Der Sohn des Apothekers

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»Kann gut gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr. Aber Ende September wird es wohl so um die neun Uhr dunkel.«



Justin machte Notizen in seinem Notizbuch. »Sehen Sie, jetzt haben wir doch noch etwas herausgefunden, was für den Fall vielleicht wichtig ist.«



Tjaden wirkte ein wenig erschrocken. »Da bin ich vielleicht vorbeigefahren und hinter dem Gebüsch war der Mörder, was? Mein Gott, was da hätte alles passieren können.«



»Vielleicht«, bestätigte Justin Belfort, raffte seine Karte zusammen und verabschiedete sich.



Vom Grubhof fuhr er die gesperrte Straße zum Bannsee entlang bis zu der Feldwegabzweigung, die ihm Bauer Tjaden auf der Karte gezeigt hatte. Der Weg war derart zugewuchert, dass er seinen Wagen stehen lassen musste. Zu Fuß ging er weiter, bis er an das beschriebene Hagebuttengebüsch kam, das sich am Weg entlangrankte. Er suchte es ab, doch mehr als eine weggeworfene Bierflasche, eine alte Plastiktüte und einen leeren Tetrapack fand er nicht. Sicherlich hatte damals die Polizei das Gebüsch und den angrenzenden Wald ohnehin akribisch untersucht. Er machte ein paar Fotos und setzte seinen Weg fort, der ihn zum nahegelegenen Campingplatz führte.



Eine Frau mittleren Alters empfing ihn im Büro, doch als er nach den verschwundenen Mädchen fragte, brach sie das Gespräch unwirsch ab. »Nicht schon wieder …! – Ich habe den Platz vor zwei Jahren übernommen. Der Vorgänger ist verstorben, da werden Sie kein Glück haben.«



Als Justin nach Tennweide zurückkehrte und seinen Audi vor dem Klosterkrug parkte, fielen ihm zwei Wagen auf, die mitten auf dem Kirchplatz standen. Drei junge Männer lehnten an dem einen, einem schwarzen Golf. Jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Im anderen Wagen, einem blauen Honda, saßen zwei Mädchen. Justin schätzte alle fünf auf Anfang zwanzig. Wohl die Dorfjugend, die sich hier versammelte.



Im Klosterkrug lief ihm die Wirtin über den Weg. »Na, hatten Sie Erfolg?«, fragte sie spitz.



»Erfolg?«



Die Wirtin zeigte auf den Fotoapparat. »Haben Sie schöne Bilder gemacht?«



»Ach so«, antwortete Justin. »Ja, sicher.«




4



Trevisan war gegen vier Uhr eingeschlafen. Als ihn der Wecker um acht unsanft aus dem Tiefschlaf riss, brauchte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Gestern Abend hatte er beinahe eine Stunde lang mit Paula telefoniert, die in Irland mit ihrer Therapiegruppe auf dem Shannon eine Bootstour machte und gegen Abend Banagher, das erste Etappenziel, erreicht hatte. Sie fühlte sich wohl. Trevisan hatte aufgeatmet, denn zu Beginn der Woche hatte sie sich noch traurig angehört. Diesmal hingegen hatte sie beschwingt geklungen und sogar gescherzt.



Nach dem Telefonat hatte er sich ein einfaches Mahl zubereitet und sich dann die drei Ordner angesehen, die er aus dem Büro mitgenommen hatte. Kriminaloberrat Volkmar Dittel, der Leiter der Sonderkommission, war im Jahr 2001 pensioniert worden, doch er lebte noch immer in der Nähe von Hannover. Trevisan hatte sich die Adresse aus dem Telefonbuch notiert. Ein Gespräch mit dem Mann würde nicht schaden. Trevisan lümmelte sich auf die Couch, hatte eine CD mit klassischer Musik eingelegt und arbeitete sich Blatt für Blatt durch die Ordner mit den Ermittlungsergebnissen der Soko Radtour. Er hatte einen Notizblock bereitgelegt, um auftauchende Fragen oder Unklarheiten zu notieren. Als er sich todmüde in sein Bett schleppte, war dieser Block vollgeschrieben mit Unstimmigkeiten und Rätseln.



