Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3. Voraussetzungen und Kontexte

Das frühe Christentum ist gleichermaßen in die Geschichte des Judentums und der griechisch-römischen Welt eingebunden. Es entstand als eine Bewegung innerhalb des Judentums und entwickelte sich zu einer neuen griechischsprachigen Universalreligion im Römischen Reich. Voraussetzung für diese Entwicklung war der Hellenismus, der ab dem 4. Jh. v.Chr. eine neue Weltkultur schuf, in deren Raum auch das Neue Testament entstand.

3.1 Der Hellenismus als Weltkultur

JOHANN GUSTAV DROYSEN, Geschichte des Hellenismus I–III, Darmstadt 1998 (=1836–1843). – MARTIN HENGEL, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 21969. – CARL SCHNEIDER, Die Welt des Hellenismus, München 1975. – REINHOLD BICHLER, „Hellenismus“. Geschichte und Probleme eines Epochenbegriffs, Darmstadt 1983. – HANS DIETER BETZ, Art. Hellenismus, TRE 15, Berlin 1986, 19–35. – HANS-JOACHIM GEHRKE, Geschichte des Hellenismus, München 21995. – HELLMUT FLASHAR (Hg.), Die Hellenistische Philosophie, Die Philosophie der Antike 4,1.2, Basel 1994. – HEINZ HEINEN, Geschichte des Hellenismus, München 2003. – HATTO H. SCHMITT/ERNST VOGT (Hg.), Lexikon des Hellenismus, Wiesbaden 2005. – BURKHARD MEISSNER, Hellenismus, Darmstadt 2007.

Hellenismus als Universalkultur

Der Ausdruck ‚Hellenismus‘ zur Bezeichnung einer geschichtlichen Epoche wurde von dem Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) geprägt1. Der Hellenismus ( = die griechische Sprache und Sitte) bezeichnet die mit dem Auftreten Alexanders des Großen (356–323 v.Chr.) einsetzende Ausbreitung der griechischen Sprache, Sitten, Verwaltungsstrukturen, Kunst, Architektur, Literatur, Philosophie und Religion im Nahen und Mittleren Osten; von Mazedonien bis nach Vorderindien, von der Nordküste des Schwarzen Meeres und den Ufern der Donau bis nach Nubien und in die Sahara hinein. Die kulturelle Expansion des Hellenismus gründete sich vor allem auf das als attraktiv empfundene griechische Städtewesen2, das mit seinen zahlreichen Neugründungen, einer imponierenden Architektur, seinen militärischen und wirtschaftlichen Potentialen, aber auch mit seinen offenen Lebensformen den kurzfristigen militärischen Erfolgen Alexanders eine lang anhaltende Wirkung beschied.


Der Feldzug Alexanders 334–323 v.Chr.

Der Hellenismus ging mit dem Aufstieg des Imperium Romanum nicht zu Ende3, sondern sein Einfluss erhielt sich in der gesamten römischen Welt, und er wurde auch weiterhin für den Gang der Geschichte von Bedeutung, denn sowohl Byzanz als auch die Renaissance des Mittelalters sind ohne den Hellenismus nicht zu denken. Das Hauptkennzeichen des Hellenismus ist die beschleunigte Verschmelzung und Durchdringung verschiedener Kulturen, wobei vor allem nationale Kulturen durch das griechische Leben und Denken transformiert wurden, zugleich sich aber das griechische und später das römische Denken für orientalische Einflüsse öffnete4. Die neue Globalkultur löste die bestehenden National- bzw. Regionalkulturen nicht auf, transformierte sie aber zugleich. So entstand ein relativ einheitlicher Kulturraum, der bewusst Eigenheiten und Differenzen zuließ, ohne daran zu zerbrechen.

