Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.

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Mikrogeschichte

Die Geschichte des frühen Christentums ist eine Form von Mikrogeschichte, die sich zunächst fast ausschließlich in ihrer eigenen Literatur widerspiegelte, in der Anfangszeit nur kleine Anhängergruppen hatte (Hausgemeinden mit ca. 30–40 Personen) und erst sehr zögerlich von außen wahrgenommen wurde. Deshalb liegen aus der Anfangszeit nur jene Zeugnisse vor, die von einer späteren Zeit im Prozess der Kanonbildung als sachgemäß angesehen wurden. Zudem gingen Schriften der Anfangszeit einfach verloren, so nach 1Kor 5,9 ein Paulusbrief und nach Lk 1,1–4 frühe (Vor-)Formen der Evangelienliteratur. Zugleich muss aber festgehalten werden, dass die Anzahl und die Qualität der erhaltenen Zeugnisse in dreifacher Weise auch religionsgeschichtlich einzigartig sind: 1) Im Vergleich mit der Ursprungsphase anderer Weltreligionen (z.B. Judentum und Islam) sind die Anzahl, das Alter und die unterschiedlichen Autoren der Schriften aus der Anfangszeit bemerkenswert. Nach einer Phase der mündlichen Überlieferung und erster Verschriftlichungen (s.u. 6.7) liegt schon 20 Jahre nach dem Tod Jesu um 50 n.Chr. mit dem 1Thesssalonicherbrief das erste eigenständige schriftliche Zeugnis der neuen Bewegung vor. Mit der Logienquelle folgt die erste Lebensund Verkündigungsgeschichte Jesu Christi um 50–60 n.Chr.14 .2) Es gibt mehr als 5000 ntl. Handschriften15, d.h. die Textproduktion und -überlieferung des frühen Christentums ist innerhalb der Antike einzigartig und bildet eine zuverlässige Grundlage für historisches Fragen. 3) Von allen wichtigen Strömungen innerhalb des frühen Christentums wurden Texte überliefert, so dass man nicht von einer Geschichte der Sieger sprechen kann.

Makrogeschichte

Schließlich zeigt die Geschichte des frühen Christentums sehr deutlich, dass jede Mikrogeschichte Teil einer Makrogeschichte ist, und das sogar in mehrfacher Hinsicht: 1) In seiner frühen Entstehungsphase ist die Bewegung der Christusgläubigen ein Teil der jüdischen Gruppengeschichte (s.u. 5). 2) Das bindet sie zugleich in das spannungsreiche Verhältnis zwischen den Juden und den Römern und somit in eine Parallelgeschichte ein. 3) Mit der erfolgreichen paulinischen Mission in Kleinasien und Griechenland bleibt das sich formierende Christentum Teil der jüdischen (Diaspora-) Geschichte und wird anfangs von den Römern auch so wahrgenommen (Claudius-Edikt; Paulus vor Gallio), zugleich entwickelt die neue Bewegung aber auch eine Eigendynamik in der genuin römischen Geschichte (Brand Roms unter Nero). 4) Der Untergang Jerusalems 70 n.Chr. hat zwar auch für das frühe Christentum eine große Bedeutung (s.u. 9), tangiert es aber weit weniger als das Judentum. 5) Je größer das frühe Christentum wurde, desto mehr nahm es an der genuin römischen Geschichte teil und wurde zugleich in eine lang anhaltende Konfrontation mit den Römern hineingezogen. Die Sonderregelungen für das Judentum als in der Regel geduldeter Religion16 galten nun nicht mehr und vor allem der Kaiserkult machte Konflikte unausweichlich (s.u. 12).

Was generell gilt, trifft auch für die Geschichtsschreibung zu: Der Mensch ist ein deutendes Wesen; er ist auf Selbst- und Weltdeutung angewiesen, um seine Geschichte, sein Erleben, sich selbst und die anderen verstehen zu können. Dieser Deutungsprozess muss bewusst gestaltet und reflektiert werden, wobei die historischen Quellen ebenso im Blick zu behalten sind wie ihre Auslegungsgeschichte und die heutigen Konstruktionsbedingungen von Geschichte. Ein weiter Blick, Multiperspektivität und ein eigener Standort schließen sich dabei nicht aus, sondern ergänzen sich. Genese und Geltung eines historischen Phänomens müssen unterschieden, können aber nie wirklich getrennt werden.

1Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 2 1874, in: L. v. Ranke’s Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“

2Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik, 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“

3Vgl. Jürgen Straub, Über das Bilden von Vergangenheit, in: Jörn Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, 45–113.

4Vgl. dazu Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte, 130–146.

5Vgl. dazu Jürgen Kocka, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.

6Johann Gustav Droysen, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“

7Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Hamburg 1996 (= 1944), 291: „Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“

8‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit, sondern ist in einem funktional-kommunikativen Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung. Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 31990, 88.

9Cicero, Orator 2,54 (der Historiker Antipater wird lobend herausgestellt, „die anderen erwiesen sich als Leute, die Geschichte nicht wirkungsvoll gestalten, sondern nur erzählen konnten“); Lk 1,1–4; Plutarch, Alexander 1,1 ( = „denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“) zeigen deutlich, dass auch antike Autoren ein klares Bewusstsein von diesen Zusammenhängen hatten (vgl. ferner Thucydides, Historiae I 22,1; Lukian, Historia 51; Quintilian, Institutio Oratoria VIII 3,70).

10Vgl. Jörn Rüsen, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. Jens Schröter/Antje Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31.

11Zur Welt der Geschichtswissenschaften vgl. Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 2009; zu den Methoden, Ansätzen und Fragestellungen vgl. Michael Maurer (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften I–VI, Stuttgart 2001–2005.

12Vgl. dazu Dieter Flach, Römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 42013.

13Hilfreich zur Erfassung dieser Positionen ist die Diskursanalyse; sie ist eine Methode/Fragestellung, um die Formierung und Etablierung von Diskursen in der Geschichte zu erfassen und die damit verbundenen sprachlichen Äußerungen/Anschauungen/Argumente/Intentionen/Interessen/Machtansprüche zu erfassen und aufzuzeigen. Vgl. dazu: Reiner Keller, Diskursforschung, Wiesbaden 22004; Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt 2008.

14Zur Begründung der Datierungen vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 65.250f.

15Vgl. dazu Kurt Aland/Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 21989; David C. Parker, New Testament Manuscripts and their Texts, Cambridge 2008.

16Der häufig verwendete Begriff der ‚religio licita‘ für das Judentum ist irreführend, weil es nie ‚offiziell‘ von römischer Seite anerkannt wurde; vgl. Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 548–550. Die Römer akzeptierten lediglich in der Regel ‚alte‘ Kulte und Religionen und statteten zeitweise, sowie von Kaiser zu Kaiser unterschiedlich, das Judentum mit Sonderrechten aus.

2. Begriff und Abgrenzung der Epoche

2.1 Urchristentum oder frühes Christentum?

Henning Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche – ein methodischer Versuch, ZNW 68 (1977), 200–230. – Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 82, Tübingen 1993. – Jürgen Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, 9–17. – Gerd Lüdemann, Das Urchristentum, 128–133. – Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 22–27.153–156.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich der Begriff des ‚Urchristentums‘ als terminus technicus für die früheste historische Epoche der Entstehung des Christentums durchgesetzt. Er vereint in sich mehrere Bedeutungen, die unterschiedlicher Ordnung sind und getrennt hinterfragt werden müssen. Zeitlich-deskriptiv ist zunächst der Moment des Anfangs gemeint, Urchristentum meint das anfängliche Christentum. Mit dem Präfix ‚Ur-‘ wird aber auch vielfach eine Wertung verbunden, die Beginn und Wesen des Christentums gleichsetzt: Urchristentum meint dann das ursprüngliche Christentum, den Urzustand. ‚Urchristentum‘ und ‚Urgemeinde‘ setzen bei diesem Verständnis die Vorstellung eines reinen, unverfälschten Ursprungs voraus, demgegenüber die spätere Entwicklung als Verfallsgeschichte angesehen werden muss1. Anfang und Wesen des Christentums werden in eins gesetzt, wobei zumeist die Einheit als Kennzeichen des Anfangs und Gegensätze/Konflikte als Zeichen des späteren Zerfalls des Ursprungs angesehen werden. Dabei handelt es sich jedoch jeweils um Werturteile bzw. Geschichtsbilder, die sich an den Texten gerade nicht verifizieren lassen.

