Januargier

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Kapitel 6

Schneller als sonst üblich hatte sich Doktor Karl Mertens in einem mit Spinden gefüllten Nebenraum des Sektionssaals umgezogen und seinen steingrauen Lieblingsanzug gegen einen hellgrünen Kittel getauscht. Darüber trug der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin eine schneeweiße Schürze aus hauchdünnem Kunststoff. Sie sollte seine Berufskleidung vor Blutspritzern und anderen unkontrolliert austretenden Körperflüssigkeiten schützen.

Um 8.45 Uhr betrat Mertens den Saal, der sich im Erdgeschoss des Gebäudes I6 befand. Er ließ die Glastür hinter sich ins Schloss fallen und verschaffte sich zunächst von seiner leicht erhöhten Position einen Überblick. Die rechte Hand lässig gegen die geflieste Wand gestützt, seine linke in die Hüfte gestemmt, ließ er seinen Blick über die drei Stufen tiefer liegenden fünf baugleichen, etwas klobig wirkenden Sektionstische aus poliertem Edelstahl schweifen. Mertens’ Pose erinnerte an einen Feldherrn, der versuchte, ein Schlachtfeld zu überblicken. In gewisser Weise stimmte das Bild – wenn auch im übertragenen Sinne. Im Sektionsraum wurde zwar nicht gestorben, aber hier lagen immerhin die sterblichen Überreste derjenigen, die in den vergangenen Tagen und Nächten möglicherweise durch fremde oder eigene Hand Opfer stumpfer oder scharfer Gewalt geworden waren. Die Toten hatten eines gemeinsam – sie warteten darauf, dass ihnen jemand ihr Geheimnis entlocken würde. Auf jedem Untersuchungstisch lag eine unbekleidete Leiche. Mertens zählte drei weibliche und zwei männliche Tote. Die Präparatoren hatten bereits aufgetischt. Den stechenden Geruch von Formalin, der sich an der kühlen Luft mit dem leicht süßlichen Gestank von faulendem Fleisch vermischte, nahm Doktor Mertens nicht wahr. Er betrachtete die Szene ein, zwei Minuten lang und stieß sich dann ruckartig von der kalten Wand ab. Na, dann mal frisch ans Werk, dachte der Leitende Oberarzt und klatschte dabei – lauter, als ihm lieb war – in die Hände.

Mertens war voller Elan. Auch nach fast vier Jahrzehnten konnte er sich noch für seine Arbeit begeistern. Der von Neonröhren bis in den letzten Winkel ausgeleuchtete große Raum war bis zur Decke weiß gekachelt, der Fußboden bestand aus unzähligen kleinen grau-weißen Mosaikfliesen. Mertens kniff die Augen zusammen – er hielt angestrengt Ausschau nach Assistenzarzt Doktor Martin. Dort, wo sich Klaus aufhielt, war die Tote aus Kühlfach Nummer sechs vermutlich nicht weit. Das hoffte Mertens zumindest. Er wollte sich als Erstes um die junge Frau aus Hameln, die ihn bis in den Schlaf verfolgt hatte, kümmern. Als der stellvertretende Institutsleiter seinen Mitarbeiter erspäht hatte, ging er zielstrebig auf ihn zu. „Guten Morgen, Klaus“, sagte Mertens und klopfte seinem jungen Kollegen väterlich auf die linke Schulter. Doktor Klaus Martin war Anfang 30 – er schnitt erst seit vier Jahren Leichen auf und lamellierte eigenständig deren innere Organe. Auch Martin hatte offenbar schlecht geschlafen. Seine braunen Augen, die die Farbe dunklen Holzes hatten, sahen müde aus, als er seinen Chef über den oberen Rand seiner rahmenlosen Brille hinweg anschaute. „Was soll an diesem Morgen gut sein?“, fragte Martin und zeigte auf die Seziertische. „Da liegen fünf Tote, die wir obduzieren müssen. Und in den Kühlfächern lagern bei konstanten sechs Grad Celsius noch sieben weitere Polizeileichen.“ So nannten Gerichtsmediziner die Toten, die auf Anweisung der Staatsanwaltschaft ins Institut gebracht worden waren.