Griechisch als Weltsprache

Griechisch als allgemeine (= ) Sprache

Als ein hervorragendes Kennzeichen dieses Prozesses muss die Verbreitung der griechischen Sprache angesehen werden. Die griechische Sprache war z. Zt. des Neuen Testaments die Weltsprache. Vornehmlich Inschriftenfunde zeigen, dass sich im Palästina des 1. Jh. n.Chr. zwei linguae francae überlappten5. Neben Aramäisch war das Koine-Griechisch weit verbreitet, bis in die einfachsten Volksschichten hinab wurde Griechisch gesprochen6. Eine vergleichbare Sprachsituation findet sich in Syrien, auch hier dominierten Aramäisch und Griechisch7. Kleinasien unterlag nach dem Alexander-Zug griechischem Einfluss, so dass Griechisch vollständig das sprachliche Gesicht Kleinasiens im 1. Jh. n.Chr.8 bestimmte. Daneben hielten sich lediglich lokale Dialekte (vgl. z.B. Apg 2,5–11; 14,11). Die sprachliche Situation in Griechenland war eindeutig, demgegenüber lässt sich die Lage in Italien und Rom nur schwer beurteilen. Die gebildeten Römer beherrschten Griechisch ebenso wie die große Zahl von Sklaven, die aus dem Osten des Reiches nach Rom gebracht wurden. Deshalb kann in einem eingeschränkten Sinn auch für Rom mit einer Zweisprachigkeit gerechnet werden9. Alle Autoren ntl. Schriften schreiben Griechisch, besonders Paulus konnte in seiner Mission mit einer Sprache auskommen und mit ihr alle gesellschaftlichen Schichten erreichen. Auch die Sprache der Diaspora-Juden des Mittelmeerraumes war Griechisch. Hier sind neben der Septuaginta und den anderen zahlreichen Schriften des hellenistischen Judentums vor allem Philo und Josephus zu nennen. Philo von Alexandrien bezeichnet Griechisch als ‚unsere Sprache‘10 und Josephus schreibt seine Geschichte des jüdischen Krieges um 78/79 n.Chr. für vorwiegend römische Leser auf Griechisch11.

Judentum und Hellenismus

Das antike Judentum (s.u. 3.3) ist seit der Diadochenzeit (ab ca. 300 v.Chr.) politisch und kulturell ein Teil des Hellenismus. Dabei war der hellenistische Einfluss in der Diaspora stärker als in Palästina. Dies zeigt sich vor allem in der Literaturproduktion, denn es bildete sich eine jüdisch-hellenistische Literatur heraus12. Hier ist zuallererst die griechische Übersetzung des Alten Testaments zu nennen: die Septuaginta (LXX)13. In der Diaspora verstanden immer weniger Juden Hebräisch, so dass ein großes Bedürfnis entstand, die Heiligen Schriften ins Griechische zu übersetzen; Griechisch wurde die Sprache der Gottesdienste. Die Septuaginta ist kulturgeschichtlich von höchster Bedeutung, denn mit ihr als dem größten Übersetzungswerk der Antike begegnen sich im 3. Jh. v.Chr. (wahrscheinlich ab 250 v.Chr. in Alexandria) der semitische und der griechische Sprachkreis und formen eine eigenständige Überlieferungstradition. Über die hebräische Überlieferung hinaus enthält die Septuaginta neben Ergänzungen und Bearbeitungen neun zusätzliche Bücher (Sapientia Salomonis, Jesus Sirach, Psalmen Salomos, Judith, Tobit, 1–4Makkabäerbuch). Während bei der Septuaginta der griechische Einfluss umstritten ist, ist er bei anderen Autoren offenkundig: Aristobul (Anfang des 2. Jh. v.Chr.), griechischer Jesus Sirach (zwischen 132–117 v.Chr.), Joseph und Asenet (2. Jh. v.Chr.), 4Makkabäerbuch (1./2. Jh. n.Chr.) und natürlich: Philo von Alexandrien (s.u. 3.2.1), der die jüdische Religion mit Hilfe der allegorischen Bibelauslegung und damit auf der Basis platonischer Hermeneutik als alte und zugleich überlegene Philosophie darstellte.

Der Einfluss des Hellenismus war keineswegs auf die Diaspora beschränkt, sondern auch in Palästina allgegenwärtig. Insbesondere seit dem 3. Jh. v.Chr. setzten sich immer mehr griechische Lebensweisen durch, die durch den Makkabäeraufstand (s.u. 3.3) eingedämmt, aber keineswegs überwunden wurden. Davon zeugen nicht nur zweisprachige oder griechische Inschriften und Sarkophage, sondern auch zahlreiche Theater, Amphitheater und Hippodrome14. Das Badewesen als besonderer Ausdruck griechischen Lebensgefühls wurde in das Judentum integriert und Regionalherrscher wie Herodes d. Gr. (40–4 v.Chr.) und seine Söhne führten sich wie hellenistische Fürsten auf. So war das architektonische Programm der Erneuerung des Jerusalemer Tempels unter Herodes griechisch: Prunkarchitektur mit riesigen Säulenhallen und korinthischen/ionischen Kapitellen. In Galiläa weisen Sepphoris und die neue Hauptstadt Tiberias (seit 19 n.Chr.; benannt nach dem Kaiser Tiberius) deutlich eine hellenistische Prägung auf. Herodes Antipas (4 v.Chr. − 39 n.Chr.) war wie sein Vater Herodes d. Gr. ein nach Rom orientierter hellenistischer Herrscher, der zugleich seine jüdische Identität hervorhob. Die Heirat von Herodes Antipas mit Herodias, die zuvor mit einem seiner Halbbrüder verheiratet war, wurde von Johannes d. T. angeprangert (vgl. Lk 3,19–20; Mk 6,14–29). Diese politisch-kulturelle (anti-hellenistische?) Kritik hatte die Hinrichtung des Täufers zur Folge (s.u. 3.3). Offenbar fürchtete Herodes Antipas den Täufer ebenso wie Jesus (vgl. Lk 13,31–32) als Führer messianischer Bewegungen.

