad.« Er tastete vorsichtig über den Boden. Hier lag nur wenig Schotter und die blanke und weiche Erde war zu sehen. »Verdammt, der ist mit dem Rad abgehauen!«

Der missgelaunte Kollege griff zum Funkgerät und meldete seine Entdeckung an die Einsatzleitung. Er wurde gebeten, an der Stelle zu warten und die Spurensicherer einzuweisen.

Der Kollege schaute dem Hundeführer und dem weiteren Kollegen hinterher. Sie waren beinahe schon einen ganzen Kilometer entfernt. »Ich weiß nicht, was der Hund riecht, aber wenn der Kerl sich tatsächlich ein Rad geschnappt hat, dann kann doch gar keine Spur mehr vorhanden sein, oder glaubst du, der Köter kann einen Menschen auch riechen, wenn der mit dem Rad fährt?«

Eine Antwort unterblieb. Während die beiden Polizisten an der Pfütze zurückblieben, ließ Harro keine Zweifel daran, dass er noch nicht am Ende seines Witterungsvermögens angekommen war. Er zog und zog und hetzte voran, dass seine beiden menschlichen Begleiter immer mehr außer Atem kamen. Beinahe einen weiteren Kilometer ging es noch über den Schotterweg, bis sie an eine Wegegabelung kamen. Der Weg zur Rechten führte nach Altgarmsiel, während ein Weg links vorbei am künstlich angelegten Wangersee nach Hohenkirchen führte. Hier schien Harro mit seinem Latein am Ende. Nach ein paar Runden, die Nase tief am Boden, legte er sich einfach hin und hechelte.

»Was hat er?«, fragte der uniformierte Kollege den Hunde­führer.

»Das ist das Zeichen, dass er die Spur verloren hat.«

»Was glaubst du, rechts oder links?«

Der Hundeführer betrachtete die Umgebung. »Wir schauen mal am See nach.«

Gemeinsam folgten sie dem Weg und gingen am Seeufer entlang, bis der Mantrailer wie aus heiterem Himmel wieder anzog. Der Hundeführer riss ihn zurück und raunte ihm einen Befehl zu.

»Was hat er denn?«, fragte der uniformierte Kollege.

»Er hat wohl wieder die Spur aufgenommen.« Harro zerrte an der Leine und lief am Ufer auf und ab. »Ist dort was?«, fragte der Hundeführer.

 

Der Uniformierte trat näher und stand beinahe schon im klaren, kalten Wasser, als er auf eine Ecke im Schilf wies. »Da, da liegt was!«

Eine Viertelstunde später traf ein Wagen der Spurensicherung ein. Ein Beamter streifte eine Anglerhose und Gummistiefel über, bevor er langsam in den See stapfte. Als er die Stelle erreichte, an der die Kollegen etwas im Schilf entdeckt hatten, reichte ihm das Wasser bis zum Bauch. Er zog einen schwarzen Plastiksack aus dem Wasser. Sein Begleiter nahm den Fund am Ufer in Empfang.

Auf dem Trockenen öffneten sie den verschnürten Sack. »Das ist ein Volltreffer«, sagte der Spurensicherungsbeamte, als er ein Beil herauszog. Es folgte ein Küchenmesser mit einer beinahe dreißig Zentimeter langen, beidseitig geschliffenen Klinge. Ein Plastikcape und ein paar grüne Gummistiefel Größe 44 waren neben drei schweren Steinen ebenfalls vorhanden. Das Wasser, das auf den geschotterten Boden tropfte, war rot gefärbt.

»Ich informiere Krog.« Der Spurensicherungsbeamte ging zum VW-Bus.

5

Trevisan hatte erst eine Weile suchen müssen, bevor er die Toilette am Ende des langen Flures fand. Mit dem neuen Dienstgebäude musste er sich erst einmal vertraut machen. Als er damals seiner Tochter zuliebe wegging, war alles um ihn herum vertraut gewesen. Aber das alte Dienstgebäude, die Kollegen, sogar das kleine Restaurant gegenüber, in dem er meist sein Mittagessen eingenommen hatte, gehörten der Vergangenheit an. Zwar meinten die Stadtpolitiker, das neue Polizeigebäude sei ins Zentrum gerückt, doch damals in der Ebertstraße war man eben noch ein ganzes Stück zentraler gelegen gewesen und hatte in der Pause einen Abstecher in die Fußgängerzone machen können, was nun nicht mehr ganz so einfach war.

