Januargier

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Kapitel 10

Der Morgennebel hatte sich gelichtet, die Sonne Oberhand gewonnen. Das ungleiche Pärchen hatte das Wiener Café gemeinsam verlassen und schlenderte nun die Osterstraße entlang. Erika Modder und Peter Petrov gingen vorbei am Hochzeitshaus und bogen am Bäckerscharren, der sich im Erdgeschoss eines jahrhundertealten Fachwerkhauses befand, nach links in die Bäckerstraße ein. Modder blieb plötzlich zum Erstaunen von Petrov stehen – sie drehte sich um, rückte mit dem krummen Zeigefinger ihrer rechten Hand die Nana-Mouskouri-Brille auf ihrer Nase zurecht und zeigte wie ein kleines Kind, das sich in der Schule zu Wort melden wollte, auf die Marktkirche, auf deren mit Grünspan überzogener Turmspitze aus Kupfer ein goldfarbenes Schiff in der Sonne glitzerte.

„Schau mal, da bin ich getauft und konfirmiert worden, da habe ich geheiratet, da bin ich Mitglied im Kirchenvorstand, da hat der Gedenkgottesdienst für meinen lieben Otto stattgefunden“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel. „Eine sehr schöne Kirche“, sagte Peter Petrov und heuchelte Bewunderung vor. „Aber, sag mal ... Warum hat diese Kirche denn da oben ein Segelschiff, wo andere einen Wetterhahn haben?“, wollte er wissen. „Wir sind doch hier nicht am Meer ...“, schob er hinterher.

Erikas traurige Miene erhellte sich. Sie freute sich, dass sich Peter für die Kirchengeschichte zu interessieren schien. „Aber an einem Fluss ...“, sagte sie und lächelte milde. „Du musst wissen: Auf der Weser war früher ganz schön viel los. Guck dich doch mal um ...“, sie zeigte auf die Häuser rechts und links von ihr. „Siehst du die vielen Holzbalken, aus denen die ganzen Fachwerkhäuser errichtet wurden, und die schweren Sandstein-Quader, mit denen das Hochzeitshaus gebaut wurde? Die sind damals alle mit Schiffen nach Hameln gebracht worden. Du musst wissen, die Sankt-Nicolai-Kirche wurde im 13. Jahrhundert errichtet. Sie ist die zweitälteste in Hameln. Der Name, also Nicolai, kommt von dem heiligen Nikolaus ...“ Sie hielt kurz inne, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, ob er ihr folgen konnte. „Du kennst doch bestimmt den Bischof aus Myra aus dem 4. Jahrhundert, oder? Im Mittelalter war dieser Mann sehr populär und eben auch der Schutzheilige der Schifffahrt. Und da schließt sich der Kreis.“

„Hm ... Verstehe“, Petrov rieb sich das Kinn und tat so, als würde er angestrengt nachdenken. „Du meinst, das vergoldete Wetterschiff auf der Kirchturmspitze symbolisiert die Hochzeit der Weserschifffahrt ...“ Was Peter Petrov wirklich dachte, behielt er lieber für sich. Erika Modder nickte eifrig. Ihre schwarze Brille hüpfte auf ihrem Nasenrücken auf und ab. „Ja, genau.“

Blöde Kuh, dachte Petrov und entfernte sich ein paar Schritte von der Frau, die er so schnell wie möglich töten und berauben wollte. Hauptsache, die Alte kommt jetzt nicht auf die Idee, mir die Kirche von innen zu zeigen. Während Erika Modder verzückt vor dem Gotteshaus stand und den Tauben zusah, die sich auf dem Pferdemarkt niederließen, um Brotkrumen aufzupicken, die ein alter Mann mit Gehstock ausgestreut hatte, trat Petrov nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte seine Hände tief in den Taschen seiner Blue Jeans vergraben und den Kragen seiner braunen Lederjacke hochgeschlagen. Ihm war kalt. Vielleicht konnte er es aber auch nur nicht erwarten, die Villa der blauäugigen Unternehmerwitwe zu betreten. Sicher brannte dort ein Kamin, hatte Erika einen alten Cognac oder einen teuren Whisky im Schrank. Er würde die einsame Dame nach allen Regeln der Kunst umgarnen und wie eine Spinne einwickeln. Sie war ihm ins Netz gegangen, schon bald war die Zeit gekommen für den tödlichen Stich. Aber noch muss ich das dumme Gequatsche der Alten ertragen, dachte er. Er fror. „Komm, lass uns gehen“, forderte er sie auf. „Der Wind ist eisig. Nicht, dass wir uns hier noch einen wegholen.“

