Die Wiege des Windes

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2

Sie kamen im Schutz der Dunkelheit. Seit Stunden hatten sie das schäbige Haus in der Ahrstraße belauert, wo der ehemals weiße Putz graue Ränder trug und von der Wand bröckelte.

Die hölzerne Eingangstür war unverschlossen. So wie an jedem Tag. Sie waren gestern schon einmal hier gewesen. Ihn hatten sie nicht angetroffen. Er blieb verschwunden, als wüsste er, dass sie nach ihm suchten.

Die Treppen knarrten, als sie ungesehen die vier Stockwerke nach oben gingen. Er hatte unter dem Dach ein kleines Zimmer mit einer Dusche und einer Kochnische. Zu mehr hatte er es nicht gebracht. Ein Versager, ein Niemand. Er hatte noch nichts in diesem Leben geleistet. Er hatte die Zeit, die ihm gegeben war, damit zugebracht, Farbbeutel gegen Wände zu werfen und Leuten auf die Nerven zu fallen. Das alles wussten sie, denn sie hatten sich über ihn erkundigt. Sie hatten ihre Quellen, und es gab keinen Zweifel: Niemand würde ihn vermissen.

Die altersschwache, gelb gefleckte Holztür war kein Hindernis. Sie brauchten knapp dreißig Sekunden, bis das Schloss aufsprang. Abgestandene und modrige Luft empfing sie. Das Zimmer lag im Dunkeln. Direkt neben dem Eingang war das Bad, gegenüber die Garderobe, an der zwei schäbige Jacken hingen. Der Strahl ihrer Taschenlampen huschte kurz darüber. Einer von ihnen durchwühlte die Taschen, die anderen machten sich über das Zimmer her. Bedächtig öffneten sie die Schubladen, vorsichtig durchsuchten sie die Schränke und den Schreibtisch. Niemand sollte bemerken, dass sie hier gewesen waren.

In der rechten Ecke stand ein alter Mahagonischreibtisch. Viel zu wuchtig für den kleinen Raum, in dem sich noch die Kochnische, das Bett und eine Couch befanden.

»Schau dir das an!« Der Größere deutete auf eine Weltkarte über dem Schreibtisch. Mit einem roten Stift waren Markierungen und Daten eingezeichnet. In der Arktis und Antarktis, in Südamerika, im Persischen Golf, in Russland und an der Nordseeküste befanden sich solche roten Punkte, die bei genauer Betrachtung einem Totenkopf ähnelten.

Der Kräftige zog einen Packen Papiere mit aufgeklebten Zeitungsartikeln aus einem Regal und überflog die Überschriften. Es waren Artikel über Abholzungen im Regenwald und Ölbohrungen in der Arktis. Mörder hatte jemand mit krakeliger Handschrift unter die einzelnen Artikel geschrieben. »Ein Spinner.«

Der Großgewachsene lächelte verächtlich und fuhr damit fort, die Schubladen des Schreibtisches zu durchsuchen.

Unerwartet pfiff der Kräftige leise durch die Zähne. »Schau mal, das ist ein ganz schönes Früchtchen.« Er hielt dem Großen mit seinen von Latexhandschuhen überzogenen Fingern ein Blatt Papier unter die Nase.

»Was soll das, du weißt, was wir suchen.« Der Große widmete sich dem Computer auf dem Schreibtisch.

»Es ist nicht hier, ich habe alles auf den Kopf gestellt«, sagte der Kräftige nach einer Weile.

»Sonst etwas Brauchbares?«

»Ein paar nicht ganz jugendfreie Briefe von seiner Freundin.«

»Mit Absender?«

»Ja.«

Der Hüne griff in seine Jackentasche und zog ein Handy hervor. »Sie ist also seine Freundin, so etwas«, flüsterte er, als er die Ziffern wählte.

*

Larsen schlief schlecht. Alpträume plagten ihn. Immer wieder erschien der dunkle Riese und krümmte den Zeigefinger. Plötzlich war die Hand des Hünen nicht mehr leer. Eine großkalibrige Pistole lag darin. Kurz bevor der Riese abdrücken konnte, erwachte Larsen schweißgebadet.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Er ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann setzte er sich auf die Couch und lauschte Töngens Schnarchen. Er verwarf den Gedanken, ihn zu wecken, zog seinen dicken Parka über und verließ das Haus.