Doktor Mertens runzelte die Stirn, signalisierte mit ausgebreiteten Armen Unverständnis. „Was willst du mir damit sagen, mein Lieber? Das ist doch fast jeden Tag so ...“ Klaus Martin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Äh ... Na ja ... Ich meine nur: Wir können uns über Arbeit nicht beklagen, und wir beide nehmen uns jetzt noch mal die Leiche einer Frau vor, die wir bereits gestern obduziert haben. Ganz offen und ehrlich: Ich verstehe nicht, warum ...“ Der Leitende Oberarzt lächelte wissend, verschränkte seine Arme vor der Brust. „Geht es in unserem Job nicht immer um das Warum?“

Doktor Martin winkte ab. „Ist ja auch egal ... Du machst ja eh, was du willst. Die Frau liegt auf Tisch eins.“ Präparator Hermann Schmidt stand am Kopfende und wartete geduldig auf die Mediziner. Auf Anweisung von Doktor Klaus Martin hatte er die Bahre, auf der der Leichnam lag, vor einer halben Stunde aus dem Kühlfach, von dort auf einen höhenverstellbaren Rollwagen gezogen und dann zum Sektionstisch geschoben. Er war gespannt, was Mertens und Martin vorhatten. Es kam nicht häufig vor, dass Rechtsmediziner eine Leiche ein zweites Mal untersuchen wollten – zumal sich die aufgeschnittenen Innereien der Toten bereits in einem blauen Kunststoffsack befanden, den Schmidt nach der Autopsie in die zuvor ausgeräumte Bauchhöhle der Toten gestopft hatte. Auf Geheiß der Obduzenten hatte der Präparator den tiefen Längsschnitt, der von der Drosselgrube am Hals über das Brustbein bis hinunter zur Schambeinfuge reichte, mit einer großen chirurgischen Nadel und einem starken blauen Faden ordentlich wieder verschlossen.

Nun lag die Frau ein zweites Mal vor ihm. Schmidt wusste nicht, warum. Er machte sich aber auch keine großen Gedanken darüber. Wenn die hohen Herren das so wollten, dann soll es halt so sein, dachte er. Er wurde nicht fürs Denken bezahlt. Was soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen?, fragte er sich. Und so wartete Präparator Schmidt geduldig, die behandschuhten Hände rechts und links des Kopfes der Leiche auf dem Seziertisch aufgestützt, auf das, was da kommen würde. Seine katzengrünen Augen glänzten ein wenig altersmüde. Dass Schmidt gelangweilt aussah, war den forensischen Medizinern, die sich zu ihrem Arbeitsplatz bewegten, nicht entgangen. Doktor Karl Mertens näherte sich dem Sektionsassistenten mit ausgestreckter Hand, um ihn zu begrüßen. Die Hände des Rechtsmediziners steckten bereits in gelben Latex-Handschuhen. „Hallo, Herr Schmidt. Wie immer der Erste am Tisch ...“, sagte Mertens augenzwinkernd. Der Spruch sollte die Stimmung auflockern. Offenbar waren die Worte richtig gewählt, denn Schmidt fing an zu lächeln. „Moin, Doc, na ist ja auch kein Wunder, oder? Einer muss ja die Leichen aus dem Schrank ziehen und alles für euch Experten vorbereiten.“

Während Mertens auf das aus dünnen roten und weißen Wollfäden geflochtene Bändchen starrte, das sich immer noch am rechten Handgelenk des Leichnams befand, machte Schmidt eine ausholende Handbewegung und zeigte stolz auf ein auf vier Metallbeinen ruhendes Edelstahltischchen, das er über den Füßen der Leiche aufgestellt hatte. Der Organtisch war mit einem dunkelgrünen OP-Tuch abgedeckt worden. Darauf hatte Schmidt ein mit Formalin gefülltes Töpfchen und allerlei silberfarbene Instrumente, die im Neonlicht funkelten, platziert – penibel nach Größe geordnet lagen dort Skalpelle, Pinzetten, Messer, Sägen, eine Rippenschere und ein Brustkorbspreizer.

