Januargier

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Kapitel 8

Neun Uhr dreißig, Hameln, Fußgängerzone. Draußen kämpfte sich die Sonne durch den zähen Frühnebel, der sich im Wesertal viel länger als anderswo gehalten hatte. Der Wind war feucht, eisig und drehte auf Nord­ost. Das Thermometer zeigte an diesem nasskalten Januarmorgen 4 Grad Celsius an. Drinnen war es wohlig warm, roch es nach ofenwarmen Brötchen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Er saß im Café Wien, starrte freudestrahlend auf sein Smartphone und nippte von Zeit zu Zeit an seinem türkischen Mokka. Er fühlte sich wie ein König, hatte Grund zum Feiern. Der Goldpreis stieg von Tag zu Tag. Er war auf Höhenflug. Das zeigte der Realtime-Kurs im Internet bei Börse Online. Er konnte sich nicht sattsehen, hatte schon Dollarzeichen in den Augen. Der Mokka-Trinker glotzte sabbernd auf die sich ständig verändernden Zahlen vor und hinter dem Komma, die abwechselnd grün und rot unterlegt wurden. Er lehnte sich zufrieden zurück und genoss den Wiener Charme, den dieses Kaffeehaus versprühte. Endlich hatte er mal einen Volltreffer gelandet. Holdorfs Gold machte ihn liquide. Vorbei die Zeiten, wo er jeden Cent zweimal umdrehen musste. Er würde die Goldbarren nach und nach zu Geld machen, sie bei verschiedenen Banken verkaufen. So lief er nicht

Gefahr, aufzufallen. Er hob die Hand und winkte eine rot­haarige Kellnerin zu sich. Die junge Frau lächelte ihn fragend an. „Sie wünschen, bitte?“

„Haben Sie Sekt in kleinen Flaschen?“

Die Rothaarige zwinkerte ihm zu. „Ja, klar. Piccolo. Darf ich Ihnen einen bringen, mein Herr?“

Die Frau war Mitte 30, hatte volle rote Lippen, große blaue Augen, hohe Wangenknochen und weiche Gesichtszüge. Auf ihrem Namensschild stand, dass sie Denise hieß. Über ihrem schwarzen kurzen Kleid trug sie eine weiße Schürze mit Rüschen. Er fand ihr Lächeln bezaubernd.

„Ja, bitte. Einen Trockenen, wenn Sie haben ...“ Er blickte ihr tief in ihre Augen. „Ach, eine Frage noch: Darf ich Sie vielleicht auf ein Gläschen einladen?“

Die sommersprossige Kellnerin lief rot an. „Äh ... Nein, danke. Ich habe zu arbeiten. Es ist auch nicht erlaubt, mit Gästen zu trinken“, flüsterte sie und machte auf dem Absatz kehrt.

Wow, was für eine Frau, dachte er und stieß beim Ausatmen einen leisen Pfeifton aus. Er stand auf Rot­haarige, spürte in seinem Schritt Erregung. „Rote Haare und blaue Augen – was für eine seltene Kombination. Voll krass, ey“, sprach er leise zu sich selbst – und leckte sich danach über seine Lippen. Er hatte irgendwann einmal in einem Magazin gelesen, dass Rot die seltenste Haarfarbe war. Nur zwei Prozent aller Menschen weltweit waren von Natur aus rothaarig. Auch blaue Augen wurden nicht dominant vererbt und waren alles andere als häufig. Wenn er sich richtig erinnerte, dann hatten lediglich 17 Prozent der Weltbevölkerung diese Augenfarbe. Diese Sommersprossige war wirklich besonders. In seinem Kopf arbeitete es. In Mathematik war er schon in der Schule spitze gewesen, später hatte er Informatik studiert. Deshalb fiel es ihm nicht schwer, im Kopf auszurechnen, wie selten die Kombination rote Haare und blaue Augen war. Er ging von etwa 7,5 Milliarden Menschen aus, die auf der Erde lebten, und kam auf weniger als 13 Millionen Rothaarige, die blaue Augen hatten. Kein Zweifel – diese Schönheit gehörte zu dieser Spezies Mensch. Während er seine Zunge in die kleine Tasse steckte und den mit viel Zucker versetzten Kaffeesatz aufleckte, überlegte er, wie er Denise in sein Bett kriegen könnte. Während er darüber sinnierte, geriet plötzlich eine andere Frau, die am Nachbartisch Platz genommen hatte, in sein Gesichtsfeld.