Die Fähre lief gegen sieben Uhr in den menschenleeren Hafen ein. Larsen hatte den Weg zu Fuß zurückgelegt und im Schutz des Bahnhofsgebäudes beim spärlichen Licht der wenigen Hafenlaternen gewartet. Der erwartete Schnee war zum Glück ausgeblieben. Es war nicht mehr so kalt wie am Tag zuvor und der Wind hatte nachgelassen.

Er kannte den Kapitän. Gut eine Stunde später lief die Fähre in Richtung Norden wieder aus. Larsen stand an Bord und blickte über die Reling. Er war der einzige Passagier. Kein Wunder im November.

Es war gut so. Larsen fühlte sich so sicherer. Cordes Anruf hatte ihn aufgewühlt. Larsen hatte Angst. Ein lähmendes Gefühl kroch auf seine Mitte zu. Er musste unbedingt mit Corde reden. Er griff in die Hosentasche. Noch ganze drei Mark und fünfundzwanzig Pfennig hatte er bei sich. Von der Bank hatte er ebenfalls nichts mehr zu erwarten. Er war pleite.

Rike hatte ihm oft Geld gegeben. Jetzt war sie weg. Sie waren im Streit auseinander gegangen. Nach vier Jahren war sie einfach fort und er hatte das Gefühl, dass sie es diesmal ernst mit der Trennung meinte.

Nachdem die Fähre im Hafen von Norddeich festgemacht hatte, suchte er drüben am Kutterhafen nach Holm, einem Kapitän, dem er schon ein paar Mal geholfen hatte und der ihn bestimmt nach Greetsiel fahren würde. Doch der Kutter war nicht an seinem Liegeplatz. Fluchend ging er über die weite Wiese. Im Reif der kalten Nacht hinterließ er seine Spuren. Bis in die Stadt hinein konnte er laufen, aber wie kam er nach Greetsiel?

Ein Polizeiwagen bog um die Ecke. Larsen zog den Kragen hoch. Die Bullen konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. Bestimmt stand er schon wieder auf der Fahndungsliste. Die Briefe, die er vor kurzem an die Ämter abgeschickt hatte, wurden ihm garantiert übel genommen, da verstanden sie keinen Spaß, diese ignoranten Nichtstuer in den Verwaltungsbüros. Beamte nannten sie sich, aber Ahnung hatten sie keine. Da waren alle gleich. Auch die Gelbbäuche in den grün-weißen Autos gehörten zu dieser Sorte. Er bog in einen Hinterhof ein und wartete, bis der Streifenwagen vorbeigefahren war.

*

»Wir haben ihn nicht gefunden«, drang die kehlige Stimme aus dem Telefon.

»Hinweise?«

»Eine Freundin, mehr nicht.«

»Das ist doch schon was«, erwiderte der Kahle. »Ihr müsst ihn finden, um jeden Preis.«

»Da ist noch etwas. Er hat Probleme mit den Behörden. Er gehört zu diesen linken Chaoten und ist so was wie ein Umweltschützer. So ein Spinner, der sich an Bahngleise kettet.«

Der Kahle erhob sich. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ein Umweltschützer, auch das noch. Diese Typen meinten immer, sie müssten hinter jedem herschnüffeln. Stets auf einem Kreuzzug, wie diese bornierten Beamten in den Ämtern. Dabei war es gerade in dieser Phase wichtig, dass es keine Auffälligkeiten gab. Zwischenfälle konnten sie sich nicht leisten.

»Findet ihn!«, sagte der Kahle, und beendete das Gespräch.

*

Der dritte Wagen, den Larsen auf der Landstraße von Norddeich in die Westermarsch anzuhalten versuchte, war der Milchlaster. Der Fahrer nahm ihn mit nach Greetsiel. An der Straße nach Pewsum ließ er Larsen aussteigen. Es war kurz nach acht und die Dämmerung erhellte langsam den Himmel, als Larsen den Weg in das malerische Dorf einschlug.

Hier draußen war der Wind stärker als in Norden. Larsen zog den Reißverschluss seiner Jacke höher. Ob Corde schon auf dem Kutter war?