Doktor Mertens kannte Schmidt schon seit mehr als 30 Jahren. Er arbeitete gern mit ihm zusammen, wusste, dass der ergraute Präparator äußerst gewissenhaft und für Lob empfänglich war. „Ja, was wären wir Rechtsmediziner ohne unsere fleißigen Helfer ... Vielen Dank, Herr Schmidt, dass Sie wieder einmal alles so sorgfältig vorbereitet haben. Die meisten Werkzeuge werden wir wohl heute nicht brauchen. Wir haben ja gestern schon von allen Organen Proben entnommen und asserviert. Auf die können wir ja – falls nötig – zurückgreifen.“

Doktor Klaus Martin verdrehte die Augen – er war sichtlich genervt. „Karl, es wäre wirklich schön, wenn du uns jetzt mal darüber aufklären würdest, weshalb wir uns diese Frauenleiche ein zweites Mal vornehmen sollen. Es wäre jetzt mal an der Zeit, dass du mich in deine Pläne einweihst.“ Mertens hob die Hände. Der stellvertretende Institutsleiter sah jetzt aus wie ein Pastor, der zu Beginn des Gottesdienstes das Kyrie eleison singen und danach seine Gemeinde segnen wollte. „Nur Geduld, meine Herren“, sagte Mertens. „Ich werde es euch gleich sagen. Omnia tempus habent – alles hat seine Zeit.“ Mertens fragte sich, ob er seinen Kollegen erzählen sollte, dass ihm die Tote seinen Schlaf geraubt hatte. Er traf die Entscheidung, es nicht zu tun. Auch die Sache mit den Freundschaftsbändchen behielt er vorerst für sich. Die halten dich für verrückt, dachte er, als er ein hellgrünes Häubchen über sein schütteres Haar stülpte und den Mundschutz, der unter seinem Kinn baumelte, vor Mund und Nase zog. „Nun, es ist so: Ich möchte, dass wir uns den Leichnam noch einmal sehr gründlich anschauen. Von außen, wohlgemerkt. Vielleicht haben wir gestern etwas übersehen“, sagte Doktor Mertens und knetete dabei nervös seine Hände. Martin schaute ihn fragend an. „Ja, gut. Das habe ich mir – ehrlich gesagt – schon gedacht. Das beantwortet aber nicht die Frage, warum wir das machen.“ Präparator Hermann Schmidt musterte Kaugummi kauend abwechselnd Mertens und Martin. Er war gespannt, was der Leitende Oberarzt darauf erwidern würde. „Nun“, setzte Doktor Mertens an. „Manchmal sehen wir nur, was wir wissen.“ Der alte Hase machte eine kurze Atempause. Er mochte Doktor Martin, betrachtete sich als seinen Mentor. Den kritischen Unterton in der Stimme seines Assistenten hörte er wohl, er nahm ihm die Fragerei aber nicht übel. Martin erinnerte ihn an seine eigene Sturm-und-Drang-Periode.

„Hey, Klaus ... Mach jetzt kein Drama draus. Ich möchte nur ganz sicher sein, dass uns gestern kein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen ist. Und deshalb stelle ich meine und deine Arbeit auf den Prüfstand.“ Mertens sah, dass sowohl sein Assistenzarzt als auch der Präparator Fragezeichen auf der Stirn hatten. Schmidt mimte den stillen Beobachter. Was hätte er auch gegen eine erneute Inspektion der Frauenleiche einwenden sollen. Die Ärzte sagten ihm, was zu tun war – und er tat, was ihm aufgetragen wurde. Er war nur der Gehilfe. Schmidt schob seinen Kaugummi mit der Zunge in die rechte Wange und wartete ab. Assistenzarzt Martin schien das Verhalten seines Vorgesetzten nicht nachvollziehen zu können. Er rang nach Worten. „Und das hat dir heute Nacht ein Engel eingeflüstert, oder was?“