 

Deshalb wurden neutralere Begriffe vorgeschlagen, um die Anfangsgeschichte des Christentums zu erfassen. Begriffe wie ‚apostolische – nachapostolische Zeit‘ oder ‚primitive Christianity‘ haben sich nicht durchgesetzt, weil sie ebenso viele normative Wertungen enthalten wie ‚Urchristentum‘. Demgegenüber wird in der aktuellen deutsch- und englischsprachigen Forschung häufig der Begriff ‚frühes Christentum‘ bzw. ‚Early Christianity‘ verwendet2, weil er am ehesten eine rein phänomenologische Erfassung und neutrale Bezeichnung der Anfangsgeschehnisse ermöglicht. ‚Früh‘ meint zuallererst eine zeitliche Bestimmung; es geht um die Anfangszeit einer Bewegung, die seit ca. 2000 Jahren existiert. Ein normatives Element schwingt ebenfalls mit, denn dem Anfang wurde zu allen Zeiten des Christentums eine besondere Bedeutung beigemessen. Wie aber dieser Anfang genau zu beschreiben ist, als Einheitsbewegung oder als in sich vielfältig strukturiertes und möglicherweise auch zerstrittenes Gebilde, wird durch den Begriff gerade nicht präjudiziert! Deshalb wird im folgenden frühes Christentum‘ als möglichst neutraler terminus technicus verwendet.

2.2 Der zeitliche Rahmen

Ab wann kann man von einem ‚frühen Christentum‘ sprechen? Zunächst einmal ist unbestreitbar: Der Begriff ‚Christentum‘ ist eine Deutungskategorie, die sich aus der Wirkungsgeschichte der Bewegung ergibt, am Anfang aber von deren Mitgliedern nicht verwendet wurde. Apg 11,26c („in Antiochia wurden die Jünger erstmals Christianer genannt“) und die Paulusbriefe zeigen allerdings, dass zwischen 50 und 60 n.Chr. die neue Bewegung ein Bewusstsein von ihrer Andersartigkeit und Eigenständigkeit entwickelte (s.u. 8.7). Deshalb wird für die unmittelbaren Anfänge der Bewegung von Christusgläubigen gesprochen (s.u. 4), d.h. von Menschen, die an Jesus von Nazareth als Messias glaubten, Christusanhänger waren. Erst die paulinische Mission schafft die Voraussetzungen und das Bewusstsein einer eigenständigen Größe (s.u. 8.7), die sich dann in den synoptischen Evangelien ihre Gründungserzählungen schafft (s.u. 9.4). Ab diesem Zeitpunkt ist die Bezeichnung frühes Christentum‘ eine historische Kategorie, für die Zeit davor wird sie vermieden oder in einem umgangssprachlichen Sinn gebraucht.

Der Anfang im Jahr 30

Wie lässt sich die Epoche der Entstehung des frühen Christentums zeitlich strukturieren? Zunächst einmal ist deutlich: Die neue Bewegung der Christusgläubigen beginnt dort, wo das irdische Leben des Jesus von Nazareth endete (im Jahr 30)3. Dafür gibt es zwei Gründe: a) Jesus von Nazareth verkündigte das Kommen des Reiches Gottes4 und verstand sich nicht als Begründer einer neuen, dauerhaften Bewegung. b) Die Erscheinungen des Auferstandenen (s.u. 4) leiteten etwas Neues ein, denn nun wurde Jesus Christus als göttliches Wesen und als der Begründer eines neuen (zunächst innerjüdischen) Diskurses verehrt5.

Eine neue Ausrichtung um das Jahr 50

Der nächste Einschnitt kann mit dem Jahr 50 gemacht werden6. Der Apostelkonvent 48 n.Chr. (s.u. 7) und die sich anschließende zweite (48–51/52 n.Chr.) und dritte Missionsreise (52–55 n.Chr.) mit dem Übergang nach Europa markieren eine neue theologische und geographische Ausrichtung innerhalb des entstehenden frühen Christentums. Die unabhängige beschneidungsfreie paulinische Mission wendet sich programmatisch Menschen aus dem griechisch-römischen Kulturkreis zu, universalisiert die Bewegung und verlegt ihren Schwerpunkt nach Kleinasien/Griechenland.