Erika Modder hätte ihrem Verehrer gern noch die Kirche von innen gezeigt. Aber sie wusste, dass es in dem uralten Gemäuer äußerst fußkalt sein würde. Sie ging lächelnd auf Peter Petrov zu und hakte ihn unter. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich bei dir einhake, oder?“, fragte sie ihn – und es hatte den Anschein, als himmele sie ihn an. „Ich meine nur ... Wir kennen uns ja eigentlich gar nicht.“ Petrov zog sie näher zu sich heran. „Aber nein ... Ganz im Gegenteil. Es ist mir eine Freude, mit einer so klugen und attraktiven Frau spazieren zu gehen.“ Erika Modder strahlte und lief rot an. Sie schien in diesem Moment von Amors Pfeil getroffen zu sein, fühlte sich seit vielen Jahren erstmals wieder geliebt und respektiert – und das von einem viel jüngeren Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte. War das Liebe auf den ersten Blick? Oder wurde sie heimlich gefilmt und sah sich in ein paar Wochen in der Sendung „Verstehen Sie Spaß“ wieder? Nein, dachte Modder, die sehr gläubig war, diesen geheimnisvollen Fremden hat mir der liebe Gott gesandt. Er will, dass ich noch einmal glücklich werde. Die Witwe hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch. Ein Cocktail aus Hormonen rauschte durch die Blutbahn und vernebelte ihr regelrecht die Sinne. Ihr Körper schüttete in diesem Moment jede Menge Hormone aus. Dopamin ließ sie auf Wolke sieben schweben, Adrenalin und Cortisol machten sie impulsiv und noch viel aktiver, als sie ohnehin schon war – die Hormone spielten verrückt, ließen ihr Herz schneller schlagen und schalteten ihren Verstand aus. Erika Modder war in einem Erregungszustand, sie hatte das Gefühl, auf Droge zu sein.

Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes Otto hatte sie sich dazu entschlossen, nicht länger allein zu bleiben und noch einmal einen Partner fürs Leben zu finden. Sie hatte sich vor zwei Wochen dazu durchgerungen, in der Wochenendausgabe der Deister- und Weserzeitung eine Kontaktanzeige zu schalten – und hatte unter Chiffre Zuschriften erhalten. Dass sie von dem Mann, der ihr geschrieben und sich als Apollo vorgestellt hatte, versetzt worden war und ein teuflischer Don Juan in die Rolle des schüchternen Liebesbriefschreibers geschlüpft war, ahnte sie nicht. Wie sollte sie auch? Es war eingetreten, wovon sie nie zu träumen gewagt hätte – ein gut aussehender Mann flirtete mit ihr. Wie alt er war, wusste sie nicht. Sie hatte sich nicht getraut, ihn danach zu fragen, um das erste Gespräch nicht auf das Thema Altersunterschied zu lenken.

Erika Modder war eigentlich ein Vernunftmensch, eine, der man so leicht kein X für ein U vormachen konnte, eine, die sich nicht von ihren Gefühlen leiten ließ. Aber in diesem Moment wurde sie – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – von ihren Gefühlen beherrscht. Sie wunderte sich über sich selbst. Wie ein Teenager hatte sie sich Hals über Kopf verknallt in diesen Typen. Erika legte ihren Kopf auf seine Schulter – und sie setzten ihren Weg durch die Altstadt in Richtung Münsterkirchhof fort. Modder war Historikerin, hatte als Professorin an der Universität Potsdam Geschichte des Altertums gelehrt. Ihr kam Platon in den Sinn. Der berühmte griechische Philosoph hatte gesagt: „Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit.“ Und das stimmte wohl auch – irgendwie zumindest. Wie bei frisch verliebten Menschen üblich, benahm sich nun auch Erika Modder sonderbar – sie war nur auf das Objekt ihrer Liebe fixiert, sie wollte nur noch mit Peter Petrov den Rest des Tages verbringen und hoffte darauf, dass er bei ihr über Nacht bleiben würde. Ach, wie vermessen ist das denn, dachte sie. Ich darf jetzt nichts überstürzen, ihn nicht unter Druck setzen, sonst wird er sich von mir abwenden. In seiner Nähe fühlte sie sich wohl und geborgen. Ich will ihn nicht verlieren.