 

Doktor Mertens fühlte sich ertappt – er holte tief Luft, zog den Mundschutz herunter. „Nein, natürlich nicht.“ Der Jung-Forensiker ließ nicht locker. „Was ist es dann? Wenn du mich fragst: Bene decessit – und aus die Maus.“ Mertens leckte sich über die Unterlippe. Er dachte einen Augenblick nach. Sein Assistent war ganz offensichtlich voreingenommen. Hatte er eben tatsächlich bene decessit gesagt? Das war Latein und bedeutete: „Sie starb eines natürlichen Todes.“ Sollte er das aus seiner Sicht unprofessionelle Verhalten tadeln oder den Satz einfach ignorieren? Mertens entschied sich für Letzteres – er blieb ganz ruhig. „Du urteilst vorschnell. Was macht dich so sicher, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist? Ich vermag das zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu sagen“, blaffte er Martin an und schlug sich mit der flachen Hand vor die Brust. „Mein Instinkt, gepaart mit fast 40 Jahren Erfahrung, sagt mir: Wir sollten noch einmal ganz genau hinschauen. Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn wir jetzt einen Haken hinter diese Obduktion machen, der Kripo sagen, dass wir keine Hinweise auf Fremdverschulden gefunden haben und der Bestatter die Leiche nachher zur Feuerbestattung abholt. Dann werden wir niemals erfahren, ob bei diesem Todesfall alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Komm, lass uns anfangen. Je eher wir beginnen, desto schneller sind wir fertig und können uns um die anderen Leichen kümmern.“

Klaus Martin sah ein, dass es objektiv keinen Beweis dafür gab, dass diese Frau eines natürlichen Todes gestorben war. Sie hatten die Todesursache nicht herausfinden können. Bis auf eine leichte Hirnschwellung, auf die sie sich keinen Reim machen konnten, war an diesem Leichnam nichts auffällig gewesen. Martin wusste, dass sein Chef ein hervorragender Gerichtsmediziner war, der international einen exzellenten Ruf genoss. Mertens’ Renommee stand außer Frage. Klaus Martin bereute es, sich über das Bauchgefühl des alten Hasen lustig gemacht zu haben. Von Mertens konnte er noch viel lernen – das stand fest.

„Gut“, lenkte Doktor Martin ein. Er schaute verschämt zu Boden und starrte auf die Mosaikfliesen. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. „Ja, stimmt ... Ich war vorschnell. Sorry. Kommt nicht wieder vor.“ Mertens lächelte zufrieden, zog seine Maske wieder vor Mund und Nase. Der Dozent konnte sich nicht verkneifen, noch ein lateinisches Sprichwort zu bemühen – er liebte diese alten Weisheiten, die noch heute Gültigkeit hatten. „Schwamm drüber, Klaus. Du weißt doch: De omnibus dubitandum.“ Sektionsassistent Schmidt hasste es, wenn sich die Kittelträger auf Latein unterhielten. Er verstand dann nicht, was sie sagten. Doktor Mertens wusste das. Deshalb schob er die Übersetzung stante pede und augenzwinkernd hinterher: „Das heißt: An allem ist zu zweifeln.“ Doktor Martin kannte das Faible seines Chefs für lateinische Sprüche. Er hob grinsend seine rechte Hand, streckte den Zeigefinger wie Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel aus, ließ sich gekonnt auf den Fersen nach hinten kippen – und sagte lächelnd: „Ja, es stimmt. Leti mille repente viae – schnell führen Tausende Wege in den Tod. Aber am Ende dieser Wege stehen wir. Wer, wenn nicht jemand, der unserem Berufsstand angehört, sollte den Toten ihre Geheimnisse entlocken?“ Stolz schwang in der Stimme des Assistenz­arztes mit, als er sich den sterblichen Überresten von Nadja Stern zuwandte.