Natürlich waren die Ermittler damals davon ausgegangen, dass die beiden Mädchen unweit des Bannsees ermordet und ihre Leichen irgendwo in der Umgebung versteckt worden waren. Es gab am Steinhuder Meer zahlreiche Moore, Wasserläufe und Tümpel. Doch der Fund des Rucksacks bei Walsrode hatte damals diese Theorie erschüttert. Das Auftauchen der jungen Frau in der Nähe von Flensburg hatte nun alles durcheinandergebracht und sämtliche Vermutungen der Ermittler von damals über den Haufen geworfen. Jetzt erschienen manche Dinge in einem ganz anderen Licht und warfen neue Fragen auf.



Ausgestattet mit den drei Ordnern betrat Trevisan gegen zehn Uhr die Dienststelle in der Schützenstraße und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Lisa saß bereits am Computer im Soko-Raum und übertrug Daten in die Datenbank.



»Guten Morgen, Chef.« Sie blickte nur kurz auf, bevor sie weiter auf die Tastatur tippte.



»Was machst du gerade?«, fragte Trevisan.



»Spur Nummer 64«, murmelte sie. »Antragungsspuren am Fahrrad des Opfers Sommerlath, bestehend aus Torf und feuchter Erde, Lage Pedal rechts, unten.«



»Ich sehe, du hast dich mit dem Programm schon angefreundet«, scherzte Trevisan.



»Es fehlen drei Ordner.«



Trevisan trat neben sie und stellte die Ordner auf dem langen Konferenztisch ab. »Ich frage mich, wieso die Täter die Räder neben einem Waldweg sichtbar liegen ließen. Sie hätten sie doch einfach nur in eine Torfgrube werfen müssen. Und wenn sie überhaupt keine Spuren hinterlassen wollten, dann wäre es doch auch möglich gewesen, sie einfach mitzunehmen.«



»Mitzunehmen?«, wiederholte Lisa ungläubig.



»Es ist eine Sache, jemanden umzubringen und die Leiche abzutransportieren – auch zwei Leichen lassen sich gut in einem Kofferraum unterbringen. Aber wenn ich zwei Menschen entführen will, die sich das bestimmt nicht gefallen lassen, dann muss ich ausreichend Manpower und Platz haben.«



Lisa dachte angestrengt nach. »Zwei Täter und ein Bus, ein Transporter oder so ähnlich«, folgerte sie nach einem Moment.



»Das wäre eine Möglichkeit und da könnte ich auch die Räder entsorgen und müsste sie nicht auf einem Waldweg in Tatortnähe liegen lassen.«



»Woher willst du wissen, dass die Räder in Tatortnähe lagen?«, fragte Lisa.



»Das Kettchen eines der Mädchen«, antwortete Trevisan. »Der debile Sohn des Apothekers hat die damaligen Ermittler an eine Stelle geführt, die an einer kleinen Lichtung liegt, Luftlinie etwa dreihundert Meter südlich des Bannsees. Und in der Nähe lagen auch die Räder in einem Gebüsch neben einem unwegsamen Waldweg, den man nur mit einem Schlepper befahren kann und wo sie ein Landwirt fand.«



»Das ist doch einfach. Es waren zwei Täter. Einer bleibt beim Wagen und bewacht die Opfer und der andere bringt die Räder weg.«



»Wie oft bist du schon Rad gefahren?«, fragte Trevisan.



»Als Kind sehr oft.«



»Es ist nicht leicht für eine einzelne Person, zwei Räder über unwegsames Gelände zu schieben«, antwortete Trevisan. »Es war noch nicht dunkel und ganz in der Nähe ist ein Campingplatz, der damals gut belegt war. Das ist ein hohes Risiko, wenn man jemanden entführen will.«



»Woher weißt du, dass es hell gewesen ist?«, fragte Lisa, während Trevisan die graue Stellwand zurechtrückte und darauf eine topographische Karte von der Gegend um den Bannsee hängte.