Auch Peter Petrov dachte nach – seine Schläfen bewegten sich auf und ab. In ihm arbeitete es. Wie sollte er es anstellen, dass sie ihn zu sich nach Hause einlud? Am besten heute noch ... Sie durfte ihm nicht von der Fahne gehen. Er hatte einen dicken Fisch am Haken und musste ihn nur noch an Land ziehen. Aus den Augenwinkeln sah er sie angewidert an. Er hätte ihr Sohn sein können, war locker zwanzig Jahre jünger als sie. Was bildet sich diese alte Schachtel bloß ein?, fragte er sich. Glaubt die allen Ernstes, dass ich mich in sie verliebt habe? Er sog verächtlich scharf Luft durch die Nase ein. „Hast du dich erkältet?“, wollte Erika wissen. „Nein, nein ... Alles gut“, beeilte er sich zu sagen. „Aber ein bisschen kalt ist mir schon. Dir etwa nicht?“

Sie zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln. „In deiner Nähe nicht ... Aber wir könnten zu mir fahren. Ich mache uns einen schönen Grog oder einen Pharisäer. Der wärmt uns von innen. Was meinst du?“ Petrov konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen – er hatte sein Ziel erreicht. „Au ja! ... Das wäre jetzt genau das Richtige. Ein Pharisäer, der täte uns gut.“

Erika Modder freute sich, dass es Peter Petrov nicht sofort abgelehnt hatte, mit zu ihr zu kommen. Sie würde ihm den besten Pharisäer zubereiten, den er jemals getrunken hatte – aus frisch aufgebrühtem Kaffee, zwei, drei Stückchen Zucker, einem ordentlichen Schuss Übersee-Rum und einer Portion Schlagsahne. Früher, als Otto noch lebte, hatten sie oft Urlaub in Kampen auf Sylt gemacht und das heiße Nationalgetränk der Insulaner im berühmten Sandy-Beach-Club durch eine kühle Sahnehaube geschlürft. Wie schön, dass auch Peter diese Kaffeespezialität mochte. Seit Ottos Tod hatte sie keinen Pharisäer mehr getrunken. Heute freute sie sich darauf.

Peter Petrov hatte keine Ahnung, von welchem Getränk Erika Modder sprach. Er tat nur so, um sie bei Laune zu halten. „Sag mal, äh, was machst du eigentlich in diesen Pharisäer rein? Rum oder Whisky?“ Die verliebte Witwe blieb stehen und sah ihn fragend an. „Wieso jetzt Whisky? Du meinst wohl Rüdesheimer Kaffee, oder?“ Petrov fühlte sich ertappt, er sah ein, dass sein Bluff aufgeflogen war, zog die Notbremse. „Ach ja ... Entschuldige bitte ... Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht so gut aus. Ich trinke nur sehr wenig Alkohol, weißt du, ich bin schnell beschwipst“, sagte er.

 

Erika lachte herzlich. „Ein Mann, der nicht trinkt und an Kultur interessiert ist ... Na, das lob ich mir. So einen Kerl wünscht sich jede Frau.“

Sie schwiegen einen Moment lang. Dann kam bei

Erika Modder die Professorin durch. „Weißt du, wie der Name Pharisäer entstanden sein soll – ich meine, für das Getränk?“ Petrov schüttelte wortlos den Kopf. „Also, die Geschichte geht so: Auf einer Hallig soll es einmal einen Pastor gegeben haben. Es heißt, der Geistliche habe seiner Kirchengemeinde verboten, Alkohol zu trinken. Die Leute taten so, als würden sie sich daran halten. In Wirklichkeit haben sie sich aber Rum in den Kaffee gegossen. Als der Pfarrer einmal versehentlich seine Tasse verwechselte, wurde ihm klar, dass die Leute ihn getäuscht hatten. Erbost soll er gerufen haben: ,Ihr Pharisäer!‘ Tja, und so ist der Kaffee zu seinem ungewöhnlichen Namen gekommen.“

„Ja, ja ... Ich habe davon gehört“, log Petrov.