Kapitel 7

Im Halbdunkel starrte sie an die Betondecke, die irgendwann einmal mit grobem Spritzputz und weißer Farbe verschönert worden war, und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ihre Unterschenkel ruhten auf einem mit schwarzem Kunstleder überzogenen Schaumstoff-Würfel, ihre Beine waren rechtwinkelig angezogen, ihr Rücken lag auf einer mit einem lilafarbenen Bettlaken überzogenen Liege, die an einen Seziertisch erinnerte, ihr Kopf ruhte auf einer harten Nackenrolle. Sie sah aus, als sei sie mitsamt einem Stuhl umgekippt und liege nun – hilflos wie ein Maikäfer – auf dem Rücken. Als die Hand, die sie von ihrer Position aus nicht sehen konnte, den Schalter umlegte, spürte sie heftige Vibrationen. Ein metallisches Klingeln dröhnte in ihren Ohren. Herma van Dyck lag auf einem quaderförmigen Bett, das mit dem Stromnetz verbunden war, und wurde kräftig durchgerüttelt. Zeitweise fühlte es sich so an, als würden mehrere Tausend Ameisen über ihren Rücken krabbeln. Die stoßartigen Bewegungen lösten bei ihr einen Juckreiz aus, aber sie konnte sich nicht kratzen. Seit sie von heftigen Kopfschmerzen geplagt wurde, ließ sie nichts unversucht, die Pein loszuwerden.

Nach Georgs manueller Therapie war sie gleich zu ihrem alten Freund Ulli gegangen, der seit 1987 vis-à-vis dem Watt-und-Meer-Zentrum in Bensersiel eine gut gehende Hausarztpraxis betrieb. Kurarzt Doktor Ulrich Messner hatte vor einigen Jahren gemeinsam mit staatlich anerkannten Physiotherapeuten eine spezielle biomechanische Schmerztherapie entwickelt, die sogar nach ihm benannt worden war. Es handelte sich um eine Kombinationstherapie, die sich aus biomechanischer Stimulation, klassischen Massagen, Akupunktur und aus einer Behandlung, bei der die Schmerzpunkte mit den Handballen und den Fingerkuppen gerieben wurden, zusammensetzte.

Die Schmerztherapie nach Doktor Messner war inzwischen über Ostfriesland hinaus bekannt. Viele Patienten reisten extra aus dem Ruhrpott an die Küste, um sich von dem stets gut gelaunten Allgemeinmediziner behandeln zu lassen. Messners Praxis wurde an manchen Tagen förmlich überrannt. Wer zeitnah einen Termin bekam, konnte sich glücklich schätzen. Für Herma, die schon zu ihm gekommen war, als sie noch ein Kind war, hatte Ulli immer Zeit, notfalls machte er für sie Überstunden. Messner wusste, was Herma im Dienst zugestoßen war – sie hatte im Koma gelegen, war künstlich beatmet worden. Eine Blutung hatte zu einer Hirnschwellung geführt. Zum Glück hatte sie sich zurückgebildet. Doch die immer wieder plötzlich auftretenden Kopfschmerzattacken waren geblieben. Messner bereitete das Sorgen. Früher hatte Herma viel Sport getrieben. Segeln, Surfen, Joggen, Boßeln – in ihrer Jugend hatte sie nichts ausgelassen. Sie war ständig in Bewegung gewesen. Ein echter Wirbelwind ... So oft sie konnte, war sie mit ihrer 470er-Rennjolle rausgefahren, um bei Wind und Wetter zu segeln. Kein Sturm hatte sie davon abhalten können. Wie oft hatte sie ihm die Geschichte erzählt, wie sie nördlich von Janssand zwischen den Inseln Langeoog und Spiekeroog von einem rasch aufziehenden Gewitter überrascht worden war. Ihr Boot war damals in den meterhohen Wellenbergen gekentert. Seenotretter hatten sie aus der aufgewühlten See gefischt und ihre Jolle in den sicheren Hafen von Neuharlingersiel geschleppt. Am nächsten Tag war Herma van Dyck wieder segeln gegangen – so, als wäre nichts passiert. Angst kannte sie nicht. Sie war immer wie ein Stehaufmännchen gewesen, hatte sich nicht durch Niederlagen oder Misserfolge entmutigen lassen. Und nun?