»Der Bauer sagte aus, dass er die Räder bei Anbruch der Dämmerung fand«, erklärte Trevisan. »Gestartet sind die Mädchen an diesem Tag gegen elf Uhr in Neustadt, das liegt hier.« Er zeigte auf die Karte. »Knapp acht Kilometer, das schafft man innerhalb einer halben Stunde. Also gehen wir davon aus, dass sie etwa um 11.30 Uhr in der Nähe von Tennweide waren. Nienburg war ihr nächstes Etappenziel, bis dahin braucht man mit einem Rad etwa drei Stunden. Sie hatten für alle ihre Unterkünfte Abendessen gegen sieben Uhr vereinbart, so war es in Hagenburg im Hotel Schneevoigt und auch in Neustadt im Maro. Auch für den Posthof galt diese Vereinbarung, aber dort sind sie nie angekommen.«



»Wahrscheinlich waren sie am Steinhuder Meer baden, schließlich war das eine Vergnügungstour«, warf Lisa ein.



»Das glaube ich auch. Sie hatten Badeanzüge dabei und eine Bedienstete vom Maro in Neustadt hat ausgesagt, dass sie nach einem Trockenraum gefragt haben. Ich glaube sogar, dass sie darüber die Zeit vergessen hatten und deshalb über die Waldwege in Richtung Nienburg fuhren.«



»Wie kommst du zu der Annahme?«



»Man hätte auch über Tennweide und Mardorf nach Nienburg fahren können. Die Strecke ist gut fünf Kilometer weiter. Aber sie fuhren durch den Wald, obwohl man sich dort auch gut verirren kann. Ich denke, sie hatten es eilig, nach Nienburg zu kommen, deswegen wählten sie die kürzere Route. Das könnte bedeuten, dass sie zwischen 16 und 18 Uhr auf ihre Entführer trafen.«



»Das mag schon sein, aber wie bringt uns das weiter?«, fragte Lisa mit verwirrtem Blick.



Trevisan lächelte. »Die Tatzeit einzugrenzen, ist sehr wichtig. Denn wenn wir einen Verdächtigen haben, dann ist so ein Zeitfenster für die weiteren Ermittlungen von Bedeutung.«



Lisa schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ja, sicher, das Alibi.«



»Das Alibi!«, bestätigte Trevisan und griff nach einem Edding-Stift. 16-18 Uhr schrieb er neben die Karte auf die Tafel.



Lisa wandte sich wieder dem Computer zu.



»Wie weit bist du?«



»Es fehlen noch 264 Spuren«, antwortete sie.



»Heute Mittag ist Zeit dazu. Wir treffen uns in einer halben Stunde mit einem Pensionär und ich hätte dich gerne dabei.«



Lisa sprang von ihrem Stuhl auf. »Gerne. Ich war noch nie im Außendienst.«



*



Justin Belfort hatte lange geschlafen und beinahe das Frühstück verpasst. Nach mehren Tassen Kaffee, Buttertoast und Marmelade verschwand er wieder auf sein Zimmer. Er überspielte die Fotos des gestrigen Tages auf seinen Laptop und fasste stichwortartig die Aussagen von Bauer Tjaden in einem Script zusammen. Anschließend suchte er in seinem Notizbuch nach der Adresse der Klosterapotheke in Mardorf, die Rudolf Thiele leitete. Er hatte sich vorgenommen, heute das Gespräch mit dem Mann zu suchen und wusste, dass es nicht leicht werden würde. Svens Vater hatte bislang alle Gespräche mit Journalisten abgeblockt. Justin hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, in der er Sven die Opferrolle zudachte und das damalige Fehlverhalten der Polizei in den Vordergrund rückte. Es musste ihm einfach gelingen, den Apotheker zu überzeugen, denn ohne dessen Einverständnis würde er nicht einmal in Svens Nähe kommen. Also bereitete er sich akribisch auf das Gespräch mit Rudolf Thiele vor und ging noch einmal alle Fakten durch, die ihm hilfreich erschienen.