Der Hellenismus hob die Identität des Judentums nicht auf, veränderte sie aber, indem es sich nun als ein Teil einer Globalkultur verstehen lernte, der man sich nicht entziehen konnte und wollte.

Das Neue Testament ist ein Teil des Hellenismus

Auch das Neue Testament ist Teil und Ausdruck des Hellenismus, denn der Hellenismus begünstigte zweifellos das Entstehen neuer religiöser Bewegungen und die damit verbundenen Verschmelzungsprozesse. Alle Schriften des Neuen Testaments liegen in griechischer Sprache vor; keine einzige Schrift wurde in Palästina abgefasst, sondern sie entstanden vor allem in Kleinasien, Griechenland und Rom. Das Wirkungsfeld der neuen Bewegung lag von einem sehr frühen Zeitpunkt an auch außerhalb Palästinas und verlagerte sich vor allem mit der paulinischen Mission in genuin griechisches Gebiet. Paulus war ein Diasporajude aus der hellenistischen Metropole Tarsus, der in Jerusalem als Phariäser ausgebildet wurde (vgl. Apg 22,3), aber auch über eine griechische Bildung verfügte15. In den paulinischen Gemeinden lebten mehrheitlich Menschen aus griechisch-römischer Tradition, die nicht erst mit dem Hellenismus in Berührung kommen mussten, sondern aus dem Hellenismus stammten. Die literarischen Gattungen des Neuen Testaments wie die Paulusbriefe, die Evangelien oder die Apostelgeschichte haben ihre nächsten Parallelen in der hellenistischen Literatur. Das frühe Christentum entwickelte sich nicht aus dem Judentum zum Hellenismus hin, sondern es war von Anfang an ein Teil des Hellenismus! Die Frage nach dem Einfluss des Hellenismus lässt sich deshalb nicht auf die These reduzieren, alles Hellenistische im frühen Christentum sei durch das hellenistische Judentum vermittelt worden16. Vielmehr wird nicht nur an der Gestalt des Paulus deutlich, dass die frühen Christen an Debatten teilnahmen, die sowohl im Judentum als auch im genuin griechisch-römischen Bereich geführt wurden.

 

Doppelte Traditionstiefe

Die Verankerung des frühen Christentums im (vorwiegend hellenistischen) Judentum wird damit keineswegs geleugnet. Die frühen Christen lebten in dem Bewusstsein der grundlegenden Kontinuität zur Geschichte Gottes mit Israel; sie lebten aus der Septuaginta, hier fanden die Glaubenden Vorverweise auf Gottes Handeln in Jesus Christus und bildeten im lebendigen Umgang mit den Schriften ihre Frömmigkeit aus (z.B. in den Psalmen). Daraus sollten aber keine falschen Alternativen abgeleitet werden, denn die frühchristlichen Gemeinden agierten innerhalb eines übergreifenden Kulturraumes, zu dem selbstverständlich auch die griechisch-römische Kultur gehörte. Eine doppelte Traditionstiefe, nämlich sowohl im Judentum als auch im Hellenismus, war eine der entscheidenden Voraussetzungen für die erfolgreiche Rezeption des neuen Glaubens in gemischten Gemeinden und deshalb geradezu charakteristisch für das frühe Christentum!

3.2 Die griechisch-römische Kultur

GEORG WISSOWA, Religion und Kultus der Römer, München 21912. – MARTIN P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion I.II, München 31967.21961. – KURT LATTE, Römische Religionsgeschichte, München 1960. – ROBERT MAXWELL OGILVIE, … und bauten die Tempel wieder auf. Religion und Staat im Zeitalter des Augustus, Stuttgart 1982. – WALTER BURKERT, Art. Griechische Religion, TRE 14, Berlin/New York 1985, 235–252. − JAN N. BREMMER, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996. – HANS-JOSEF KLAUCK, Umwelt des Urchristentums I, 27–76. – JÖRG RÜPKE, Die Religion der Römer, München 2001. – PAUL VEYNE, Die griechisch-römische Religion, Stuttgart 2008. – WALTER BURKERT, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 22011. − MARTIN EBNER, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen, 101–137. − DIETRICH-ALEX KOCH, Geschichte des Urchristentums, 67–88. – BERNHARD LINKE, Antike Religion, München 2014.