„Du wirst sehen: Mein Pharisäer ist genauso gut wie der im Sandy-Beach-Club. Warte es ab. Du wirst begeistert sein.“ Sie tätschelte seine Wange, legte wieder ihren Kopf auf seine Schulter, als sie am Ende des Kopmanshofs die Treppe zum Europaplatz hinabstiegen. Erika Modder hatte ihr rotes Mercedes-Cabriolet in der Tiefgarage, die sich unterhalb der Rattenfängerhalle befand, abgestellt. „Apropos Pharisäer ... Mein verstorbener Mann hat immer gesagt: Das ist ein Kaffee, an dem man seine Hände, sein Herz und seine Seele wärmt. Ach ja, der Otto ... Gott hab ihn selig.“

Ein paar Minuten später steckte Erika Modder den Parkschein in den Schlitz des Automaten und bezahlte mit einem Zehn-Euro-Schein. Das ungleiche Paar steuerte kurz darauf auf Erikas Mercedes-Benz 190 SL Cabrio, Baujahr 1963, zu. „Oh, mein Gott, was für ein wunderschönes Auto“, sagte Peter Petrov begeistert. „Wow. Gefällt mir. Super gepflegt. Sieht ja aus wie neu ...“

Erika Modder schloss die Fahrertür auf, setzte sich hinter das Steuer, beugte sich über die Mittelkonsole und den schwarzen Ledersitz, um per Hand die Beifahrertür zu öffnen. „Ja, das ist ein Schätzchen. Der Wagen war der ganze Stolz von meinem Otto. Da hängen viele Erinnerungen dran ...“ Die Professorin steckte den Schlüssel ins Schloss und startete die 1,9-Liter-Maschine. Der 105 PS starke Motor des 57 Jahre alten Sportwagens surrte leise wie eine Nähmaschine. Erika Modder war in diesem Moment sehr glücklich, sie ahnte nicht, dass sie in vier Stunden tot sein würde.

Kapitel 11

Doktor Karl Mertens saß angespannt auf seinem Bürostuhl, der bei jeder Drehung quietschte, und knetete mit seinen Fingern die schwarzen Armlehnen durch. In dem abgewetzten Kunstleder hinterließen seine Fingernägel kleine Kerben, die aussahen wie abnehmende Monde. Der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule in Hannover hatte sich in sein Arbeitszimmer, das kaum größer als eine deutsche Gefängniszelle war, zurückgezogen und dachte darüber nach, mit welchen Worten er Kurt Brenner wohl am schnellsten davon überzeugen konnte, einer toxikologischen Laboranalyse zuzustimmen. Im Fall Nadja Stern hielt er das für dringend angebracht. Mertens hoffte, dass das der leitende Ermittler und der zuständige Staatsanwalt genauso sehen würden. Aber die Erfahrung zeigte: Nicht immer hörten Behördenvertreter auf den Rat der Experten. Es ging letztlich um die Frage: Wer soll das bezahlen? Der erfahrene Rechtsmediziner schob seine Unterlippe vor und betrachtete minutenlang den „Rausch in Rot“‘ an seiner Wand. Danach stand fest: Er würde den Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte mit Argumenten auf seine Seite ziehen können. Schließlich musste Brenner dem Staatsanwalt die Zusage abringen, bei der Suche nach Hinweisen auf ein Fremdverschulden tiefer als sonst zu graben. Mit beiden Händen packte Mertens die leicht abgerundete Kante der Resopalplatte mit Eichenholz-Optik und zog sich auf seinem in die Jahre gekommenen Chefsessel näher an seinen Schreibtisch. Die Rollen seines Drehstuhls produzierten Quietschgeräusche. Der Anwalt der Toten zog eine Schublade auf, in der er zahlreiche Visitenkarten aufbewahrte. Die Karte von Brenner lag zuoberst auf dem Stapel. Mertens nahm die Visitenkarte heraus, legte sie vor sich auf die transparente Tischauflage, nahm dann den Hörer seines Dienstapparats ab und wählte die Nummer des Ersten Kriminalhauptkommissars. Während es tutete, schaute der Gerichtsmediziner aus dem Fenster. Ein paar Meter unter ihm herrschte geschäftiges Treiben.