Als er über den leeren Parkplatz ging, auf dem sich im Sommer Wagen an Wagen reihte, fielen die ersten Schneeflocken aus den grauen Wolken. Sein Freund Töngen hatte also doch Recht behalten. Obwohl dessen Gehirn vom vielen Bier, den Kurzen und den Joints bestimmt schon zerfressen war, hatte er noch immer ein Gespür für das Wetter. Damals, als sie in dem kleinen, altersschwachen Boot zwischen den Sandbänken herumgefahren waren und die pelzigen grauen Körper gezählt hatten, die leblos im feuchten Sand lagen, hatte er immer vorausgesagt, wenn das Wetter umschlug. Nur einmal waren sie in einen Sturm geraten. Das war im Nordland gewesen und Töngen vollgekifft wie ein Bus jamaikanischer Reggae-Musiker. Doch sie hatten überlebt. Überlebt, um die Zahl der toten Körper dieses Tages ins Forschungszentrum zu melden. Und wofür?

Er hatte gedacht, dass es besser werde, wenn Esser den Chefposten der Naturschutzbehörde übernehmen würde. Doch es blieb alles beim Alten. Die Schutzzonenverordnung war ein stumpfes Schwert. Noch immer warfen die Kapitäne ihren Unrat über Bord oder spülten ihre Tanks mit Nordseewasser aus, um es voller Öl und Schmiere wieder zurück ins Meer zu pumpen. Worte, nichts als Worte. Und er hatte für diese Farce sein Leben und seine Gesundheit riskiert. Nie wieder würde er so blauäugig sein.

Larsen ging über die Brücke und bog in den Weg zum Hafen ein. Der Schneefall wurde stärker. Die weißen Flocken tanzten wild im Wind. Hinter der Mauer tauchten die Masten der Kutter auf, die an der Mole vertäut lagen. Die Molly schaukelte friedlich im seichten Auf und Ab des Hafenbeckens. Corde war nicht hinausgefahren. Larsen atmete auf.

Töngens Worte kamen ihm noch einmal in den Sinn. Container mit bunten Träumen. Vielleicht lag da draußen wirklich irgendetwas auf dem Grund des Meeres. Wertvoll musste es sein, sonst würde sich der Aufwand nicht lohnen. Zumindest musste es etwas sein, das man nicht gerne dem Zoll offenbarte. Drogen, Diamanten für Rotterdam, Gold, Falschgeld, radioaktives Material für irgendwelche arabische Extremisten. Vielleicht war die Ladung gar nicht für Deutschland bestimmt. Zwar lag die Stelle, an der er das rote Schiff ausgemacht hatte, im Roten Sand, aber immer noch außerhalb der Drei-Meilen-Zone und abseits der viel befahrenen Schifffahrtsrouten.

Larsen blieb an der Mauer stehen. Von Corde keine Spur. Aber der würde bestimmt noch kommen. Er war jeden Tag auf seinem Kutter, selbst wenn er nicht hinausfuhr. Es gab immer jemanden hier, mit dem er reden konnte. Anders als in der Abgeschiedenheit seines Gehöftes.

 

Larsen ging auf die Treppe zum Anleger zu.

»Da bist du ja endlich!«, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Die Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. Langsam drehte sich Larsen um. Sein Gesicht war starr vor Schrecken.

»Eine schöne Überraschung«, sagte der blasse junge Mann, der sich wie ein Schatten von der roten Hauswand gelöst hatte. »Du dachtest wohl, ich finde dich nicht?«

Larsen schluckte seine Angst herunter, trotzdem klang seine Stimme belegt. »Du! Ich habe nicht …«

»Dienstag war Zahltag«, fiel ihm der andere ins Wort. »Und jetzt steht schon das Wochenende vor der Tür. Ich will mein Geld.«

»Ich hatte Probleme. Ich brauch noch etwas Zeit.«

Der Blasse baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Zeit? Noch einmal eine Woche?«

Larsen nickte.

Die Faust traf ihn nur Millimeter unterhalb der Nase auf der Oberlippe. Trotz des lauten Klatschens hörte Larsen ein Knirschen aus seinem Mund. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Das Wasser schoss ihm in die Augen und fast gleichzeitig schmeckte er das Blut, das ihm über die Zunge rann. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.

»Heute bezahlst du, Larsen!«, sagte der andere.

Larsen spuckte den abgebrochenen Teil seines Schneidezahnes in die Wiese. Vom Schmerz war er immer noch benommen.