Griechische Religion

Die griechische Religion ist sehr komplex und uneineinheitlich; geographisch umfasst sie außer dem eigentlichen Griechenland ab dem 8. Jh. v.Chr. auch Süditalien und die Schwarzmeerküste, seit Alexander dem Großen die Gebiete von Kleinasien, Syrien, Ägypten bis hin in den Irak und den Iran. Die Fundamente dieser Religion bilden das lokale und familiäre Brauchtum, wobei als Charakteristika gelten können: 1) ein mythologisch ausgerichteter Polytheismus; 2) eine hochentwickelte Bildkunst und Tempelarchitektur, 3) eine öffentliche Kultpraxis, konzentriert auf das Tieropfer bei lokalkalendarisch festgelegten Festen. Es fehlen in der griechischen Religion: 1) konstitutive Offenbarungsschriften17; 2) Religionsstifter und 3) ein landesweit organisiertes Priestertum.


Griechische Tempel (5. Jh. v. Chr.) in Paestum (südlich von Neapel); Foto: Udo Schnelle

Homer und Hesiod

Innerhalb der griechischen Religion haben Homer (8. Jh. v.Chr.) und Hesiod (ca. 740–670 v.Chr.) die Genealogie der Götter überliefert, ihre Beinamen aufbewahrt und ihre Zuständigkeiten bestimmt18. Für unsere Epoche entscheidend sind die homerischen Götter, die man sich wie eine Großfamilie auf dem Götterberg Olympos vorstellte. In den olympischen Göttern werden all die Mächte sichtbar, die das Leben bestimmen und verständlich machen. Zumeist werden 12 Götter dem Olymp zugerechnet, die Anzahl variiert jedoch19.

1) An erster Stelle steht Zeus ( Gen. römisch: Jupiter), für die Griechen im Besonderen der blitzschleudernde Wettergott, der stärkste aller Götter. Bei Hesiod wird der Mythos überliefert, wie Zeus die alten Götter, vor allem seinen Vater Kronos und die Titanen stürzte und in der Unterwelt fesselte. Zeus repräsentiert eine sieghafte Ordnung, der sich alle zu unterwerfen haben und die denen Vorteile verschafft, die als Söhne des Zeus daran teilhaben dürfen. Zeus steht über allen Parteien, und hat niemanden über sich. Er ist auch der einzige Gott, der zum Allgott erhoben werden konnte: der Gott der Erde, des Himmels, des Alls und auch der Unterwelt.

2) Hera ( römisch: Juno) ist die eifersüchtige und zänkische Gattin des Zeus; im Kult wird sie aber als große mütterliche Göttin verehrt, die über den Opferfesten thront.

3) Poseidon ( römisch: Neptun) ist der Bruder des Zeus; der Herr der Meere, Patron der Fischer und Reiter.

4) Athena ( römisch: Minerva), die Burggöttin von Athen; sie entsprang dem Haupt des Zeus und ist als bewaffnete Jungfrau die Beschützerin ihrer Stadt.

5) Apollon () ist der strahlende Sohn des Zeus, er verkörpert die blühende Jugend. Gestützt auf die berühmten Heiligtümer von Delos und Delphi ist er der meistverehrte Gott der Griechen.

6) Artemis ( römisch: Diana) ist die Zwillingsschwester des Apollon; sie ist die Herrin der Tiere, die jungfräuliche Jägerin und steht den Frauen bei der Geburt bei.

7) Aphrodite ( römisch: Venus) ist die Göttin der seelischen und körperlichen Liebe; Eros ist ihr Sohn.

8) Hermes ( römisch: Merkur) ist der Götterbote, der die Opfer und die Musik erfindet und den Menschen die Kultur bringt.

9) Hephaistos ( römisch: Vulcanus) ist der Gott des Feuers und der Schmiede, der Patron der Handwerker.

10) Ares ( römisch: Mars) ist der gewalttätige Gott des Krieges.

11) Demeter ( römisch: Ceres), die Mutter der Erde und des Getreides.

12) Dionysos ( römisch: Baccus), der Gott des Weines.