Er war wie elektrisiert. Sie mochte Mitte sechzig sein, hatte kurze braune Haare, ein rundes Gesicht und kleine Augen, die von den dicken Gläsern einer schwarzen Nana-Mouskouri-Brille vergrößert wurden. Nicht das Aussehen dieser Frau, sondern der Schmuck, den sie trug, weckte sein Interesse. Das Geschmeide löste einen starken Sabber-Reflex bei ihm aus. Speichel tropfte aus seinem Mund. Seine Augen hatten Gold und Edelsteine erspäht. Ein prächtiges, offenbar mit Brillanten besetztes Collier, an dessen Ende ein kunstvoll gefertigtes Fabergé-Ei baumelte, schmückte ihren faltigen Hals. An ihren Ohrläppchen hingen zwei auffallend große, ebenfalls mit zahlreichen weißen Steinen besetzte Creolen. Am rechten Handgelenk trug die Café-Besucherin eine schwere Goldkette, die mit Rubinen verziert war. An sechs Fingern ihrer mit Altersflecken übersäten Hände trug sie Ringe. Keine Frage: Diese Frau stellte ihren Reichtum zur Schau. Vermutlich war ihr Mann schon längst unter der Erde und hatte ihr ein Vermögen, das sie jetzt verprasste, hinterlassen.

Die rothaarige Kellnerin riss ihn aus seinen Tagträumen. Sie stellte ein Sektglas und die Piccolo-Flasche auf den Kaffeehaustisch und räumte die von ihm ausgeleckte Mokkatasse ab. „Wohl bekomms!“, sagte sie mit einem verführerischen Blick. „Danke“, erwiderte er knapp, öffnete das Fläschchen und goss sich etwas Sekt ins Glas. Aus den Augenwinkeln beobachtete er dabei die Mittsechzigerin. Die Brillanten funkelten im Licht der Tischlampe wie Sterne am Firmament. Er musste diese Klunker haben. Die sind locker zwanzigtausend oder mehr wert. Womöglich hat die alte Schabracke zu Hause noch mehr davon in ihrer Schmuckschatulle, malte er sich aus. Wie ein Raubtier, das zähnefletschend seine Beute ins Visier nimmt, fixierte er die Frau, von der er annahm, dass sie Witwe war. Sie nestelte abwechselnd nervös an ihrer beigefarbenen Seidenbluse und an einer roten Rose, die vor ihr auf der Tischplatte aus Onyx lag, und sah sich von Zeit zu Zeit um. Er schloss daraus, dass die Frau ein Blind Date hatte. Die Rose war offenbar das Erkennungszeichen. Der Mörder dachte nach. Er beschloss, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Er gab der Kellnerin ein Zeichen. Als sie neben ihm stand, winkte er sie zu sich herunter und flüsterte ihr eine Bestellung ins Ohr. „Bitte bringen Sie der Dame dort“, er deutete mit seinem Kopf hinüber zu der Nana-Mouskouri-Bebrillten, „einen Piccolo. Und sagen Sie ihr, die Flasche sei von mir.“

Die Kellnerin sah ihn verwundert an, quittierte den Wunsch aber mit einem „Sehr wohl, der Herr“.

Er erwischte sich dabei, wie er über den Rand seines Sektglases den Schmuck anstarrte und die einzelnen Stücke taxierte. Er befürchtete, dass die Frau am Nachbartisch seine aufdringlichen Blicke bemerken, aufstehen und gehen würde. Das würde die Sache verkomplizieren. Aber die zappelige Mittsechzigerin schien ihn nicht zu bemerken. Sie fummelte immer noch an ihrer Bluse herum und machte Handbewegungen, so als wolle sie unsichtbare Krümel wegwischen. Die Frau schreckte hoch, als die Kellnerin an ihren Tisch trat und ihr den Sekt servierte. „Äh ... Moment ... Das habe ich nicht bestellt“, hörte er sie sagen. Ihre voll klingende weibliche Stimme hatte eine mittlere Tonlage – er empfand sie als angenehm, ja beinahe sexy. Sie passte so gar nicht zum Aussehen dieser älteren Frau. „Von dem Herrn dort drüben“, sagte die Rothaarige und bewegte dabei ihren Kopf in dessen Richtung. Seine Goldmarie lächelte breit. Sie fühlte sich geschmeichelt. „Oh, wie nett.“ Sie nickte ihm zu und füllte das langstielige Glas mit Schaumwein. Kurz darauf prosteten sie sich zu. Der Anfang war gemacht. Jetzt durfte nur nicht das Blind Date auftauchen. Er stand auf, strich seine Krawatte glatt, knöpfte sein Sakko zu und ging zu ihr an den Tisch. „Einen schönen guten Tag ... Ich heiße Peter Petrov. Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?“ Die Mittsechzigerin machte eine einladende Handbewegung. „Aber gern. Bitte, nehmen Sie doch Platz ... Ich heiße Erika.“ Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet, schaute ihn erwartungsvoll an. „Sind wir verabredet?“, fragte sie etwas schüchtern. Er spielte den Charmeur, verstand es, Frauen für sich einzunehmen. „Ich denke, meine Teure, das Schicksal hat uns heute hier an diesem Ort zusammengeführt“, sagte er charmant – und dachte an früher.