Seit dem feigen Mordversuch schien Herma nicht mehr die Alte zu sein. Sie bewegte sich offenbar zu wenig, verkroch sich meist in ihrem Haus am Deich. Dem Hausarzt war bei den zurückliegenden Untersuchungen und Behandlungen aufgefallen, dass die Kommissarin in den letzten Wochen zeitweise niedergeschlagen war und häufig an sich selbst zweifelte. Sie schien unter Stimmungsschwankungen zu leiden. Mal war sie fröhlich, mal traurig. Hermas Schicksal ließ Messner nicht kalt. Er wollte ihr helfen, rasch ins Leben zurückzufinden. Der Arzt tat alles in seiner Macht Stehende, um sie von den quälenden Schmerzen zu befreien. Er wollte sie lächeln sehen.

Herma hatte ihre Augen geschlossen und dachte an Harm Harmsen. Sie fühlte sich einsam und sehnte sich nach ihm. Im vergangenen Herbst hatten sie sich bei ihm in Oldenburg getroffen. Sie hatten Rotwein getrunken, und sie war in seinen Armen eingeschlafen. Mehr war in dieser Nacht nicht passiert. Leider, seufzte sie.

Während sie von der Maschine, die sie an eine Folterbank erinnerte, kräftig durchgerüttelt wurde, dachte Herma über ihre Schmerzen und Ohrgeräusche nach. Was, wenn das nie aufhörte? Sie gestand sich ein, dass sie der Mordanschlag aus der Bahn geworfen hatte. Die Verletzungen an ihrem Kopf mochten bald verheilt sein, die Wunden an ihrer Seele waren es nicht.

Immerhin, die maschinelle Rüttelmassage à la Doktor Messner, kombiniert mit den Akupunkturnadeln, die Ulli dienstags und donnerstags geschickt in ihre Kopfhaut drehte, sodass die Einstiche kaum zu spüren waren, und die heilenden Hände von Georg, der montags und freitags ihren Nacken und Rücken mit seinen kräftigen Händen bearbeitete, schienen ihr gutzutun. Die Kommissarin vertraute ihrem alten Hausarzt und dem erfahrenen Physiotherapeuten. Sie wäre aber mittlerweile auch bereit gewesen, einen lebendigen Frosch zu verspeisen, wenn sie das von ihren Migräneanfällen befreit hätte. Die Mordermittlerin griff nach jedem Strohhalm, ließ sich auf alles ein. „Ja, es stimmt wohl. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, aber ich werde mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“, sprach sich Herma selbst Mut zu. Herma beschloss, bereits in der kommenden Woche nach Hameln zurückzukehren. Sie wollte endlich wieder Sexualstraftäter jagen und Mörder dingfest machen. Doch erst einmal musste sie polizeidienstfähig geschrieben werden. Während sie auf der Rüttelliege lag und kräftig durchgeschüttelt wurde, dachte sie an Doktor Manfred Rixinger. Der auffallend hagere Polizeiarzt und Psychologe mit der schiefen Pinocchio-Nase, auf der eine John-Lennon-Nickelbrille thronte, musste erst sein Okay dazu geben. Es graute ihr schon davor, die Fragen des Seelenklempners beantworten zu müssen. Was, wenn er sie für dienstunfähig hielt? Was, wenn sie in irgendein langweiliges Polizeiarchiv abgeschoben wurde oder fortan nur noch Herrin irgendeiner staubigen Asservaten-Kammer war?