Das Kennzeichen der olympischen Götterfamilie ist ein anthropomorpher Polytheismus20 (klassisch Euripides, Alcestis 1159: „Viele Gestalten kennt das Göttliche“ = ). Göttliche Wesen in Menschengestalt stehen im Zentrum des klassischen griechischen Denkens. Homer berichtet: „Durchwandern die Götter doch, Fremdlingen gleichend, die von weit her sind, in mancherlei Gestalt die Städte ...“21 Die Götter sind eine eigene, von den Menschen getrennte Kategorie, dennoch interessieren sie sich für die Menschen. Die Entstehung der Kultur wird auf das Eingreifen der Götter zurückgeführt, so schickt Zeus den Hermes, um den Menschen Recht und Scham zu lehren22; Hermes, Herakles und Apollon nehmen als Boten der Götter Menschengestalt an bzw. wirken als Götter unter den Menschen. Götter in Menschengestalt können sowohl einen ewigen als auch einen irdischen Ursprung haben. Unter den Heroen (Halbgöttern)23 steht an erster Stelle Herakles (römisch: Herkules), dessen Verehrung als Gottessohn von der homerischen Zeit bis in die Kaiserzeit ungebrochen war. Herakles vernichtete Unrecht und Gesetzlosigkeit auf der Erde und Zeus verlieh ihm wegen seiner Tugend () die Unsterblichkeit24.

Der Ritus bestimmt die Religion

Die griechische Religion ist durch rituelle Vollzüge, durch das Handeln nach dem Brauch der Väter bzw. der Stadt geprägt. Theologisch steht dabei (wie auch bei den Römern) die Sühnevorstellung im Mittelpunkt: „Glaubten die Alten doch, dass mit Sühnemitteln der Ursprung jeglichen Übels und auch Unrecht zu reinigen sei. Griechenland gab den Ursprung des Brauchs.“25 Durch den rituell korrekten Vollzug der den Göttern geweihten Opfer26, durch zeremonielles Schlachten und Essen, durch Reinigungsrituale, galt es Störungen im Verhältnis der Götter zu den Menschen und der Menschen untereinander aufzuheben27. Dahinter stand als allgemeingültige religiöse Vorstellung das Prinzip: ‚do ut des‘ („ich gebe, damit du gibst“). Durch die Opfer der Menschen gewähren die Götter weiterhin die Ordnung und die Stabilität des öffentlichen und privaten Lebens. Die Götter sind die Garanten des Lebens und wer sie vernachlässigt oder sich sogar von ihnen abwendet, gefährdet die kosmische Ordnung. Das gewöhnliche Opfertier war das Schaf, daneben die Ziege und das Schwein, das höchste Opfertier war der Stier. Opfer wurden als festliche Veranstaltung der Gemeinschaft zwischen Menschen und Göttern verstanden. Neben dem Schlachtopfer ist das Gaben-Opfer von Bedeutung, speziell die Gabe der Erstlinge der Feld- und Baumfrüchte im Heiligtum; ebenso grundlegend sind die Trankopfer (Libation) sowie die damit verbundenen Gebete28. Heiligtümer durchzogen Griechenland, die in der Regel in einem abgegrenzten Bezirk lagen, markiert durch Steine oder Bäume, zumeist mit einer Quelle verbunden29. Die Altäre, auf denen die Opfer dargebracht wurden, bestanden zumeist aus einfachen quaderförmigen Steinen. Anstelle von Priestern als fest umgrenzten Stand mit Ausbildung und Weihe leiteten lokale Funktionäre von Heiligtümern in der Regel die Opferfeste. Sie waren nicht Vertreter einer bestimmten ‚Theologie‘ oder ‚Religion‘, sondern Fachleute für den Kult am Ort. Mit dem Kult verbanden sich zahlreiche soziale Funktionen, denn die Gemeinschaft definierte sich stets durch die Teilnahme am Kult. Bereits die Familie ist durch ihren Herd bestimmt, Familienverbände treffen sich zu Götterfesten und Städtebünde haben ihr eigenes Bundesheiligtum. Innerhalb einer Stadt wurde dies durch einen Festkalender dokumentiert, der die einzelnen Feste und damit verbundenen Kulthandlungen bestimmte30. Religion war in der griechisch-römischen Antike eine öffentliche und damit immer auch politische Angelegenheit.

Weil es keine normativen Offenbarungsschriften gab, spielte die Beobachtung von Zeichen als Nachrichten der Götter eine große Rolle. Der Vogelflug wurde von Sehern ebenso gedeutet wie die Eingeweide von Geflügeltieren. Neben den Sehern gewannen einzelne Orakel-Heiligtümer an Bedeutung, vor allem das Apollon-Heiligtum in Delphi31. Die Orakel gaben vor allem Handlungsoptionen an Politiker und Militärs über Kriege und Koloniegründungen, aber auch Weisungen für alltägliche Probleme32.