Als er jung war, hatte er mit der Loverboy-Masche gearbeitet. Er war ein Meister darin, Frauen um den Finger zu wickeln. Er hatte vielen hübschen Mädchen den Kopf verdreht, sie emotional an sich gebunden – und sie dann gezwungen, für ihn oder andere auf den Strich zu gehen. Skrupel hatte er nicht. Er wollte schon immer möglichst schnell viel Geld machen – und wenig dafür tun. Seine Masche war simpel, aber sehr effektiv. Er hatte sich gezielt an Minderjährige herangemacht, sie am Strand, auf Schulhöfen oder vor Fastfood-Restaurants angesprochen. Zur Kontaktaufnahme hatte er natürlich auch soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Badoo genutzt. Traf sich ein Mädchen mit ihm, war sie so gut wie verloren. Es reichte schon, auf die Gören einzugehen, ein bisschen Verständnis für die Probleme der Pubertierenden zu zeigen oder den Girlies zu sagen, wie gut sie aussahen. Dann hatte er ihnen die große Liebe vorgeheuchelt und blumig von einer gemeinsamen Zukunft gefaselt. Wenn er an diese Zeit dachte, musste er sich noch heute den Bauch halten vor Lachen. Diese jungen unreifen Dinger fielen garantiert auf so ein romantisches Geschwafel rein. Ihre Geilheit und ihre Unerfahrenheit wurden ihnen zum Verhängnis – davon war er überzeugt. War ihm die Kleine erst einmal verfallen, konnte er sie manipulieren, sich zwischen sie und ihre Familie drängen. Schon nach kurzer Zeit hatte die inzwischen unsterblich Verliebte das Gefühl, dass er der Einzige war, der sie verstand. Dann war der Zeitpunkt gekommen, konnte die Falle zuschnappen.

Er hatte den Mädels stets vorgegaukelt, Schulden zu haben und schließlich den alles entscheidenden Satz ausgesprochen: „Du, die töten mich, wenn ich die Kohle nicht zurückzahle. Es gibt nur einen Ausweg. Wenn du für mich mit einem Freund schlafen würdest, dann werden die mir die Schulden erlassen.“ Das hatte ausnahmslos geklappt. Jahrelang hatte er auf diese Weise blutjunge Mädchen für Bordelle rekrutiert. Aber er war älter geworden, arbeitete jetzt lieber mit einer Spritze. Seit Jahren schon beförderte er damit Menschen ins Jenseits – und es machte ihm nichts aus. Seine Opfer waren einsame Frauen und alleinstehende Männer, die etwas auf der hohen Kante hatten. Die Frau, die jetzt vor ihm saß und an ihrem Sekt nippte, würde auch nicht mehr lange leben. Das hatte er längst entschieden.