*

Der frostige November ging und ein nasskalter und trüber Dezember hielt Einzug. Dennoch wurden die Schaufenster der Läden von einem hellen Glanz erfasst, Nikoläuse und Weihnachtsmänner lösten die herbstlichen Drachendekorationen ab und das Jahr trieb unaufhaltsam auf das Weihnachtsfest zu.

3

Der Postbote trug wie jeden Werktag eine große, gelbe Kiste durch die Drehtür des gläsernen Bürohauses am Theodor-Tantzen-Platz. Heute etwas schneller als sonst, denn es goss in Strömen. Über das Wochenende hatte eine milde Brise die Temperaturen auf zwei Grad Plus ansteigen lassen. Glatteis und eine Serie von Verkehrsunfällen in der vergangenen Nacht waren die Folge gewesen. Nun spülte der Regen die grauen Schneehaufen durch die Straßen. Die Kanalisation wurde von den Wassermassen überfordert und überall verteilten sich riesige Lachen in den Asphalttälern der Stadt.

»Moin!«, rief ihm der Pförtner hinter seinem Tresen zu. »Sauwetter, was?«

Der Postbote nickte, eilte den dunklen Gang entlang und verschwand hinter einer Glastür mit der Aufschrift Poststelle.

»Guten Morgen«, grüßte die blonde junge Frau ihn freundlich. Ihre dunkelhaarige Kollegin saß hinter ihrem Schreibtisch und leerte einen feuchten Karton auf die Tischplatte.

»Weiß nicht, was an dem Morgen gut sein soll«, knurrte der Postbote. »Draußen ist die Hölle los. Überall kracht es. Auf der Hindenburgstraße ist ein Stau bis raus nach Wechloy. Ein Laster ist gegen drei geparkte Autos gerutscht. Ich musste fast eine Stunde warten.«

Die ältere Kollegin schaute auf die Wanduhr über der Tür. Es war kurz nach neun. »Stimmt, du bist spät dran.«

»Spät ist gar kein Ausdruck. Heute wird’s mindestens drei, bis ich überall durch bin. Dabei habe ich zu Hause noch so viel zu tun.« Der Postbote lächelte verschwörerisch. »Das Kinderzimmer ist immer noch nicht fertig.«

»Wann ist es denn so weit?«, fragte die Blonde.

»Ich hoffe, dass die beiden bis Mittwoch nach Hause dürfen.« Der Postbeamte nahm seine gelbe Kiste vom Tresen. »Ich freu mich so auf meinen Sohn, ich kann’s kaum erwarten.«

»Mal sehen, was du sagst, wenn dich der Kleine mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf schreit«, unkte sie.

»Na hör mal, der schreit nicht. Der geht nach mir und weiß, was sich gehört.«

»Ähhh … – was ist denn das für eine Schweinerei!« Die schwarzhaarige Kollegin sprang auf. Sie rieb sich die Hände und blickte voller Ekel auf den großen, grauen Umschlag, den sie auf den Schreibtisch geworfen hatte. Die grüne Schreibunterlage war von einem hellen Pulverfilm überzogen. Aus einem kleinen Spalt des Kuverts rieselten noch immer kleine Kristalle.

Der Postbote fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Tischplatte. Dann hob er ihn unter die Nase. »Das riecht irgendwie … chemisch.« Er schaute auf das Kuvert. Neben einem maschinengeschriebenen Adressatenaufkleber prangten drei Briefmarken. Ein Absenderfeld fehlte. Vorsichtig schob er den grauen Briefumschlag zu sich heran. Drei kleine blaue Delfine waren links oben neben der Falz zu erkennen. »Woher stammt das?«

Die Dunkelhaarige schaute ihn entgeistert an. »Ich habe das Kuvert heute Morgen aus unserem Hausbriefkasten geholt.«

»Das ist komisch«, sagte der Mann nachdenklich. »Es sind Briefmarken drauf, aber kein Poststempel. Also, von uns ist es nicht.« Der Brief war an den stellvertretenden Direktor der Bezirksregierung Doktor Thomas Esser gerichtet. Persönlich war unter dem Namen zu lesen.

»Sollen wir Esser anrufen?«, fragte die Blonde.

»Ich denke, ihr solltet besser die Polizei anrufen«, entgegnete der Postbote.