Das Heiligtum von Delphi; Foto: Udo Schnelle

 

Römische Religion

Laren und Penaten

Unter römischer Religion versteht man zunächst die offizielle Religion der Großgemeinde Rom, dann die Staatsreligion des gesamten Imperium Romanum. Über die Frühzeit der römischen Religion ist wenig bekannt, sie entstand wahrscheinlich im 8. Jh. v.Chr., als sich zwischen den Albaner Bergen und dem Tiber verschiedene Stämme zusammenschlossen und die Besiedlung Roms begann33. In der Anfangszeit dominierten die Einflüsse der Etrusker, deren Traditionen sich sowohl in Tempeln als auch in Götterbildern widerspiegeln. Seit dem 5. Jh. v.Chr. geriet die römische Religion, vor allem durch Vermittlung der Etrusker, unter den Einfluss der griechischen Mythologie, was zur Folge hatte, dass es zu einer immer stärkeren Überlagerung und Verschmelzung der römischen und griechischen Gottheiten kam. Auch die römische Religion wurde von einer Vielzahl von Göttern bestimmt, die für einen bestimmten Lebensbereich zuständig waren. Als die drei römischen Hauptgötter und zugleich die obersten Staatsgötter galten Jupiter, Juno und Minerva. Jupiter thronte wie Zeus als der oberste Himmelgott über allen; Juno stand nach dem Vorbild Heras an der Seite Jupiters; Minerva wurde wahrscheinlich in Analogie zu Athene zur Beschützerin von Künstlern und Handwerkern. Mars hatte als Kriegsgott große Bedeutung; auf dem Marsfeld in Rom wurde alle 5 Jahre an seinem Altar ein großes Opferfest gefeiert. Weitere wichtige Gottheiten: Janus, der Gott des Tores, des Einganges und des Anfanges; Vesta, die Göttin des Herdes. Eine Besonderheit der römischen Religion war die Verehrung von Hausgöttern und Privatgöttern, deren Altäre im Wohnhaus standen: der Laren und Penaten34. Als Laren bezeichnete man die weiterlebenden Geister von verstorbenen Familienmitgliedern, gute Geister, die die Familie beschützen sollten. Penaten waren die Götter der Vorratskammer, die dafür sorgten, dass es der Familie gut ging und sie immer ausreichend zu essen hatte. Wie bei den Griechen war auch die Religion der Römer zuallererst durch den Kult bestimmt, der die Kommunikation mit den Göttern her- und sicherstellte. Eine religiöse Handlung wurde als eine notwendige Pflicht angesehen, die gewissenhaft zu erfüllen war. Cicero leitet den Begriff religio etymologisch von relegere ab: nachdrücklich lesen, gewissenhaft erwägen35. Eine Religion konstituiert sich demnach durch Praxis; durch das Ein- und Ausüben von Gebräuchen, die Ritualcharaker haben, und durch das Einhalten von Vorschriften. Die bestimmende Rolle von Kulten und Riten in der römischen Religion erklärt sich aus der Überzeugung, dass nur ein Festhalten am Überlieferten der Garant für ein glückliches Lebens des Einzelnen, aber auch für den römischen Staat insgesamt ist. Rituale dienten dazu, den Willen der Götter zu erkunden und sich ihrer Gunst weiterhin zu versichern. Die Tradition bzw. die Überlieferung der Alten (mos maiorum = Sitte der Vorfahren) bildet deshalb den zweiten Grundpfeiler der römischen Religion. Cicero überliefert „man dürfe keine Neuerung einführen, die nicht mit den vorbildhaften Grundsätzen der Vorfahren in Einklang stehe.“36 Die fides (= Vertrauen/Treue/Loyalität/Bindung) wurde nicht nur als Göttin verehrt, sondern galt als höchste Tugend in allen Lebensbereichen. Die Begegnung mit den Göttern vollzog sich im Kult, wobei den Götterbildern in den Tempeln eine große Bedeutung zukam. Als weiteres zentrales Element römischer Religion dienten Opferhandlungen zur Verherrlichung einer bestimmten Gottheit, um so deren Wirkungskraft zu verstärken. Erzeugnisse der Natur wie Früchte, Wein, Milch und Honig wurden als unblutige Opfer gespendet, aber auch Rinder, Schafe und Stiere geopfert. Dabei kam es auf die korrekte Ausführung der Kulthandlungen an, um durch die Besänftigung der Götter den Staat zu schützen. Im privaten Bereich weit verbreitete Sühnehandlungen dienten zur Reinigung, um den Zustand der Unschuld wiederzugewinnen und dadurch dem Zorn der Götter zu entgehen, wiederum nach dem Prinzip ‚do ut des‘. Magische Praktiken gewannen ebenfalls an Bedeutung, so übernahmen die Römer von den Etruskern die Techniken zur Deutung von Vorzeichen (Prodigien, wie Vogelflug oder Blitzschau)37. Insgesamt verstanden sich die Römer als ein sehr religiöses Volk. Religion war als soziale Wirklichkeit von höchster Wichtigkeit für die Stabilität der Gesellschaft, denn das Wohlergehen und die Erfolge galten den Römern als Zeichen der anhaltenden Gunst der Götter.