 

Kapitel 9

Karl Mertens klopfte mit seinen Handflächen die Taschen seines giftgrünen Kittels ab. „Ja, wo ist denn ...? Wo habe ich jetzt wieder dieses Ding hingesteckt?“, fragte er sich leise. Der Rechtsmediziner stand mit dem Rücken zum Fenster. Hinter ihm huschten Gestalten vorbei. Durch das Milchglas, das die medizinischen Forensiker vor neugierigen Blicken schützte, waren nur unscharfe Schatten zu sehen. „Ah, da auf der Fensterbank liegt es ja“, sagte Mertens. Er klang erleichtert, als er abwechselnd in die Augen von Martin und von Schmidt schaute. „Neben unseren scharfen Instrumenten ist das hier“, Mertens hielt triumphierend ein altertümlich wirkendes Diktiergerät in die Höhe, „unser wichtigstes Arbeitsgerät“, sagte er lachend und drückte zweimal auf die Aufnahmetaste. Klack, klack. „Na, ist doch so, oder?“ Der Leitende Oberarzt breitete die Arme aus – er steckte in einem übergroßen Kittel und sah jetzt aus wie der Papst beim apostolischen Segen Urbi et Orbi. Assistenzarzt Martin stimmte der Feststellung seines Chefs zu. „Ja, ja, das ist wohl so. Wenn wir unsere Erkenntnisse, die wir während einer Obduktion gewinnen, auch noch am Tisch handschriftlich protokollieren müssten, dann hätten wir hier einen langen Leichenstau.“

Doktor Mertens rieb seine behandschuhten Hände aneinander, was ein quietschendes Geräusch verursachte. „So, dann wollen wir mal ...“

„Worauf soll ich genau achten?“, wollte Doktor Martin wissen.

„Lass uns bitte gemeinsam jeden Quadratmillimeter Haut absuchen, in jede Hautfalte und in jede noch so kleine Körperöffnung schauen. Du übernimmst die rechte Körperhälfte, ich die linke. Wir sollten uns auch die Augen dieser Frau ein zweites Mal vornehmen.

Fragestellung: Wie sehen die Pupillen, wie sehen die Augäpfel aus?“

Doktor Klaus Martin dämmerte es. Der Alte wollte einen Giftmord und Tod durch Erwürgen ausschließen. „Verstehe, Boss. Die Augäpfel habe ich allerdings gestern schon gecheckt. Keine Hinweise auf Einblutungen in den Bindehäuten und auf den Lidern. Diese Frau hier“, er zeigte auf die Leiche von Nadja Stern, „ist ganz sicher nicht erwürgt worden.“

Mit einer starken Lupe betrachtete Mertens gerade den linken Unterschenkel der Verstorbenen. Zwischen Poren und kleinen Härchen, braunen Leberflecken, winzigen roten Blutschwämmchen und ein paar kleinen Stilwarzen suchte er nach einer mikroskopisch kleinen Verletzung. Er schaute nur kurz zu seinem Assistenten auf und wies ihn an, auch auf der Mundschleimhaut nach Petechien zu suchen. Mertens spielte auf stecknadelkopfgroße Blutaustritte am Kopf an. Sie deuteten auf eine venöse Stauung bei einer Strangulation hin. Leistete ein Opfer heftige Gegenwehr, konnte es dazu kommen, dass zwar die Halsvenen, nicht aber die Schlagadern abgedrückt wurden. Die Folge war, dass feinste Äderchen platzten. Auf der Gesichtshaut waren sie leicht zu erkennen, im Mund und an den Augenlidern mussten Gerichtsmediziner schon genauer hinschauen.

„Hm ...“ Der stellvertretende Institutsleiter hielt kurz inne, bohrte den rechten Schneidezahn in seine Unterlippe. Das tat er immer, wenn er hoch konzentriert an einer Leiche arbeitete. Seine Kollegen bekamen davon nichts mit, denn Mertens trug bei Autopsien stets Mundschutz. Auf seiner hohen Stirn waren allerdings tiefe horizontale Falten zu sehen. „Das ist eine Sisyphusarbeit ...“ Doktor Klaus Martin, der gerade die Zehen des rechten Fußes der Toten mit Daumen und Zeigefinger auseinanderspreizte, stimmte ihm zu. „Ja, Karl, wir suchen nach der Nadel im Heuhaufen.“ Mit seinem Vergrößerungsglas untersuchte Mertens ein Hämangiom. Ihn interessierte, ob sich in den winzigen roten Pünktchen ein Loch befand. Mertens wurde nicht fündig. Anderthalb Stunden brachten sie mit der Suche nach einer Einstichstelle zu. Gemeinsam mit Schmidt, dem Sektions- und Präparationsassistenten, hatten sie die Leiche von Nadja Stern umgedreht und auch die Rückseite der Toten abgesucht – ohne Erfolg. Mertens und Martin waren gefrustet. „Tja ... Das war ein Satz mit x, das war wohl nix“, meinte Doktor Martin. Er klang schadenfroh, bekam wieder Oberwasser. „Ich hab’s dir ja gleich gesagt ...“