Betroffen schaute die dunkelhaarige Frau auf. »Du meinst, das könnte eine Bombe sein?«

Der Postbote zuckte mit den Schultern.

*

Rike hielt sich mit aller Kraft an den Seilen fest, während ihr Schlauchboot in halsbrecherischer Fahrt über die Wellen schoss. Der große Walfänger blieb unbeeindruckt von der rauen See. Bald würden die grauschwarzen Körper wieder durch den tiefblauen Vorhang aus Wasser an die Oberfläche stoßen. Der Walfänger befand sich in Schussweite. Das zweite Schlauchboot hatte Position vor seinem Bug bezogen und versuchte den Steuermann zu ständigen Kursänderungen zu nötigen, damit der Kanonier an der Bugharpune keinen gezielten Schuss anbringen konnte.

Gestern hatten sie das japanische Walfangschiff südlich der Kerguelen-Inseln ausgemacht und die Verfolgung aufgenommen. Die Arctic Sunrise war ein ehemaliger Robbenfänger und eigens für den Zweck umgebaut, Walfänger südlich des 40. Breitengrades ausfindig und ihnen ihren Fang so schwer wie möglich zu machen. Die Japaner waren gestern Abend auf eine Gruppe Minkwale gestoßen, die westwärts auf die Südatlantische Schwelle zuhielten. Den ersten Abschussversuch heute Morgen hatten die Männer und Frauen an Bord der Schlauchboote noch verhindern können, aber der Walfänger hatte die gemächlich nach Westen schwimmende Gruppe Wale bald wieder eingeholt. Nun setzte er erneut zum Abschuss an und wieder riskierten die Umweltschützer in den wendigen Schlauchbooten ihr Leben.

Rike hatte beinahe zwei Wochen im Camp bei Bremen für diesen Einsatz geübt, bevor sie vor einer Woche in Perth an Bord der Arctic Sunrise gegangen war, doch dass es so hart werden würde, hatte sie nicht gedacht.

»Come on, closer!«, rief Bob, der aus Wellington stammte und schon zum achten Mal mit von der Partie war. Bob führte das Boot, das sich zwischen den Walfänger und die Tiere schieben sollte, falls die anderen den Japaner nicht zur Kursänderung zwingen konnten.

Jean, ein Belgier aus Gent, hielt mit beiden Händen das Ruder des 240 PS starken Außenbordmotors umklammert. Harry aus dem amerikanischen Newport und Rike stabilisierten das Boot. Sie hatten sich angeleint und versuchten, nicht über Bord zu fallen. Das alleine war schon schwierig genug. Plötzlich durchstießen direkt neben ihnen die grauen Körper der Minks die Oberfläche.

»Slow down … slow down!«

Eiskaltes Wasser spritzte in Rikes Gesicht. Jetzt war der Walfänger direkt hinter ihnen. Die aufgewirbelte Gischt nahm ihr zeitweise die Sicht. Dann ertönte ein Donnern. Ein Rauschen überlagerte den gedrosselten Motorenlärm, doch es war nicht das Rauschen der Wellen. Es steigerte sich zu einem immer höher werdenden Sirren, dann schoss der Pfeil an ihnen vorbei und bohrte sich mit einem lauten Klatschen in den Leib eines Tiers. Der Luftzug des Seiles klang wie ein hilfloser Aufschrei.

Rike schlug die Hände vors Gesicht. Die Schaumkronen der Wellen verfärbten sich rot.

»This crazy guy!«, fluchte Bob.

Im Todeskampf peitschte die mächtige Schwanzflosse des zehn Meter langen Tieres durch die Luft. Jean riss das Ruder herum und Bob fiel nach vorne. Rike erwischte ein Stück seiner Jacke. Bobs Oberkörper hing im eiskalten Wasser, doch Rike verhinderte, dass er über den glatten Wulst in die Fluten stürzte.

Jean drosselte den Motor und Harry hechtete zum Bug, um Rike und Bob zu helfen. Gemeinsam zogen sie den Neuseeländer zurück ins Boot. Er fluchte und schüttelte seine Faust, als der Walfänger nur wenige Meter entfernt an ihnen vorüberfuhr. Die Wale waren wieder abgetaucht. Alle, bis auf einen.