 



Kurz nach elf schnappte er sich seinen Fotoapparat und das kleine Aufnahmegerät und gab an der Rezeption seinen Schlüssel ab. Diesmal stand eine Angestellte hinter dem Empfangspult, der er bislang noch nicht begegnet war.



»Einen schönen Tag«, rief ihm die junge Frau hinterher, als er den Klosterkrug verließ und zu seinem Auto ging.



Bereits von Weitem bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Der Wagen neigte sich nach links. Als er näher kam, erkannte er den Grund dafür. Der vordere Reifen war luftleer. Er fluchte. Vielleicht war er gestern auf dem Waldweg in einen Nagel gefahren? Er umrundete das Auto und blieb verdutzt stehen. Auch im hinteren Reifen fehlte Luft.



»So eine verfluchte Scheiße!«, brüllte er. Deutlich waren die Einstiche in der Wandung des Reifens zu erkennen.



»Etwas nicht in Ordnung?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.



Justin Belfort fuhr herum und schaute in das fragende Gesicht des Polizisten, der ihn am Vortag kontrolliert hatte. Er zeigte auf den Reifen. »Finden Sie das etwa in Ordnung?«



»Das kommt davon, wenn man gesperrte Wege fährt …«



»Hören Sie, Oberkommissar Klein – das ist doch Ihr Name, oder? Das sieht ein Blinder mit einem Krückstock, dass hier jemand mit einem Messer am Werk war. Ich glaube nicht, dass Sie als Gesetzeshüter so etwas billigen können. Das geht entschieden zu weit.«



»Sie haben recht, das geht wirklich zu weit, aber Sie gehen hier manchen Leuten auf den Geist«, erklärte Oberkommissar Klein. »Viele leben davon, ihre Ferienwohnungen im Sommer an Touristen zu vermieten. Die haben kein Interesse daran, den Mordfall wieder in den Schlagzeilen zu sehen. Wissen Sie, damals, nachdem das Verbrechen bekannt wurde, standen beinahe die Hälfte aller Ferienwohnungen leer. Sogar auf dem Campingplatz reisten besorgte Gäste ab, weil hier ein Mädchenmörder sein Unwesen trieb. Das kommt bei den Leuten, die hier leben und ihr Geld sauer verdienen müssen, nicht besonders gut an. Und jetzt, wo halbwegs Gras über die Sache gewachsen ist, kommen Sie daher und wühlen alles wieder auf. Da kommen solche Dinge schon mal vor.« Klein zeigte auf die beiden Reifen.



»Haben Sie schon mal was von Pressefreiheit gehört? Ich glaube nicht, dass ich in einem Land leben und arbeiten will, in dem man die Arbeit der Presse unterdrückt. Und ich glaube auch, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, zu erfahren, was damals hier passiert ist.«



»›Ein Recht darauf‹», wiederholte der Polizist verächtlich. »Eine Sonderkommission hat monatelang ermittelt, über hundert Leute waren im Einsatz. Die ganze Gegend wurde mehrfach durchsucht. Sogar ein Düsenjet der Bundeswehr ist über das Gebiet geflogen. Sie haben Aufnahmen mit einer hochauflösenden Spezialkamera gemacht, aber von den Mädchen gab es keine Spur. Und jetzt, nachdem eins davon über zweihundert Kilometer von hier wieder aufgetaucht ist, muss doch wohl auch Ihnen klar sein, dass niemand im Ort mit der Sache zu tun hat. Wissen Sie, was ich glaube? Das Ganze war ein großer Zufall. Da sind ein paar Rocker zufällig durch unsere Gegend gefahren und haben sie einfach so mitgenommen. Niemand aus diesem Ort und niemand aus der Gegend hat etwas mit der Sache zu tun. Das war einfach nur Schicksal. Und deshalb sind Sie hier auch an der falschen Adresse. Fahren Sie nach Dänemark, dort sind Sie richtig, denn …«



»Wie kommen Sie auf Dänemark?«, fragte Justin Belfort.