In Mertens arbeitete es. Ohne sich zuvor mit Martin abzustimmen, bat er den Präparator, einen Rasierer zu holen. Schmidt drehte sich um, zog eine Schublade auf und hielt eine Schermaschine, die aussah wie ein handelsüblicher Bartschneider, in der Hand. „Voilà!“, meldete er Vollzug. Der Sektionsassistent wollte mit einem Fremdwort glänzen. Mertens war davon nicht beeindruckt. Er war fest entschlossen, das Rätsel um den Tod von Nadja Stern zu lösen. „Herr Schmidt, bitte entfernen Sie das Kopf- und das Schamhaar. Aber ganz, ganz vorsichtig ... Sie dürfen unter gar keinen Umständen die Haut verletzen“, wies er den Sektionsassistenten an.

Doktor Martin verdrehte die Augen. „Du gibst wohl nie auf, oder?“

Mertens überhörte die Frage. Er ging strikt nach dem Ausschlussverfahren vor. „Lass uns das alles noch mal kurz gemeinsam durchgehen.“ Während Hermann Schmidt die Tote rasierte, hob Mertens seine rechte Hand, um die einzelnen Feststellungen mit Daumen und Fingern abzuzählen; in seiner linken hielt er das eingeschaltete Diktiergerät fest umklammert. Klack ... „Fassen wir zusammen. Keine Petechien. Ergo: Sie ist weder erstickt, erwürgt, erdrosselt oder stranguliert worden. Weite Pupillen? Fehlanzeige. Ergo: ABC, also Alkohol, Benzodiazepine, Barbiturate und Cocain, scheiden als Todesursache ebenfalls aus. Halten wir also fest: Keine Hinweise auf eine ABC-Vergiftung. Die Pupillen sind auch nicht eng. Ergo: Morphium, andere Opiate, Heroin oder Nikotin waren offenbar auch nicht im Spiel.“ Klaus Martin unterbrach seinen Chef: „Ähm ... Raucherin dürfte sie gewesen sein. Das sagt uns der Teer, den sie in ihren Lungen hat.“

Mertens grinste. „Ja, da hast du völlig recht, Klaus. Ich meine aber etwas anderes. Wir können davon ausgehen, dass sie nicht eine Zigarette gegessen oder einen Glimmstängel in Wasser aufgelöst und die Lösung getrunken hat. Beides wäre, wie du weißt, absolut tödlich.“

„Das wäre dann Suizid gewesen. Es könnte ihr natürlich auch jemand die Lösung gegen ihren Willen eingeflößt haben. Auch das ist möglich ...“, orakelte er. „Dann hätten wir aber Tabakreste oder braune Flüssigkeit in ihrem Magen finden müssen. Haben wir aber nicht.“

„Stimmt genau“, sagte Mertens und wischte sich mit dem Ärmel seines Kittels ein paar Schweißperlen von der Stirn. „Ihre letzte Mahlzeit bestand aus Pizza-Kräckern, Gouda-Würfeln und Rotwein. Mehr hatte sie nicht im Magen.“ Doktor Martin musterte die Tote. Er kam zu dem Schluss, dass Nadja Stern eine schöne Frau gewesen war. Ihr wachsbleiches Gesicht, ihre blau angelaufenen Lippen und ihre ausdruckslosen Augen konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Martin wurde vom Rattern der Schermaschine aus seinen Gedanken gerissen. Mertens hob den Ringfinger. „Viertens ... Als sie gestern auf unserem Tisch lag, hatte sie keinen Schaum vor dem Mund. Auch als wir fest auf ihren Brustkorb gedrückt haben, ist keine wässrige Flüssigkeit aus Mund oder Nase gelaufen. Ergo: Eine Überwässerung der Lunge, also: Auch ein Ödem können wir ausschließen. Wir hätten das ja auch sofort bemerkt, als wir ihre Lungenflügel aufgeschnitten und untersucht haben. Wir haben nichts Auffälliges gesehen – wenn man einmal von dem Zigaretten-Teer absieht, den sie sich im Laufe der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes reingezogen hat. Fünftens: Sie hat keine hellroten Totenflecke. Und nach Bittermandel riecht die Leiche auch nicht. Ergo: Kein Zyanid, kein Kohlendioxid, keine Anzeichen für einen Kältetod. Was haben wir noch?“