»Manchmal glaube ich, Larsen hat Recht«, murmelte Rike, während sie in einiger Entfernung zusahen, wie der Walfänger seinen mittlerweile leblosen Fang längsseits zog. »Es reicht nicht, sie abzudrängen. Versenkt müssten sie werden.«

»Was meinst du?«, fragte Jean mit französischem Akzent.

»Ach, nichts … Ich dachte gerade nur an einen Freund von mir«, antwortete Rike.

»Okay, there’s nothing more to do, let’s go back«, sagte Bob.

Mit feuchten Augen wandte sich Rike ab. Die Arctic Sunrise wartete auf sie.

*

Dr. Thomas Esser, stellvertretender Direktor der Bezirksregierung Weser-Ems, war Landtagsabgeordneter der Grünen gewesen, bis er bei der letzten Wahl seinen Sitz verlor und an seinen Schreibtisch nach Oldenburg zurückkehren musste. Er hatte noch immer sein Parteibuch und war von den Programmen seiner Partei überzeugt. Vor allem lag ihm der Schutz der Küste und des Wattenmeers am Herzen. Nun stand er der Nationalparkverwaltung Wattenmeer in Wilhelmshaven vor. Vielleicht, so dachte er oft, war es ein Wink des Schicksals, dass er seinen Platz im Landtag hatte aufgeben müssen. Als verantwortlicher Leiter der Nationalparkverwaltung konnte er viel mehr für die Umwelt und seine Überzeugungen tun.

Obwohl es seit dem gestrigen Abend in Oldenburg regnete, war er wie jeden Tag mit seinem Fahrrad von Bürgerfelde zur Arbeit gefahren. Wenn es auch kalt und ungemütlich war, diesen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt ließ er sich nicht nehmen. Den Bus benutzte er nur, wenn die geschlossene Schneedecke das Radfahren nicht mehr zuließ.

Vor vielen Jahren, als er noch jung und ungebunden gewesen war, mit langen Haaren und mit grünem Parka, hatte er Stunden im Wind und im Regen zugebracht. In Camps, in wilden Lagern und Zelten. Vor Gorleben, an der Startbahn West bei Frankfurt oder im Hamburger Freihafen, er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, den Regierenden sein klares »Nein« zu ihren Entscheidungen entgegenzuschreien.

Vielleicht war er reifer geworden – oder vielleicht resultierte die Verlagerung seiner Aktivitäten aus einem längeren Gespräch mit seinem Vater, der ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er kein Geld mehr erhalten werde, wenn er sich nicht endlich selbst um seine Zukunft kümmerte. Natürlich hatte zunächst der Rebell in ihm gesiegt, schließlich gehörte sein Vater als erfolgreicher Zahnarzt dem Establishment an, das er damals zutiefst verachtete. Letztlich siegten die Einsicht, der Hunger und die Vernunft.

Er hatte Jura studiert – denn »Biologie hat keine Zukunft!«, hatte sein Vater getönt – und gelernt, seine Ideologien in demokratischer und konstruktiver Form zu vertreten. Er heiratete, tauschte den grünen Parka mit einem dunklen Anzug. Machte sein Praktikum am Amtsgericht in Oldenburg, knüpfte Kontakte und begann seine Karriere bei der Bezirksregierung. Und nach dem kurzen Ausflug in die Landespolitik hatte ihm nun der Bezirksdirektor die Aufsicht über die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven übertragen. Eine Aufgabe, die er mit Freude übernahm.

Sein Dienstsitz blieb in Oldenburg, doch jetzt hatte er endlich das Gefühl, in seine Vergangenheit zurückgekehrt zu sein. Er war seinen Überzeugungen und seinen Prinzipien wieder ganz nahe.

Doktor Thomas Esser fuhr mit seinem Rad über den freien Platz, vorbei am schmucklosen Tannenbaum mit den hellen Glühbirnen, der in aller Eile aufgestellt worden war, und wunderte sich, dass vor dem Haupteingang zwei Streifenwagen und ein grauer Audi standen. Was war hier passiert?

*

»Da ist er ja endlich!« Horst Liebler zeigte auf den hageren Hünen, der die Halle durch die Glastür betrat und auf die Aufzüge zuging.

Kriminaloberrat Kirner wandte sich um. »Das ist Doktor Esser?«, fragte er den Verwaltungsbeamten.