Auffallend viele Menschen, die weiße Kittel oder blaue Kasacks trugen, eilten am Institut vorbei. Mertens fragte sich, wohin die MHH-Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger zu dieser Stunde wohl gehen würden. Er schaute auf die Uhr: kurz vor elf. Für einen Gang zur Kantine war es noch zu früh. Mertens wurde von einem Knacken, das in sein rechtes Ohr drang, aus seinen Gedanken gerissen. „Brenner, FK1 ... Guten Tag“, meldete sich der Leiter des Fachkommissariats 1, das für so ziemlich alle Straftaten zuständig war, die sich gegen das Leben richteten. Die Bandbreite war groß und ließ die Ermittler mitunter in die Abgründe der menschlichen Seele blicken – das Tätigkeitsspektrum reichte von Mord und Totschlag, Tötung auf Verlangen und fahrlässiger Tötung über gefährliche und schwere Körperverletzung, Brandstiftung mit und ohne Todesfolge bis Vergewaltigung und Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen. Doktor Mertens räusperte sich. „Hallo, Herr Brenner! Hier spricht Doktor Mertens von der Rechtsmedizin in Hannover. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.“

Brenner war erstaunt. Es kam eher selten vor, dass er von einem Rechtsmediziner angerufen wurde. Der 1,94-Mann drückte die Hörkapsel seines Telefons fester an sein linkes Ohr, fischte sich einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Er war gespannt, was ihm Doktor Mertens mitteilen wollte. „Ich grüße Sie, Herr Doktor Mertens. Was verschafft mir die Ehre?“ Der Kriminalbeamte schätzte den Gerichtsmediziner – er arbeitete schon seit vielen Jahren mit ihm zusammen, hielt ihn für einen der besten medizinischen Forensiker in Deutschland. „Nun, Herr Brenner ... Äh ... Also, es ist so. Sie erinnern sich doch an die Leiche von Nadja Stern?“ Mertens machte eine Sprechpause. Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, da er ganz genau wusste, wie Brenners Antwort lauten würde. „Ja, sicher ... Selbstverständlich.“ Der Erste Kriminalhauptkommissar legte seine Stirn in Falten – seine Stimme klang amüsiert. „Herr Doktor Mertens, Sie haben die Leiche gemeinsam mit ihrem Kollegen in meinem Beisein obduziert. Das ist ...“, Brenner sah auf seine Armbanduhr, „... nicht einmal 24 Stunden her. Ich bin zwar schon ein älteres Semester, aber so vergesslich bin ich dann doch wieder nicht. Was ist denn mit der Leiche? Ist sie etwa verschwunden?“