Martin räusperte sich: „Na ja, ihre Haut war nicht gelb, ihre Leber ohne Befund. Ein Leberzerfallskoma, zum Beispiel durch eine Pilzvergiftung, können wir auch ausschließen.“

„Sie hatte ja auch keine Reste einer Pilzmahlzeit in ihrem Magen“, gab Mertens zu bedenken. „Stimmt“, pflichtete ihm Martin bei. „Eine Vergiftung mit Arsen oder Thallium können wir auch ausschließen. Weder die Finger- noch die Zehennägel weisen Mees-Nagelbänder auf. Ergo: Keine mattgrauen Querstreifen – also kein Hinweis auf eine Intoxikation mit Halb- oder Schwermetallen. Um genau zu sein – zumindest können wir in diesem Fall diese beiden chemischen Elemente ausschließen. Hm ... Tja, bleibt eigentlich nur ihr Gehirn. Das ist auffallend klein.“ Doktor Mertens blickte auf eine weiße Tafel, auf der Organe aufgelistet waren. Dahinter hatte der Sektionshelfer nach dem Wiegen handschriftlich das Gewicht von Herz, Hirn, Lunge, Leber und Nieren vermerkt. „Stammen die Gewichtsangaben von unserer Leiche hier?“, wollte Mertens von Schmidt, der in der Zwischenzeit sämtliche Haare an der Leiche entfernt hatte und gerade Löcher in die Luft guckte, wissen. Der Präparator hatte offenbar nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Die Ärzte schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein. „Äh ... Sorry, ich war gerade nicht auf Empfang. Welche Angaben meinen Sie genau?“ Der stellvertretende Institutsleiter rümpfte die Nase und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er hasste es, wenn seine Mitarbeiter nicht bei der Sache waren. „Na, die Angaben, die dort hinter Ihnen auf der Tafel stehen ...“ Mertens zeigte auf die Tafel. Hermann Schmidt blickte sich verstohlen um. „Ach so, die meinen Sie. Ja, die sind noch von dieser Leiche.“

Mertens nahm die Werte ins Visier. „Tja, das ist wirklich seltsam. Ihr Gehirn wiegt nur 1150 Gramm. Normal wären 1300 Gramm, vielleicht auch etwas mehr. Jedenfalls so um den Dreh rum. Hm ... Trotzdem hatte Frau Stern eine Hirnschwellung, die aber nicht todesursächlich war. Sonderbar ...“

„Klarer Fall von Hirnatrophie“, meldete sich Doktor Martin zu Wort. „Ja, Gehirnschwund. Das ist schon klar. Der Mensch verliert ab dem 20. Lebensjahr etwa 50000 bis 100000 Hirnzellen täglich. Aber das erklärt nicht diese ausgeprägte Atrophie.“

„Sie war starke Raucherin“, warf Martin ein. „Das könnte davon kommen.“

Doktor Mertens rieb sich mit dem Ärmel des Kittels nachdenklich sein Kinn. „Dafür kann es viele Ursachen geben: Alzheimer, Demenz, Multiple Sklerose, Alkoholmissbrauch und haste nicht gesehen. Aber Frau Stern war erst 35. Was ich damit sagen will: Neurodegenerative Erkrankungen scheiden bei einer so jungen Frau eigentlich aus – und sie hatte auch keine Säuferleber.“

Präparator Schmidt mischte sich ein: „Ich will ja das Fachgespräch der Herren Doktoren nicht unterbrechen. Aber ich wäre dann so weit ...“

Die Rechtsmediziner schauten den Sektionsassistenten fragend an. „Na ja, ich sollte Kopf- und Schamhaare entfernen, und das habe ich getan ... Ich wollte’s ja nur sagen.“