Liebler nickte und hielt Esser auf. »Stell dir vor, was passiert ist! Sie haben eine Briefbombe in der Post gefunden. Wir mussten alle unseren Arbeitsplatz räumen, bis das Kuvert abtransportiert war. Alles war in heller Aufregung.«

 

»Guten Morgen, Herr Doktor Esser.« Kirner streckte dem Leiter der Nationalparkverwaltung seinen Dienstausweis entgegen. »Mein Name ist Kirner, ich bin vom Landeskriminalamt. Ist es möglich, dass wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

Mit dem Aufzug fuhren sie in den zweiten Stock, dort befand sich Essers Büro.

»Kann ich erfahren, was genau passiert ist?«, fragte Esser.

»Eine Mitarbeiterin Ihrer Poststelle hat in der Tagespost ein Kuvert entdeckt, aus dem ein helles, kristallines Pulver gerieselt ist«, erklärte Kirner, nachdem beide Platz genommen hatten. »Ihr kam das verdächtig vor, deshalb hat sie die Polizei verständigt. Tatsächlich handelt es sich bei dem Pulver um Kaliumchlorat, einen leicht entzündlichen Stoff, der schon bei geringsten Verunreinigungen oder Berührungen reagieren kann. Da es sich hier um eine staatliche Organisation handelt, wurden wir hinzugezogen. Unsere Spezialisten haben bestätigt, dass es sich um eine Briefbombe handelt. In einem innen liegenden zweiten Kuvert befindet sich offenbar eine weitere Substanz. Über eine kleine Knopfzelle, ein Blitzlicht ohne Abdeckung und eine elektrische Schaltung sollte das Päckchen gezündet werden. Ich hoffe, dass wir das Paket entschärfen können und nicht sprengen müssen. Dann gibt es vielleicht einige Spuren, die uns weiterhelfen.«

Esser sank sichtlich erschüttert in seinem Stuhl zurück. »Wer sollte die Bombe öffnen?«

»Der Brief war ausdrücklich an Sie persönlich adressiert.«

Aus Essers Gesicht wich allmählich die Farbe und machte einem Grauton Platz. »Ich … wieso ich …?«

»Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen?«

Esser schüttelte den Kopf. »Was wäre passiert, wenn …«

»… wenn Sie den Umschlag geöffnet hätten?«, fiel ihm Kirner ins Wort. »Ersten Schätzungen nach dürften sich etwa fünfzig Gramm Sprengstoff im Inneren des zweiten Kuverts befunden haben. Das hätte eine ordentliche Explosion gegeben.«

Esser schluckte. »Ich glaube, mir wird schlecht.« Er erhob sich und ging an einen Aktenschrank, öffnete die untere Schranktür und holte eine Flasche Cognac hervor. Er schenkte ein Glas voll und leerte es in einem Zug.

»Haben Sie Feinde?«

»Natürlich macht man sich Feinde, wenn man einen solchen Posten ausfüllt«, erklärte Esser. »Fischer, die gerne in manchen Schutzzonen fischen würden, Umweltfanatiker, denen unsere Verordnungen nicht weit genug gehen. Es gibt da eine große Zahl von Leuten, denen man hier und da auf die Füße treten muss. Aber deswegen eine Briefbombe?«

»Gab es in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches, wurden Sie bedroht?«

Esser öffnete eine Schreibtischschublade, nahm ein Bündel Briefe heraus und warf sie auf den Tisch. »Wer etwas tut, schafft sich automatisch Gegner. Nur wenn Sie still sind und sich aus allem heraushalten, dann passiert so was nicht.«

Kirner starrte wie gebannt auf ein großes, graues Kuvert mit drei kleinen, blauen Delfinen in der linken oberen Ecke. »Woher haben Sie das?«

»Der kam vor drei Wochen mit der Post.« Esser wollte nach dem Umschlag greifen, doch Kirner sprang auf und packte ihn an der Hand.

»Von wem?«

»So eine Umweltschützerin. Darin befand sich eine lange Studie, über die negativen Auswirkungen des zunehmenden Tourismus auf die Flora und Fauna des Wattenmeers. Wieso ist das so wichtig?«

Kirner griff in seine Jackentasche und holte ein Polaroidfoto heraus, das die Briefbombe mit den gleichen kleinen Delfinen auf dem Kuvert zeigte. Kommentarlos reichte er es Esser.