Mertens war die Sache unangenehm. Er hatte vorhin so lange darüber nachgedacht, wie er das Gespräch mit dem obersten Mordermittler von Hameln beginnen würde – und nun hatte er gleich zu Beginn des Telefonats Blödsinn geredet. Natürlich konnte sich Brenner an die Autopsie erinnern. Er musste ihn für einen Volltrottel halten. „Nein, nein ... Die Leiche ist noch bei uns im Institut. Wie sollte es auch anders sein. Wir haben ja noch keine Freigabe von der Staatsanwaltschaft erhalten, sie vom Bestatter abholen zu lassen – und das ist in diesem Fall auch gut so. Wir, also Doktor Martin und ich, haben uns die Tote heute ein zweites Mal angeschaut und dabei etwas entdeckt, dass durchaus ein Hinweis auf ein Tötungsdelikt sein könnte.“ EKHK Brenner sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl hoch. Unbeabsichtigt zog er dabei den Telefonapparat an der Schnur quer über seinen Schreibtisch, was nicht ohne Folgen blieb: Die Tasse Kaffee, die er auf einer dicken Ermittlungsakte abgestellt hatte, landete im hohen Bogen auf dem Fußboden. Es klirrte. Scherben verteilten sich auf dem Linoleum-Belag, kalter Kaffee bildete eine Pfütze. „Scheiße“, schrie Brenner. Mertens war über diese heftige Reaktion des Kommissars einigermaßen erstaunt. Er hatte nicht mitbekommen, dass dem Mord­ermittler ein Malheur passiert war. „Äh ... Ja, wenn sich unser Verdacht bestätigt, dann haben wir es mit einem ganz perfiden Täter zu tun.“ Der Leiter des FK1 beschloss, die Sauerei auf dem Fußboden fürs Erste zu ignorieren. „Ich habe nicht Sie gemeint, Herr Doktor Mertens“, war Brenner um Aufklärung bemüht. „Sorry. Meine halb volle Kaffeetasse ist gerade in tausend Stücke zersprungen. Sprechen Sie bitte weiter. Was ist das für eine neue Spur, auf die Sie da gestoßen sind? Und warum haben Sie noch eine Leichenschau durchgeführt? Gestern sagten Sie mir doch, die Untersuchung sei abgeschlossen. Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht.“

Doktor Mertens holte tief Luft. Die Frage nach dem Warum überhörte er. „Es ist vorerst nur ein Verdacht. Wir haben die Tote erneut nach Einstichstellen abgesucht und dabei auch die Kopfhaut und den Schambereich rasiert. In der Kopfschwarte haben wir eine winzige Punktion entdeckt. Es scheint uns, also mir und dem Kollegen Martin, eher unwahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Insektenstich handelt.“

Brenner leckte sich über die Lippen. „Das wäre ja ein dickes Ding. Das hieße ja, wir hätten es mit einem Täter zu tun, der seinem Opfer mit einer ganz feinen Nadel Gift injiziert – und zwar an einer Stelle, die man leicht übersehen kann ...“

„Genauso ist es“, bestätigte der Rechtsmediziner. Der Mordermittler setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Dabei achtete er darauf, nicht in den Scherbenhaufen zu treten. „Und was schlagen Sie jetzt vor, Doc?“

Auf diese Frage hatte Mertens gewartet. „Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, Klarheit zu erlangen und die Wahrheit herauszufinden ...“

„Ja, und die wäre?“, unterbrach ihn Brenner ungeduldig.

„Wir müssen die Haut und das Unterhautfettgewebe rund um die mögliche Einstichstelle herausschneiden und die Gewebeprobe von unserem Labor auf Drogen, Medikamente und andere todbringende Substanzen untersuchen lassen. Natürlich sollten auch Leichenblut und Urin analysiert werden.“

Brenner strich sich mit der flachen Hand über seine Glatze. „Hm ... Verstehe. Und ich soll jetzt die Staatsanwaltschaft dazu bringen, grünes Licht für diese Untersuchung zu geben, richtig?“

„Herr Brenner, Sie haben es erfasst. Es geht mal wieder um den schnöden Mammon. Sie kennen doch den Spruch: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen. Ohne Auftrag der Polizei oder der Staatsanwaltschaft dürfen wir nicht tätig werden. Da sind mir als Rechtsmediziner die Hände gebunden – leider. Wir tragen zwar im günstigsten Fall dazu bei, dass die Kripo ein Tötungsdelikt aufklären kann, aber – anders als im Fernsehen – ermitteln wir nicht selbst, wie Sie wissen.“

„Äh ...“ Der Mordermittler kratzte sich an der Stirn. „Herr Doktor Mertens, sagen Sie mal: Könnte ich diese Laboruntersuchungen veranlassen? Oder muss das zwingend ein Staatsanwalt machen?“

„Nun, das ist eigentlich Sache der zuständigen Staatsanwaltschaft. Aber es kommt regelmäßig vor, dass ein erfahrener Polizeibeamter das auf seine Kappe nimmt. Die jungen Kommissare, ja, die fragen immer nach. Die wollen nichts falsch machen und noch was werden; die alten treffen gern selbst die Entscheidung.“