Mertens und Martin mussten lachen. „Alles gut, wir gucken uns jetzt auch noch die freigelegte Haut an. Mehr können wir nicht tun“, sagte der stellvertretende Institutsleiter. Resignation schwang in seiner Stimme mit. „Venushügel oder Kopf – du hast die Wahl, Klaus“, sagte Mertens. „Dann nehme ich den Kopf“, antwortete Martin und schenkte ihm ein sanftes, schiefes Lächeln. „Ich habe nichts anderes erwartet“, zischte Mertens unter seinem Mundschutz. Wieder suchten die beiden Gerichtsmediziner jeden Quadratzentimeter Haut ab. Dort, wo Schmidt die Haare entfernt hatte, sah sie noch weißer aus als am übrigen Körper. Nadja Stern musste sich in den zurückliegenden Monaten irgendwo hüllenlos gesonnt haben. Doktor Martin hielt plötzlich inne und schnalzte mit der Zunge. „Karl, komm doch bitte mal her – und bring deine Lupe mit.“ Mertens, der gerade in gebückter Haltung den Schambereich der Toten inspizierte, richtete sich auf, drückte seine rechte zur Faust geballte Hand gegen seine Lendenwirbel und drehte sich zu seinem Assistenten um. Sein Rücken schmerzte. Kein Wunder: Er hatte sich heute ja auch schon über 21 Leichen gebeugt und einige Stunden in gebückter Haltung verbracht.

„Sag nicht, du bist auf was gestoßen?“, fragte Mertens erwartungsvoll. „Vielleicht ... Hier, guck mal ...“ Klaus Martin zeigte auf einen winzigen Punkt am Hinterkopf der Toten. „Das da könnte eine Einstichstelle sein, oder?“ Mertens schaute sich die Stelle durch sein Vergrößerungsglas an. „Hm ... Ja, in der Tat ... Das sieht wie eine Punktion aus. Könnte aber auch ein Insektenstich sein.“

Martin tat überrascht: „Im Januar? Nee, das halte ich für mehr als unwahrscheinlich.“ Doc Mertens war elektrisiert. In seinem Kopf tobte ein Gedankensturm. Was, wenn dieser Frau ein unbekanntes Gift injiziert worden war? War Nadja Stern getötet worden? Dann hatte der Mörder womöglich Insiderwissen, denn Kopf-, Achsel- und Schamhaare wurden den Toten bei Leichenschauen nur äußerst selten entfernt – es sei denn, die Körper wiesen an diesen Stellen äußere Verletzungen auf, die begutachtet und fotografisch dokumentiert werden mussten. Aber welches Gift hatte der Täter benutzt? Sie hatten bislang keine Hinweise auf eine Intoxikation gefunden. Doc Mertens schloss zwei Sekunden lang die Augen. Er musste sich kurz sammeln und eine Entscheidung fällen. „Wir müssen das Gewebe im Bereich der Einstichstelle toxikologisch untersuchen lassen. Daran geht kein Weg vorbei“, sagte er – und schaute seinen Assistenten an. Der nickte kaum merklich und signalisierte damit Zustimmung. „Klaus, schnapp dir bitte ein Skalpell und entferne damit großzügig das Gewebe rund um die Punktionsstelle – und zwar bis auf den Schädelknochen. Dann ab damit in ein Reagenzglas, aber kein Formalin benutzen!“ Im Weggehen streifte Doktor Mertens zunächst seine schwefelgelben Latex-Handschuhe ab und entsorgte sie in einem Abfalleimer für Biomüll. Dann riss er sich den Mundschutz runter und zerknüllte ihn in seiner Hand. „Ich rufe gleich mal die Kripo an und besorge uns die Genehmigung, eine toxikologische Untersuchung zu veranlassen.“ Der Leitende Oberarzt machte große Schritte. Er hatte es eilig – seine glatten Ledersohlen verursachten auf dem Mosaikfußboden hämmernde Geräusche. Als er zur Tür hinausging, um von seinem Arbeitszimmer aus seinen alten Bekannten Kurt Brenner anzurufen, schaute er auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb elf. Mertens hoffte, dass er den Ersten Kriminalhauptkommissar gleich ans Telefon bekam. Er hoffte, dass er nicht zu irgendeinem Tatort gerufen worden war und sein Handy ausgeschaltet hatte.

 

Mertens war ein ungeduldiger Mensch. Er hätte die Laboruntersuchungen gern sofort in Auftrag gegeben. Aber dafür brauchte er grünes Licht von den Ermittlungsbehörden. Es ging – wie immer – ums liebe Geld. Der Staat musste weitergehende Nachforschungen bezahlen. Insgeheim hoffte der Gerichtsmediziner, dass Brenner die Entscheidung auf seine Kappe nehmen und nicht – wie eigentlich vorgeschrieben – zunächst einmal Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Hannover halten würde. Kurt Brenner leitete das für Mord und Totschlag zuständige 1. Fachkommissariat des Zentralen Kriminaldienstes in Hameln.