Das Jahr 70 als tiefer Einschnitt

Um 130 endet das frühe Christentum

Den dritten, tiefen Einschnitt bildet zweifellos das Jahr 70 n.Chr. (s.u. 9). Zwischen 60 und 70 endet mit dem Tod von Petrus, Paulus und Jakobus die Gründerepoche (s.u. 9.1). Mit dem Untergang des Tempels und der Jerusalemer Gemeinde verliert das frühe Christentum sein bisheriges Zentrum und muss sich neu ausrichten. Auch das Entstehen neuer literarischer Formen zeugt von einer Umbruchsituation. Die neue literarische Gattung ‚Evangelium‘ und die pseudepigraphischen Apostelbriefe (Deuteropaulinen, Apostelbriefe unter den Namen von Petrus, Jakobus und Judas) bringen deutlich das Bewusstsein einer neuen Epoche zum Ausdruck: die Jesustraditionen müssen gesichert werden und das persönliche Wirken der Anfangsapostel ist zum Ende gekommen; beides gilt es literarisch zu bewältigen. Das Jahr 70 leitet die letzte Epoche des frühen Christentums ein, deren Ende schwer zu bestimmen ist. Allerdings kann für die Zeit um 130 n.Chr. eine deutliche Verschiebung auf mehreren Ebenen festgestellt werden: a) Neue Fragestellungen: Die frühen Apologeten setzen sich gegen Verfolgungen und Verleumdungen der Christen erstmals mit Apologetik nach außen zur Wehr7, indem sie Verteidigungsschriften an die römischen Kaiser richten. Um 125/126 n.Chr. richtet Quadratus eine Schrift an Kaiser Hadrian8, um gegen die unbewiesenen Vorwürfe gegen die Christen zu protestieren. Um 127 n.Chr. wendet sich der Athener Philosoph Aristides ebenfalls an Hadrian, indem er die Lehre der Christen darstellt und um Verständnis wirbt9. Gemeinsam ist den frühen Apologien eine neue Perspektive und ein neues Selbstverständnis: Die Christen sehen sich als bedeutende Gruppe innerhalb der Gesellschaft dauerhaft in die Geschichte gestellt und selbstverständlich auch als loyale Bürger des Römischen Reiches, die ihre natürlichen Schutzrechte einfordern10. Dabei grenzt man sich beim Gottesglauben öffentlich von Juden und Griechen ab, was erstmals in den Kerygma Petri (um 125 n.Chr.) belegt ist: „Denn das, was Griechen und Juden betrifft, ist alt, wir aber sind die Christen, die ihn auf eine dritte Weise verehren.“11 b) Neue Gattungen: Es entstehen neue literarische Gattungen, die es zuvor im frühen Christentum nicht gab: Die Apologien. Dabei handelt es sich um ermahnende und vor allem argumentierende Werke, die an den Kaiser und/oder Senat gerichtet waren und der literarischen Form der Petition nahe stehen. Auffallend ist, dass die Verfasser der frühen Apologien faktisch als Philosophen auftreten, um so die Aufmerksamkeit der Kaiser zu erregen. c) Neue Großbewegungen: Die Gnosis entwickelte sich zunächst gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. (s.u. 14.2), um dann ab dem ersten Drittel des 2. Jh. zu einer eigenständigen Großbewegung innerhalb des Christentums aufzusteigen. Um 180 n.Chr. hat sie solch eine Verbreitung und Macht erlangt, dass Irenäus die Existenz der Kirche gefährdet sieht und sein fundamentales Werk ‚Adversus haereses‘ (‚Gegen die Falschlehren‘) abfasst. d) Schließlich legt auch der Bar-Kochba-Aufstand (132–135 n.Chr.) eine Zäsur um 130 nahe, denn damit kam die ohnehin schon stark eingeschränkte nationalstaatliche Existenz des Judentums zu einem Ende (s.u. 3.3). Diese starke und nachhaltige Schwächung des Judentums führte zu einer Stärkung der Eigenständigkeit und des Selbstbewusstseins des entstehenden Christentums, die bereits im ‚Dialog‘ zwischen Justin und dem jüdischen Philosophen Tryphon (ca. 155 n.Chr.) ablesbar ist.