Der Leiter vom Mord und Totschlag musste lachen. „Nachtigall, ick hör dir trapsen“, sagte Brenner im feinsten Berliner Dialekt. „Message received ... Was kostet denn so eine Analyse? Spucken Sie’s schon aus.“

Mertens atmete auf. Der Mordermittler war kurz davor, die Toxikologie der Rechtsmedizin mit weiteren Nachforschungen zu betreuen. „Och, das ist gar nicht so teuer ...“, antwortete der Forensiker. „So cirka 100 Euro.“

Brenner war erstaunt. „Wie? Echt jetzt? Mehr nicht? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Doc. Klar, das nehme ich auf meinen Deckel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient und anders nicht geht, bezahle ich die Rechnung aus meiner Tasche ...“

Mertens war zufrieden. Er hatte sein Ziel erreicht. „Fein, fein. Dann werte ich das jetzt mal als Auftrag.“

„Ja, bitte machen Sie diese Analyse – und rufen Sie mich umgehend an, wenn es in der Sache Stern etwas Neues gibt.“

„Selbstverständlich, Herr Brenner“, sagte der stellvertretende Institutsleiter und verabschiedete sich. „Dann sage ich jetzt erst einmal Tschüss. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag – und bleiben Sie gesund und munter.“

„Ja, das wünsche ich Ihnen auch, Herr Doktor. Wir hören dann voneinander.“ Die Männer beendeten das Telefonat. Während Karl Mertens freudestrahlend die Treppe, die zum Sektionssaal führte, hinunterging, wählte der Erste Kriminalhauptkommissar Kurt Brenner die Nummer von Miriam von der Heide. Er wollte die Staatsanwältin über die neuesten Entwicklungen im Fall Nadja Stern informieren. Nachdem es am anderen Ende der Leitung dreimal geklingelt hatte, war eine rauchige Frauenstimme zu hören. „Wer stört?“, meldete sich Miriam von der Heide, die mit Brenner befreundet war und anhand der Nummer im Display sofort gesehen hatte, wer sie anrief.

 

„Hallo, Miriam“, sagte Brenner. „Habe ich dich etwa beim Büroschlaf gestört? Ich würde es dir nicht ver­übeln. Power-Napping soll ja sehr gesund sein?“ Der Mordermittler lachte gehässig. Die Staatsanwältin spielte die Empörte: „Du Schuft, du ... Wenn du wüsstest, was ich hier alles zu tun habe. Mein Schreibtisch biegt sich unter der Last der Aktenberge.“

Nach dem nicht ernst gemeinten Wortgefecht informierte Kurt Brenner die ermittelnde Staatsanwältin. Miriam von der Heide hörte sich schweigend an, was der leitende Mordkommissar zu berichten hatte. Nur ab und zu zog sie an ihrer Marlboro, die die Kettenraucherin heimlich in ihrem Büro inhalierte. Brenner gestand ihr, dass er über ihren Kopf hinweg eine Entscheidung getroffen hatte. Staatsanwältin von der Heide hustete Schleim ab. Ihre Zigarette klemmte lässig in ihrem linken Mundwinkel, was ihr ein verwegenes Aussehen verlieh. „Kurt, wir können das hier abkürzen. Du hast alles richtig gemacht. Alles gut ... Das hätte ich genauso gemacht. Bei einem dermaßen gravierenden Verdacht dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich hoffe allerdings, die Rechtsmediziner irren sich.“

Brenner war beruhigt. Seine Entscheidung war im Nachhinein von der Staatsanwaltschaft abgesegnet worden. „Ja, stimmt, es wäre schön, wenn sich das Ganze als Fehlalarm entpuppen würde. Okay, meine Liebe. Dann warten wir mal ab, was die forensischen Toxikologen herausfinden.“

Die Staatsanwältin zog an ihrer Kippe, stieß kurz darauf – für Brenner hörbar – blauen Dunst aus. „Jo, so mok wi dat ...“, sagte sie. „Mach’s gut, Kurt. Und halt mich bitte auf dem Laufenden. Du weißt ja: Ich lebe gern in der Lage.“

„Alles klar“, sagte Brenner. „Versprochen.“

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