Trevisan wusch sich gerade die Hände, als sein Mobiltelefon klingelte. Er trocknete sich ab und nahm das Gespräch an.

»Hallo, Paps. Ich wollte mal hören, ob du gut angekommen bist.«

Trevisan lächelte. »Klar, mitten in der Arbeit und das am ersten Tag.«

»Ich habe eine Stunde Pause«, sagte Paula. »Wir wollten raus, die Zählung steht an, aber der Seeigel streikt, wahrscheinlich der Motor. Vielleicht könnten wir uns ja bei Sammys auf einen Kaffee treffen, ich hätte Zeit.«

Trevisan warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zwei. »Paula, tut mir wirklich leid, wir stecken mitten in Mordermittlungen.«

»Das ist dein erster Arbeitstag, ich dachte, du wolltest kürzer treten.«

»Arbeitstag, das siehst du richtig und da steckt nun mal das Wort Arbeit drin.«

»Was ist passiert?«

»Eine ganze Familie wurde ausgelöscht, oben an der Küste.«

»Hast du nicht gesagt, du gehst zurück nach Wilhelms­haven, weil es hier ruhiger ist als in Oldenburg?«

»Tja, manchmal kann man sich eben täuschen.«

»Kommst du heute Abend auf einen Sprung vorbei? Peer würde sich freuen.«

»Ich weiß nicht, wie spät es heute wird, ich habe Lea schon Bescheid gesagt, dass ich nicht pünktlich hier wegkomme.«

»Schade, du weißt doch, nächste Woche fahren wir los, dann bin ich erst mal einen Monat weg.«

»Ja, ich weiß. Wir werden uns vorher sicher noch einmal sehen, aber jetzt muss ich los, die anderen warten.«

»Hast du Monika getroffen?«

»Klar, sie arbeitet doch mit mir.«

»Dann richte ihr schöne Grüße aus.«

»Mach ich.« Trevisan steckte sein Handy zurück in die Tasche.

Im Besprechungsraum hatten sich seine Kolleginnen und Kollegen bereits um den langen Konferenztisch versammelt. Auch Thorke Oselich war dabei. Trevisan steuerte den freien Stuhl an der Stirnseite an und setzte sich neben Monika Sander.

Er atmete erst einmal kräftig durch. »Gut … So wie es aussieht, suchen wir einen gewaltbereiten Menschen, der zwar geplant und koordiniert handelt, aber beim Tötungsakt selbst offenbar die Kontrolle verliert. Was haben wir bislang?«

Er wandte sich Monika zu, die sich aufrichtete. »Die Tatwaffen wurden gefunden, Krog hat angerufen. Sie lagen im Wangermeer. Ein Hundeführer, oder besser gesagt sein Hund, hat sie entdeckt.«

»Wie weit ist das vom Tatort entfernt?«

Monika trat vor die Pinnwand mit einer großen Landkarte und zeigte auf darauf. »Etwa einen Kilometer. – Ein Beil und ein Messer. Krog meint, dass es Geräte aus dem Baumarkt sind, die uns nicht viel weiterhelfen werden. Außerdem hatte Krog recht, der Täter trug ein Regencape aus Plastik, so wie es Radfahrer benutzen. Es war voller Blut, deswegen hat es der Hund wohl gerochen.«

Trevisan kratzte sich am Kinn. »Gut, überlassen wir die Spuren den Spezialisten, gehen wir mal chronologisch vor. Der Täter verschafft sich Zugang zum Hof – wobei die Türen der Scheune unverschlossen waren – und tötet zielgerichtet und erbarmungslos. Er erschlägt vier Menschen und den Hofhund, bevor er wieder verschwindet. Er ist vorbereitet, hat Tatwaffen bei sich und trägt ein Regencape, um seine Kleidung vor Blutspritzern zu schützen. Anschließend verschwindet er durch die Hintertür und entsorgt die Tatwaffen in einem See.«

»Er hatte wohl ein Rad bei sich, meint Krog.«

»Okay, als Fluchtmittel nutzte er ein Rad, damit können wir den verdächtigen PKW erst einmal zurückstellen.«

»Wenn es ein geplanter Raub war, der aus dem Ruder lief?«, wandte Eike Brun ein.

Trevisan schüttelte den Kopf. »Falsche Zeit, falsches Objekt, falsches Vorgehen, außerdem wurde offenbar nichts durchwühlt, keine Kommoden und keine Schränke.«

»Weil er gestört wurde und in Panik geriet«, beharrte Eike.