Mysterienreligionen

Im Zeitalter des Hellenismus erlebten die klassische griechische und römische Religion eine Epoche der beschleunigten gegenseitigen Durchdringung und Befruchtung. Griechische Gottheiten wie Zeus, Apollon, Artemis, Dionysos, Herakles oder Hermes wurden im gesamten vorderen Orient verehrt und zogen auch (zumeist mit ihren römischen Namen) in den römischen Pantheon ein. Griechische und römische Religion trafen sich in einer gemeinsamen Grundanschauung: Fromm ist derjenige, der in Wahrung der Tradition die Götter, die Ahnen und die Eltern ehrt. Zugleich beeinflussten die Kulte des Orients sehr stark die griechische und römische Religion. Die Antike kennt neben dem homerischen Götterhimmel und den offiziellen bzw. öffentlichen Staats-, Stadt- und Hauskulten noch eine weitere Form von Religiosität, die sog. Mysterienkulte ( = „Geheimnis“)38. Sie unterscheiden sich von den offiziellen Kulten durch ihr geheimes Wissen und verborgene Riten, in welche man erst nach einer Art Prüfungszeit eingeführt wurde. Über die Inhalte der Mysterien musste geschwiegen werden, so dass die Arkandisziplin (lat. arcanus = verschwiegen) einer der Gründe ist, warum nur weniges über diese Kulte überliefert ist39. Als grundlegende Kennzeichen der meisten Mysterienkulte können gelten: 1) Arkandisziplin; 2) Initiationsriten; 3) gemeinsame Mahlzeiten; 4) Identifikation mit dem Schicksal einer Gottheit; 5) Jenseitshoffnungen/Wiedergeburtsvorstellungen40.

Die Mysterienkulte waren vor allem eine Form persönlicher Optionen innerhalb des polytheistischen Systems der Antike. Die Mysten erhielten einen neuen Status, indem sie nicht nur an den Festen und Riten des Kultes, sondern auch an dem Schicksal bzw. den Wohltaten der Gottheit teilhatten. Dadurch kamen die Mysterienkulte dem frühen Christentum nahe, denn im Gegensatz zu den meisten lokalen griechischen Kulten verbanden die Mysterienreligionen mit ihren Riten positive Jenseitserwartungen.

Eleusis

Der wahrscheinlich älteste griechische Geheimkult (ca. 8. Jh. v.Chr.) sind die Mysterien von Eleusis (nahe Athen), wo sich ein Heiligtum der Demeter befand41. Die Getreide- und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter symbolisierte den ewigen Kreislauf des Wiederaufkeimens und Absterbens, der in Eleusis den Mysten auch ein besseres Leben nach dem Tod in Aussicht stellte. Seine Blütezeit hatte der Kult in römischer Zeit, so ließen sich u. a. Cicero und römische Kaiser wie Augustus und Hadrian dort weihen.

Dionysos

Der Dionysos-Kult gehört zu den bedeutendsten und zugleich rätselhaftesten Erscheinungen antiker Religiosität42. Dionysos (Sohn des Zeus und der Königstocher Semele), auch (lat.: Bacchus) genannt, ist eine vielgestaltige und vielschichtige Gottheit. Er stand für die ungebändigte Natur, für Verwandlung und Ekstase, häufig verbunden mit Weingenuss, Musik, Tanz und teilweise wohl ausschweifender Sexualität. Zum Gefolge des Dionysos gehörten triebhafte Mischwesen wie der Satyr, der Hirtengott Pan und die Mänaden, die ekstatischen Anhängerinnen des Gottes. Darüber hinaus spielte Dionysos (bzw. seine Maske) eine wichtige Rolle in Theater- und Kultaufführungen. Ursprünglich war Dionysos wahrscheinlich ein Vegetationsgott, der bereits im ausgehenden 2. Jahrtausend v.Chr. auf Inseln (Kreta) verehrt wurde, thrakische sowie kleinasiatische Einflüsse aufnahm und dann in das griechische Kerngebiet einwanderte, wo sein Kult ab dem 6. Jh. v.Chr. wirklich fassbar ist. Zahlreiche städtische Dionysosfeste und Dionysosheiligtümer, ihm gewidmete Theater und Prozessionen zeugen von seiner großen Popularität43. Im Jahre 186 v.Chr. wurde der Geheimkult der Bacchanalien durch den römischen Senat vorübergehend verboten, weil die nächtlichen Treffen mit orgiastischen Elementen als Verschwörung angesehen wurden und die Ordnung bedrohten (Livius 39 8–18). Danach konnte sich der Dionysos-Kult aber auch in Italien durchsetzen, wofür es zahlreiche archäologische, künstlerische (z.B. in Pompeii) und literarische Zeugnisse gibt. Satzungen von Dionysos-Vereinen zeigen, dass die ekstatischen Elemente wohl Bestandteil des Mythos blieben, aber nicht mehr so praktiziert wurden. Dionysos galt im Besonderen als Garant für ein gutes Leben im Jenseits, das nach antiker Vorstellung mit Trinkgelagen verbunden war. ‚Totenpässe‘44 sicherten den Mysten den Übergang ins Jenseits, wo die Mysterienfeste fortgesetzt wurden und die Eingeweihten ein gutes/besseres Leben führen werden. Dionysos avancierte immer mehr zum Erlöser, der nicht nur die irdischen Sorgen vergessen machte, sondern die Elemente seines Mythos wurden von breiten Schichten symbolisch-allegorisch als Heilsgeschehen gedeutet.