Klein lächelte ungläubig. »Kommen Sie, Sie haben doch sicherlich auch schon von diesen Rockern bei Padborg gehört, die ein paar Frauen festhielten und zur Prostitution zwangen. Es gibt nicht wenige aus unseren Reihen, die da einen Zusammenhang vermuten. Das Mädchen, das man in Flensburg aufgegriffen hat, war übrigens hochgradig süchtig, wussten Sie das?«



»Und wenn schon.«



»Mann, sehen Sie das nicht?! Diese Rocker fahren zufällig hier durch und zwei junge Mädchen laufen ihnen über den Weg. Mitten im Wald, mitten in der Einsamkeit. Die Kerle sind absolut skrupellos. Sie schlagen zu, entführen die beiden und halten sie gefangen. Sie zwingen sie zur Prostitution und machen sie süchtig, damit sie nicht weglaufen können. Diese Leute sind abartig. Ihnen liegt nichts an einem Menschenleben. Und dann gelingt es einem der Mädchen zu entkommen. Dabei springt sie aus einem fahrenden Wagen. Für mich klingt das absolut plausibel.«



Justin Belfort rieb sich über das Kinn. »So könnte es gewesen sein«, murmelte er.



»Was ist jetzt mit der Anzeige?«, fragte Klein und zog einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche. Er zeigte auf die zerstochenen Reifen des Wagens.



»Das bringt doch sowieso nichts«, entgegnete Justin.



Oberkommissar Klein steckte seinen Kugelschreiber wieder ein und nickte kurz. »Einen Reifenhändler gibt es in Neustadt.«



Justin atmete tief ein. »Danke«, sagte er und machte sich auf den Weg zurück in den Klosterkrug.




5



Kriminaloberrat a. D. Volkmar Dittel war ein Beamter vom alten Schlag. Er empfing Trevisan und seine Kollegin Lisa Winter in seinem Wintergarten und trug eine dunkle Stoffhose, ein weißes Hemd, eine beige Weste und darunter eine absolut korrekt sitzende Krawatte, die farblich auf seine Kleidung abgestimmt war. Seine grauen Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, so dass er wie ein gestrenger Oberlehrer eines kirchlichen Internats aus dem vorigen Jahrhundert wirkte.



Er bot Trevisan einen Platz an, während er Lisa eher missbilligend beäugte und – wohl wegen ihres schrillen Aussehens – nur mit einem abweisenden Nicken bedachte. Trevisan kannte diesen Menschenschlag, lange genug hatte er unter Kollegen mit preußischem Gedankengut gearbeitet. Er schob den Stuhl neben sich ein klein wenig in Lisas Richtung und wartete, bis seine neue Kollegin sich gesetzt hatte, ehe er auch er Platz nahm.



»Sie sind neu beim LKA«, stellte der Pensionär distanziert und überaus sachlich fest.



»Da haben Sie recht, ich habe zuvor bei der Kripo in Wilhelmshaven gearbeitet«, antwortete Trevisan wahrheitsgemäß



»Ich bin zwar schon ein paar Tage in Pension, aber noch kenne ich die meisten Kollegen«, fuhr Dittel fort, der wohl gewohnt war, in solchen Unterhaltungen das Wort zu führen. »Sie arbeiten im Dezernat 32, sagen Sie? Ich kenne Kriminaloberrat Engel noch aus seiner Anwärterzeit, ich hoffe, es geht ihm gut.«



»Ich denke schon«, antwortete Trevisan. »Wir haben Ihren Fall auf den Tisch bekommen. Es haben sich neue Umstände ergeben, aber das wissen Sie ja wohl bereits.« Er hatte sich schon gedacht, dass dieser Kollege trotz Pensionierung noch lange nicht mit dem Polizeiberuf abgeschlossen hatte.