Herma versuchte, diese Gedanken zu vertreiben, indem sie wieder an Harm Harmsen dachte. Sie vermisste ihren feschen Oberfroschmann. Was er wohl gerade in Afghanistan machte? Sie redete sich ein, dass er an einem sicheren Ort Dienst schob. Aber sie wusste, dass das Land am Hindukusch ein gefährliches Pflaster war. Erst vorgestern hatte es in Kabul einen Anschlag mit 33 Verletzten gegeben. Die Maschine hörte abrupt auf, Vibrationen zu produzieren. Plötzlich war es still in dem abgedunkelten Behandlungsraum. Ein Knarren verriet Herma, dass jemand die Tür geöffnet hatte. Ulli Messner steckte seinen Kopf durch den Türrahmen. „Na, Herma ... Alles klar bei dir? Wie fühlst du dich heute?“ Herma richtete sich auf, setzte sich auf die Kante der Rüttelliege und ließ ihre Beine baumeln. Als sie wieder auf ihren Füßen stand, hatte sie das Gefühl, als stünde sie auf einem schwankenden Schiff. Ulli gnickerte nur. Er hatte ein gütiges Gesicht und eine zerzauste Frisur. „Bist wohl ordentlich durchgeschüttelt worden. So muss das sein. Wenn du jetzt im Stehen noch ’n büschen Seegang spürst, war die Rütteldosis genau richtig ...“

Herma schaute ihrem Hausarzt fragend in die Augen. „Soso ... Die Rütteldosis .... Gibt es da exakte Berechnungen?“ Messner setzte sich neben sie auf die Liege und holte tief Luft. „Sicher nicht, Herma. Jeder Mensch reagiert anders. Aber meine Kombinationstherapie wirkt – sie wird dir helfen. Da bin ich mir ganz sicher. Du musst nur etwas Geduld haben.“ Herma zuckte mit den Schultern. „Das glaube ich dir aufs Wort. Sonst würde ich mich ja gar nicht darauf einlassen. Ich vertraue dir meinen geschundenen Körper an. Ohnehin gilt: Wer heilt, hat recht.“ Doktor Messner wusste, dass seine Patientin ungeduldig, neugierig und mitunter etwas misstrauisch war. Er kratzte sich nachdenklich an der rechten Schläfe und dachte einen Augenblick nach. Er wollte die richtigen Worte finden. „Schön, dass du mir vertraust. Aber in deiner Stimme schwingt große Skepsis mit. Ich habe feine Antennen dafür.“ Noch bevor Herma darauf etwas erwidern konnte, fing der Arzt zu erklären an. „Das ist völlig okay ...“ Doktor Messner hob den Zeigefinger seiner rechten Hand und lächelte freundlich. „Ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Du fragst dich jetzt, wie diese komische biomechanische Stimulation funktioniert, richtig?“ Wieder wartete Doktor Messner die Antwort auf seine Frage nicht ab. „Also, pass mal auf ... Ende der 1970er-Jahre hat ein gewisser Professor Vladimir Nazarov diese besondere Therapieform entwickelt. Er war damals Mannschaftsarzt des sowjetischen Turnerteams. Nun, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse sind in meine Kombinationstherapie eingeflossen.“

 