Isis

Der Isis-Kult ist in Ägypten seit dem ausgehenden 3. Jahrtausend v.Chr. nachweisbar; in der hellenistischen Zeit nimmt er verstärkt griechische Züge an und verbreitet sich in fast allen Provinzen des römischen Reiches45. So sind z.B. in Alexandria, Korinth, Thessalonich, Puteoli, Pompeii46 und Rom Isis-Mysterien nachweisbar. Der Grundmythos erzählt47, dass Osiris, der brüderliche Gemahl der Isis, von seinem bösen Bruder Seth im Nil ertränkt und zerstückelt wurde. Dann verstreute dieser seine Körperteile über das Land. Isis findet ihren Mann, empfängt von ihm noch den Sohn Horus, um dann zusammen mit ihrer Schwester Nephthys den Osiris zu beweinen und zu bestatten. Osiris tritt seine Herrschaft im Reich der Toten an, während Horus heranwächst und mit der Hilfe der Isis den bösen Bruder Seth besiegt. Schließlich wird Horus so zum wahren Herrscher der Welt. Während Horus in der Oberwelt herrscht, üben Osiris und Isis ihre Herrschaft in der Unterwelt aus. Im Verlauf der Hellenisierung des Kultes wird Osiris teilweise mit dem Gott Sarapis identifiziert und nimmt immer mehr Züge des allgewaltigen Zeus an. Der Mythos von der Tötung des Osiris und seiner Wiederbelebung durch Isis symbolisiert nicht nur den ewigen Kreislauf von Vergehen und Neuwerden; er eröffnet darüber hinaus zahlreiche Anknüpfungspunkte: In den Weihen des Isis-Kultes erleben die Mysten bereits jetzt den Gang bis an die Grenze des Todes, sie erleben einen ‚freiwilligen Tod‘, der sie auf das Zukünftige vorbereitet. So berichtet der Myste bei Apuleius über das zentrale Geschehen einer Isisweihe: „Ich bin an die Grenze des Todes gekommen und habe die Schwelle der Proserpina betreten, durch alle Elemente bin ich gefahren und dann zurückgekehrt, um Mitternacht habe ich die Sonne in blendend weißem Lichte leuchten sehen, den Göttern droben und drunten bin ich von Angesicht zu Angesicht genaht und habe sie aus nächster Nähe angebetet.“48 Die ‚Himmelskönigin‘49 Isis verheißt dem Mysten nicht nur ein glückliches Leben, sondern auch Geleit durch die Unterwelt50. Die Teilhabe am Schicksal der Gottheit verleiht den Mysten einen neuen Status; Isis weist als Mitherrscherin der Unterwelt, Gattin und Mutter den Mysten den Weg durch das gefahrvolle Totenreich und gewährt sein Heil. Die Isis-Mysterien kennzeichnet ein umfassendes kultisch-rituelles Stufensystem, das der Myste durchlaufen muss, um wirklich den Schutz der Gottheit zu erlangen. Dazu gehörten heilige Mahlzeiten51 ebenso wie zahlreiche Feste und Prozessionen. Isis wurde besonders in Italien auch zur Göttin der Frauen, zur Wundertäterin und zur allmächtigen und allgegenwärtigen Göttin52. Plutarch zeigt, wie Intellektuelle um 100 n.Chr. all diese merkwürdigen Geschichten aus Ägypten über verfeindete Götterfamilien, Tiergottheiten, heilige Zahlen und Riten verstehen konnten: „Man verehrt dann nicht sie selbst, sondern durch sie das Göttliche, insofern sie für dieses besonders klare, von der Natur geschaffene Spiegel sind.“53 Die symbolische Interpretation ermöglicht es, den gesamten Mythos mit all seinen Einzelheiten auf den göttlichen Logos zu beziehen und ihn so der Vernunft zu öffnen.