Historische Prozesse in der Antike lassen sich in der Regel nicht auf das Jahr genau bestimmen, sondern es handelt sich um Entwicklungen, in denen das Alte noch dominiert und zugleich das Neue langsam hervortritt. Insofern zeigen die hier vorgenommenen Strukturierungen, Eingrenzungen und Jahreszahlen lediglich die Grundbewegungen innerhalb des frühen Christentums an12.

1Vgl. Stefan Alkier, Urchristentum, 261ff.

2Eine Variante bietet Stefan Alkier, Urchristentum, 265: „Ich schlage vor, den Begriff Urchristentum durch den bereits geläufigen Begriff Frühchristentum zu ersetzen“; Gerd Lüdemann, Das Urchristentum, 129, will den Begriff ‚Urchristentum‘ beibehalten, allerdings ohne idealisierende Konnotationen; ähnlich Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 24, der eine zeitliche Unbestimmtheit/Offenheit gegen den Begriff ‚frühes Christentum‘ anführt.

3Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, dem 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt; vgl. dazu August Strobel, Der Termin des Todes Jesu, ZNW 51 (1960), 69–101; Rainer Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus, 31–52. Skeptisch gegenüber dieser relativ genauen Datierung ist Helen K. Bond, Dating the Death of Jesus: Memory and the Religious Imagination, NTS 59 (2013), 461–475, die einen Zeitraum von 29 bis 34 n.Chr. favorisiert.

4Zur Verkündigung Jesu vgl. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, 47–144.

5Nach wie vor treffend Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, 1: „Leben und Lehre Jesu sind die Voraussetzung der Kirchengeschichte.“ Völlig anders Martin Hengel/Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum, 3–20, die ihre Geschichte des frühen Christentums mit dem Auftreten Johannes des Täufers und dem Wirken Jesu beginnen. Als zweite Epoche gelten die Jahre 30–70 n.Chr.; die dritte Epoche umfasst die Zeit von 70–138 n.Chr. (Tod Hadrians).

6Vgl. auch Gottfried Schramm, Fünf Wegscheiden, 151.

7Apologetik gibt es natürlich auch im Neuen Testament, vor allem in der Apostelgeschichte: Die Führer der Juden und das Volk sind die Verfolger Jesu bzw. der Christen schlechthin (Mk 15,16–20 entfällt bei Lukas, vgl. ferner Apg 13,50; 17,5–7.13; 21,17ff), während sich bei Übergriffen der Juden die römischen Behörden vor die Christen stellen und sie schützen (Apg 19,23–40; 23,29; 25,25; 26,31).

8Datierungen und Texte (vor allem Euseb, Kirchengeschichte) bei Michael Fiedrowicz, Christen und Heiden, 24f.

9Vgl. a.a.O., 25–28.

10Weitere frühe Apologeten: Justin (um 155 n.Chr.); Athenagoras (um 177 n.Chr.); zur Geschichte der Apologetik vgl. Hans Conzelmann, Heiden – Juden – Christen, 258–322.

11Kerygma Petri 2d; Übersetzung nach Michael Fiedrowicz, Christen und Heiden, 20.

12Während in fast allen Entwürfen das Jahr 30 als Beginn des Urchristentums/frühen Christentums gilt, wird der Übergang zur Alten Kirche sehr unterschiedlich bestimmt: Henning Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche, 210, schlägt 150–180 n.Chr. vor; Gerd Lüdemann, Ketzer, 11, votiert für das Ende des 2. Jh.; Jürgen Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, 12, nimmt 120/130 n.Chr. an; Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums, 153–156, plädiert für 150 n.Chr., weil erst hier die durch Apologetik und Gnosis einsetzenden neuen Entwicklungen voll wirksam werden. Gegen eine solche Spätdatierung der Gnosis spricht vor allem Justin, der sehr wahrscheinlich in seiner (verloren gegangenen) Schrift Syntagma bereits um 145 n.Chr. umfassend gnostische Systeme attackierte. Dafür wird man eine gewisse Entstehungs- und Ausbreitungszeit der Gnosis annehmen dürfen und deshalb ihre Entstehung früher ansetzen müssen, z.B. im ersten Drittel des 2. Jh. (s.u. 14.2).