„Und die wären?“, hakte Herma nach. Messner hob die rechte Hand. „Nur Geduld ... Lass mich bitte ausreden. Im Gegensatz zu anderen Vibrationsmethoden werden bei der BMS Schwingungen in Längsrichtung auf die Muskulatur übertragen. Dadurch werden Muskelfasern in Eigenresonanz gebracht. Im Kern geht es bei dieser Methode darum, Muskeln durch Vibrationen zu erwärmen und dadurch die Blutzirkulation anzuregen. Es kommt auf diese Weise zu einem verstärkten Blutaustausch im Körper und dadurch zu einer verbesserten Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen. Man könnte auch sagen: Der Muskel, die Nerven, die Knochenhaut, der Knorpel, die Kapseln, die Gelenke und das Narbengewebe werden mit Nahrung versorgt. Diese Behandlung hat sich insbesondere auf dem neuroorthopädischen Gebiet bewährt. Glaub mir, das hilft ganz prima gegen Migräne und sogar gegen deine Narbenschmerzen. Bald ist deine Pein wie weggeblasen.“ Ein Lächeln huschte über Hermas Gesicht. „Na, schön wär’s“, sagte die Kommissarin und rieb sich dabei unbewusst über die Narbe. „Nicht, dass du das in den falschen Hals kriegst, Ulli. Ich ziehe deine Methode überhaupt nicht in Zweifel – und vertraue dir voll und ganz. Du hast das toll erklärt, du könntest auch an der Uni Vorlesungen halten. Ich fühle mich halt besser, wenn ich weiß, was mit mir geschieht und wie das mit der Heilung funktioniert.“ Doktor Messner überhörte Hermas Rechtfertigung. Er kannte sie schon seit ein paar Jahrzehnten und hatte sich an ihre Nachfragen gewöhnt. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand tippte er auf seinen Brustkorb. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren. „Soso ... du meinst: Ich sollte Dozent werden ...? Du willst mir schmeicheln.“ Messner lachte laut. Seine Augen funkelten wie Sterne. „Nein, nein ... Schuster, bleib bei deinen Leisten. Frei nach Müntefering: Ich habe den schönsten Job neben Papst. Und vor allem: Dafür bin ich schon zu alt. In meinem nächsten Leben vielleicht. Aber: Danke für die Blumen.“

Herma van Dyck schaute zu Boden. Ihr war plötzlich peinlich, die Schmerztherapie hinterfragt zu haben. Doktor Messner hatte eine Kombinationstherapie entwickelt, die nach ihm benannt worden war. Er musste stolz darauf sein. Und nun kam sie daher und löcherte ihn mit blöden Fragen. Ihre Charmeoffensive war jedenfalls volles Mett in die Hose gegangen. „Du nimmst mir doch mein Verhör nicht übel, Ulli – oder? Ich bin halt neugierig, muss alles hinterfragen und wissen. Ist wohl eine Berufskrankheit.“ Doktor Messner winkte ab. „Nein, nein, schon gut. Ich mag es, wenn meine Patienten wissbegierig sind. Ich wollte nur, dass du weißt, dass das kein Schabernack ist. Aber es ist wie bei Medikamenten: Die richtige Dosis macht’s – und die Kombination aus verschiedenen Therapieformen.“

Doktor Messner sah auf seine Armbanduhr. „Tja, mien Deern. Kann ich sonst noch was für dich tun? Falls nicht, schnacken wir übermorgen weiter. Du hast ja selbst gesehen: Die Praxis ist proppenvoll.“

Herma hätte noch gern mit ihrem Arzt ein paar Minuten mehr geplaudert. Das bevorstehende Gespräch mit dem Polizeipsychologen schwebte wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Es schlug ihr auf den Magen. Sie musste mit Ulli darüber reden. Vielleicht konnte er ihr Tipps geben, wie sie sich bei Rixinger verhalten musste, damit der Psychologe sie für diensttauglich hielt. Aber Herma sah ein, dass Doktor Messner sich noch um andere Patienten kümmern musste. „Nee, alles gut so weit, Ulli. Ich danke dir, dass du dir so viel Zeit für mich genommen hast.“ Messner stand auf, reichte ihr seine Hand und zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Bald bist du wieder ganz die Alte. Wirst schon sehen. Lass jetzt bloß nicht den Kopf hängen ...“

Herma musste schlucken. „Danke, Ulli – für deine lieben Worte“, sagte sie und nahm den Arzt in den Arm. Sie hatte Tränen in den Augen.