»Das ist ein Bauernhof und von weitem kann man schon erkennen, dass dort Milchvieh gehalten wird. Jeder weiß, dass ein Landwirt am frühen Morgen seine Kühe melkt und selbst wenn er einmal verreist – dann tut es eben ein anderer. Außerdem schlug der Täter unvermittelt zu und war mit Axt, Messer, Regencape und Gummistiefeln entsprechend vorbereitet. Ich denke, Raub können wir ausschließen. – Sonst noch jemand eine Idee?«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Herr Trevisan?«, fragte Thorke Oselich.

Trevisan lächelte. »Mindmapping. Nehmen wir die Tat als solches, sie kann uns viel über den Täter und das Motiv verraten.«

»Ach so, ja … Was denken Sie über die Sache?«

»Das Motiv ist leicht erkennbar«, konstatierte Trevisan. »Rache und zwar Rache an der gesamten Familie, keiner sollte entkommen. Sogar die junge Frau, die noch zu fliehen versuchte, wurde in die Tötungshandlung einbezogen.«

»Was bedeutet das?«, fragte Monika.

»Das sagt uns, dass der Täter grenzenlosen Hass gegen die Familie empfand und niemand überleben sollte, der ihr angehört. Wahrscheinlich ist, dass man ihn im Familienkreis kannte und er enttarnt gewesen wäre, sollte jemand diesem Massaker entkommen. Außerdem wusste er, welche Sauerei es macht, wenn man mit einer Axt und einem Messer tötet. Deshalb hatte er sich entsprechend vorbereitet. Er tötete ohne Vorwarnung, was einen Raub eher unwahrscheinlich erscheinen lässt. Diese Menschen sollten sterben und sie sollten keinen einfachen Tod haben. Er musste seine aufgestauten Aggressionen abreagieren.«

»Das lesen Sie daraus!«, bemerkte Thorke Oselich voller Anerkennung.

»Nicht nur das«, fuhr Trevisan fort. »Täter und Opfer haben sich gekannt. Außerdem wusste er, wann die beste Zeit für die Tatausführung war. Er kam nicht mitten in der Nacht, er nutzte die Dämmerung, und er wusste, wie er ungesehen ins Haus gelangen konnte und über welche Wege er mit welchem Fluchtmittel ungesehen entkommen kann. Außerdem hat er seine Tatwaffen entsorgt, eigentlich sollten wir sie nicht finden. Mit einem Hund hat er wohl nicht gerechnet.«

»Das heißt?«, fragte Lisa Bohm.

»Er hat die Gegend vor der Tat erkundet und er kannte den Tagesrhythmus seiner Opfer.«

Eike Brun fasst sich an den Kopf. »Klar, er war schon mal da.«

Thorke Oselich lächelte. »Wie gehen wir vor?«

»Wir brauchen noch ein paar Leute«, sagte Trevisan. »Wir müssen die ganze Umgebung erkunden und alle dort befragen. Möglicherweise wurde der Täter bei der Ausspähung im Umfeld gesehen. Außerdem sollten wir auch den Fluchtweg gründlich überprüfen. Ich nehme an, er hat irgendwann sein Fluchtmittel gewechselt und drittens müssen wir so viel wie möglich über unsere Opfer herausfinden. Sie müssen in ihrem Leben diesem Mörder dermaßen auf die Füße getreten sein, dass er zu so einer Tat fähig ist.«

»An wie viele Leute denken Sie?«

»Zehn, zwölf … und ich bräuchte jemanden, der sich mit dem Computer und dem Netz auskennt, nicht immer stehen die interessanten Dinge in unseren Dateien. Soziale Netzwerke verraten uns manchmal viel mehr über die Person als das Melderegister.«

»Das könnte ich tun«, meldete sich Eike Brun. »Ich hatte mal eine eigene Community.«

»Gut«, entschied Trevisan. »Monika, du koordinierst hier von der Dienststelle aus und führst alle Erkenntnisse zusammen. Außerdem sollten wir die Tat vor Augen haben.«

Monika zeigte an die Pinnwand. »Ja, klar, die Tatortbilder.«

»Und Bilder unserer Opfer. Bahnhöfe und Bushaltestellen sind wichtig. Vielleicht steht irgendwo ein Fahrrad herum, das niemandem gehört.«

»Und Taxis?«, fragte Monika.

»Und Taxis, klar. Alles so wie früher.«

»Wie früher, geht klar. Schön, dass du wieder da bist.«

Er lächelte. »Ah, ja, hätte ich fast vergessen, ich soll dich von Paula grüßen.«

»Bis wann brauchen Sie die Leute?«, fragte Thorke Oselich.