»Ich habe davon gehört«, bemerkte Dittel mit gespielter Beiläufigkeit. »Jetzt ist mir auch klar, warum unsere Suche damals erfolglos blieb. Wir haben alles versucht, sogar das Militär wurde von mir um Unterstützung ersucht. Ich kenne General Friedmann von der Luftwaffe sehr gut …«



»Ich habe die Akten gelesen«, fiel ihm Trevisan ins Wort.



Dittel räusperte sich. »Davon gehe ich aus, und deswegen frage ich mich auch, was ich noch für Sie tun könnte. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wir haben alles unternommen.«



»Das steht außer Frage«, antwortete Trevisan, der gegen den Eindruck anging, Dittels Arbeit bewerten zu wollen. Schließlich hoffte er, von dem Mann noch Dinge zu erfahren, die er nicht aus den Akten entnehmen konnte. »Mich interessieren vor allem Ihre Überlegungen und Mutmaßungen. Ich kenne die Art und Weise, wie Polizeiakten angelegt werden. Am Ende fliegt alles heraus, das nicht benötigt wird, und dadurch geht so mancher Ansatzpunkt verloren, der erst einmal im Sande verlief. Aber eine gewisse Zeit später, aus einem anderen Blickwinkel, könnte es durchaus lohnend sein, dieser Spur zu folgen, auch wenn sie noch so vage klingt.«



Dittel lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Trevisan ist Ihr Name? Ich glaube, ich habe schon von Ihnen gehört. Waren Sie im Ermittlungsdienst tätig?«



»Beim FK1 in Wilhelmshaven, ich habe mehrere Jahre das Kommissariat geleitet.«



»Gut, das dachte ich mir schon, sonst hätten Sie mir die Frage nicht gestellt«, antwortete der pensionierte Polizist nachdenklich. »Ich war beinahe dreißig Jahre im Ermittlungsdienst und weiß, was Sie meinen. Meinem Gefühl nach sind beide Mädchen tot. Sie sind dort im Wald ihrem Mörder begegnet. Zufällig, glaube ich. Ich denke noch immer, dass es der Junge war, dieser Apothekersohn. Und er hatte Hilfe. Nicht bei der Tat, aber anschließend, beim Verschleiern der Spuren und beim Beseitigen der Leichen. Bei diesem Mädchen, das oben im Norden aufgetaucht ist, kann es sich nicht um unser Tatopfer handeln. Da liegt sicherlich eine Verwechslung vor.«



»Das DNA-Muster ist identisch«, warf Trevisan ein. »Wissenschaftlich gesehen gibt es keine Zweifel.«



Kriminaloberrat a. D. Dittel rümpfte die Nase. »Das eine ist die Wissenschaft, das andere ist mein Gefühl.«



»Was glauben Sie, ist da draußen am Bannsee passiert?«, fragte Trevisan.



Dittel richtete sich auf. »Sie fuhren mit ihren Rädern auf dem Waldweg bis zur Lichtung und dort ist es passiert. Sie liefen diesem Apothekersohn in die Arme und der ist ausgerastet. Der klassische Fall.«



»Wer könnte ihm geholfen haben, die Leichen und die Spuren zu beseitigen?«, fragte Lisa.



»Er hat einen Vater, fragen Sie doch den.«



»In den Akten steht, dass der Vater ein Alibi hat«, wandte Trevisan ein. »Er kam erst zurück in den Ort, als die Suche bereits …«



»Fragen Sie mich nicht, wie er das geschafft hat«, fiel ihm Dittel ins Wort. »Blut ist dicker als Wasser. Uns ist es nicht gelungen, sein Alibi zu erschüttern. Er hielt einen Vortrag in Hamburg, aber das wissen Sie ja bereits.«



»Was macht Sie so sicher, dass es der Junge war?«, fragte Trevisan.



»Wir hatten Zeugen, die ihn etwa zur angenommenen Tatzeit am Waldrand unweit von diesem Gehöft gesehen haben«, erklärte Dittel. »Ich habe einen Beschluss erwirkt und sein Zimmer durchsucht. Er hatte die Kette eines der Mädchen dort versteckt und rastete aus, als wir sie fanden und ihm wegnahmen. Zu viert mussten wir ihn bändigen, der hatte Bärenkräfte. Ein riesiger und jähzorniger Kerl mit dem Verstand eines kleinen Kindes, was glauben Sie, was der alles anrichten kann. Es war unverantwortlich, ihn einfach so herumlaufen zu lassen.«



Trevisan lächelte. »Der Psychiater, der den Jungen damals untersuchte, ist da ganz anderer Auffassung.«



Dittel wischte Trevisans Einwand mit einer Handbewegung fort. »Er schleicht dort im Wald herum und trifft auf die Mädchen und sie geraten in Streit, dann passiert es und ehe sich die Mädchen versehen, sind sie tot. Irgendwie informiert er seinen Vater, der die Leichen beseitigt, doch die Kette übersieht er. Anschließend schnappt sich der Vater den Rucksack eines der Opfer und wirft ihn weit entfernt von Tennweide auf einem Rastplatz an der Autobahn in ein Gebüsch, damit er gefunden wird und alle glauben, der Täter stammt nicht aus dem Ort. Danach kehrt er in den Ort zurück und tischt uns die Geschichte von diesem Seminar auf. Sagen Sie selbst, Herr … Herr …, das klingt doch plausibel. Ich konnte ihm nur nicht nachweisen, dass er das Seminar bereits vor siebzehn Uhr verlassen hat. Sie glauben gar nicht, wie sehr mich das beschäftigt.«



»Trevisan«, antwortete Trevisan. »Trevisan ist mein Name und ich bin ehrlich gesagt nicht Ihrer Meinung. Außerdem gibt es da eine DNA-Spur am Rucksack …«



»… die nichts mit dem Fall zu tun haben muss«, schnitt ihm Dittel abermals das Wort ab. »Wer weiß, wie lange der Rucksack dort schon lag und wie viele neugierige Passanten da schon dran waren. Nein, ich bin felsenfest davon überzeugt, der Junge war es und der Vater hat die Drecksarbeit übernommen, damit sein Sohn nicht in eine geschlossene Anstalt muss. Und es hat ja auch geklappt. Die Justiz ließ ihn wieder laufen, nachdem ich einen Unterbringungsbefehl gegen ihn erwirkte.«



»Sie haben recht, die DNA-Spur muss nicht zwangsläufig vom Täter stammen«, stimmte Trevisan zu. »Aber die Lage der Spur zwischen den Trageriemen spricht nicht unbedingt für eine flüchtige Berührung. Außerdem lag der Rucksack in der Nähe des Walsroder Kreuzes. Erklären Sie mir, wie hätte der debile Junge den dort ablegen können? Er war nicht mobil und sein Vater war an diesem Tag in Hamburg.«

 



»Ich weiß nicht, wer ihm geholfen hat, aber für mich steht fest, dass es der Junge war. Der Richter hatte Bedenken und ließ ihn wieder laufen, weil ein Gutachter zur Auffassung kam, dass der Apothekersohn zu koordiniertem Handeln nicht in der Lage ist. Und ich hatte nur das Kettchen in der Hand. Das war dem Richter zu wenig.«



Trevisan schüttelte den Kopf. Dieser Mann hatte sich in seine Geschichte verrannt und es war sinnlos, mit ihm weiter darüber zu sprechen. Er erhob sich und lächelte freundlich.