Trevisan zog die Lippen schmal. »Ehrlich gesagt, bis gestern wäre gut.«

Sie nickte und erhob sich.

»Und wir beiden Hübschen fahren noch einmal die Umgebung um den Tatort ab«, sagte er zu Lisa Bohm.

»Wir haben doch schon die Leute aus der Nachbarschaft befragt«, wandte Eike ein.

»Ihr habt gefragt, ob sie etwas gesehen haben«, entgegnete Trevisan. »Wir wollen wissen, wer unsere Opfer waren. Ich denke, die Antworten auf diese Frage werden anders ausfallen als heute Morgen.«

*

Ein Bus … Ein Bus ist ein großer Personenwagen für einen mehr oder minder komfortablen Transport von Reisenden und Fahrgästen. Ein Bus bringt einen relativ zügig von A nach B, man kann an vielen Haltestellen zu- oder aussteigen, man sitzt im Trockenen und kann die Landschaft an sich vorbeiziehen lassen. Doch für die Landschaft hatte er keinen Blick, er saß im Fond an der Fensterseite und döste.

Ein Bus hat Vorteile, wesentliche Vorteile sogar. Vor allem für ihn. Die Menschen im Bus sind meist mit sich selbst beschäftigt oder in Gruppen unterwegs und ein Bus kommt fast überall durch und wird so gut wie nie von der Polizei angehalten und kontrolliert.

Die Fahrt führte von Hohenkirchen über Wittmund hin­unter nach Emden, wo er erst einmal wieder zur Ruhe kommen und neue Kraft schöpfen konnte. Er war noch lange nicht am Ziel.

Aus dem Dösen wurde ein leichter Schlaf. Gedanken zogen durch seinen Kopf, bunte Bilder und Szenen, und er erinnerte sich an einen heißen und trockenen Sommer, der lange Zeit zurücklag. Für ihn würde er unvergesslich bleiben, denn es war der letzte fröhliche Sommer, den er erlebt hatte, bevor die trüben Tage heraufgezogen waren und alles überdeckt hatten, was einmal an Leben und Lebensfreude in ihm gesteckt hatten. Er roch das Gras einer grünen und saftigen Wiese, er roch das Wasser des nahen Weihers, an dem sie Stunden verbrachten und an dem der Tag nie enden wollte. Er sah ihr Gesicht, ihr Lachen, ihre roten Wangen, und er schmeckte ihre Tränen, die salzigen und bitteren Tränen. Nur die Kälte einer langen und bohrenden Einsamkeit war ihm geblieben.

Das Gesicht verblasste, löste sich auf, wurde heller und heller, bevor es endgültig die Konturen verlor. Er versuchte es festzuhalten, doch seine Mühe war vergebens, die Schwärze breitete sich aus und er fühlte die Schläge auf seinem Rücken, spürte den Gürtel, der auf seine nackte Haut niedersauste und blutige Striemen hinterließ und er fühlte den Hass, dieses unbändige Verlangen nach Rache, das ihn erstickte und in die Tiefe stürzte.

Er schlug die Augen auf. Sie fuhren an einem Einkaufsmarkt vorbei. Häuser säumten die Straße und er wusste, dass er angekommen war. Der Bus verlangsamte. Nur noch drei Fahrgäste saßen mit ihm im Fond. »Haltestelle Auricher Straße, Philosophenweg«, tönte es aus dem Lautsprecher und der Busfahrer stoppte.

Er griff nach seinem Rucksack und stieg aus. Ein junges Mädchen folgte ihm, schlug aber dann der Weg in das nahe Wohngebiet ein, während er an dem kleinen Wartehäuschen stehen blieb und dem roten Regiobus noch eine Weile nachschaute, bis der im Gewühl der Straßen verschwand.

 

Sein weiterer Weg führte ihn am Wall entlang, bis er auf eine alte Windmühle stieß. Er folgte dem Weg, vorbei an Tennisplätzen und der Windmühle, entlang des Kanals bis zum Roten Siel. Einen Augenblick blieb er auf der Brücke stehen und blickte in das trübe Wasser, ehe er weiterging und in der nahen Siedlung verschwand.

Ruhe brauchte er, Ruhe und Erholung.

Die alte Frau, die ihm die Tür öffnete, lächelte ihm freundlich zu. »Na, schönen Tag gehabt?«

Er nickte nur, bevor er über die Treppe in sein Zimmer ging, die Tür hinter sich schloss und sich seufzend auf das Bett fallen ließ.