Lisa räusperte sich. »Sie halten wohl nicht viel von moderner Forensik und wissenschaftlichen Methoden.«



»Wir ließen damals umgehend ein DNA-Profil der Mädchen erstellen«, entgegnete Dittel bissig. »Ich war selbst dabei, als wir die persönlichen Gegenstände der Mädchen bei den Eltern abholten. Ich sperre mich also überhaupt nicht gegen moderne Ermittlungsmethoden, ich behaupte nur, dass Wattestäbchen und Reagenzgläser keine echte Ermittlungsarbeit ersetzen können.«



»Es wurden mittlerweile sehr viele Altfälle durch wissenschaftliche Methoden geklärt«, widersprach Lisa.



»Ach, Mädchen«, antwortete Dittel hochmütig. »Ich war über vierzig Jahre im Ermittlungsdienst tätig. Ich habe Dinge erlebt, die Sie mir kaum glauben werden. Ich vertraue nur einem.«



»Und das wäre?«, fragte Trevisan.



Dittel fasst sich an seine Nasenspitze. »Meinem kriminalistischen Spürsinn«, antwortete er.



Trevisan kratzte sich an der Stirn. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche, die er dem ehemaligen Polizisten reichte. »Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen«, sagte er mit gespielter Freundlichkeit. »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt …«



»Eine schöne Floskel«, antwortete der Kriminaloberrat. »Wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie zugeben, dass ich Sie eher verwirrt habe, als Ihnen Klarheit zu verschaffen. Aber grüßen Sie mir Ihren Dezernatsleiter, ich wusste schon damals, dass er es weit bringen wird.«



»Sicher«, entgegnete Trevisan und reichte Dittel die Hand.



*



Justin Belfort hatte über seine Redaktion einen Notfallservice verständigen lassen, der die zerstochenen Reifen vor Ort austauschte. In der Zwischenzeit hatte er seine Redaktionsassistentin angewiesen, über Padborg und die ominöse Rockergruppe Erkundigungen einzuziehen. Vielleicht hatte dieser Dorfpolizist recht und die Entführung der jungen Frauen vor drei Jahren hatte etwas mit der Sache zu tun.



In der Zwischenzeit lehnte er am Geländer und schaute dem Reifenmonteur zu.



»Das war saubere Arbeit«, verkündete der Mechaniker, seinem Teint nach ein Südländer.



»Zerstochen, oder?«, fragte Justin.



»Hundert Prozent«, bestätigter der Monteur. »Beide, war wohl ein Stilett oder so was.«



Justin nickte. Sein Handy klingelte und Sina Stühr, seine Redaktionsassistentin, war am Apparat.



»Vor fünf Tagen wurden tatsächlich sieben Rocker in Padborg von der dänischen Polizei verhaftet«, erzählte sie. »Die Gruppierung nennt sich Black Lions. Sie hausten in einem Anwesen vor der Stadt. Es gab Hinweise auf einen Drogendeal. Die Polizei stürmte das Anwesen und fand beinahe ein Kilo Heroin. Bei der Durchsuchung stießen sie auf einen Gewölbekeller, in dem die Kerle zwei junge Frauen eingesperrt hatten. Es waren Russinnen, die von den Rockern festgehalten und zum Sex gezwungen worden waren. Die Kerle sitzen jetzt im Gefängnis und werden wohl so schnell nicht mehr herauskommen. Sie haben auf die Polizei gefeuert und zwei Beamte des Einsatzkommandos verletzt. Einer der Rocker wurde bei dem Feuergefecht getroffen und erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen.«



»Du musst herausfinden, wer die Ermittlungen leitet«, sagte Justin. »Vielleicht hängt das mit dieser Sache hier zusammen.«



»Ich habe meine Fühler bereits ausgestreckt«, antwortete Sina. »Schließlich arbeite ich schon lange genug für dich.«



»Dann sag Monika, dass ich nach Padborg muss, wenn ich hier fertig bin.«



»Bleibst du noch lange?«



»Ich fahre morgen zurück. Ich will sehen, ob ich an den Vater des Jungen herankomme, den die Polizei damals verhaftet hat. Aber die Leute hier sind nicht gerade nett zu mir, ich komme mir vor wie eine Pestbeule und einen Bullen habe ich auch ständig