Vom Wind Verwehte: Aussteiger unter Segeln

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04. Frauen an Bord

Nur wenige Langzeitsegler finden es vergnüglich, einhand in See zu stechen. Eine Umfrage unter männlichen Dauerseglern ergab: Frauen sind die besten »Segelkameraden«, vorausgesetzt sie sind bereit, sich dem Abenteuer See voll und ganz zu verschreiben.

Ich habe von einem Ehepaar gehört, die trainierten Zusammenleben auf engem Raum, in dem sie sich drei Monate lang in ihrer kleinen Wohnung einsperrten, um so ihre Koexistenz-Fähigkeit zu erproben.

An Land kann man sich aus dem Weg gehen, wenn es mal gekracht hat. Auf dem Boot lebt man wie die Igel – eng aufeinander, und deshalb pikt man sich. Braucht man mal einen anderen Menschen, um sich etwas von der Seele zu reden, ist die gute Freundin – der gute Freund – mit der/dem man sich mal richtig aussprechen könnte, gerade 1000 Meilen weit woanders.

Dies hatte mir eine erfahrene Langzeitseglerin erzählt, nachdem auf ihrem Boot die Tortillas flogen. Einer, den ich in Alicante kennengelernt hatte und der ebenfalls viele Jahre unterwegs war, sagte: »Ich möchte niemanden auffordern, sich mit einer unerprobten Beziehung auf ein Boot zu setzen und einfach loszusegeln. Das geht oftmals schief.« Tatsächlich habe er noch nie von einer angeknacksten Beziehung gehört, die an Bord gekittet wurde.

Auch bei denen, die an Land keine Probleme miteinander haben, ist das Leben an Bord nicht immer Sonnenschein. Etwas später auf Mallorca traf ich Philip und Helen auf ihrer Escape. Er, breiter Dickschädel, wilder Bart, kragenloses Hemd, knappe Badehose – eine Mischung aus Alexis Sorbas und Wikinger im Urlaub. Sie, blond, langhaarig, ein bisschen zu zart für das bullige Holzschiff mit den zwei Baumstämmen als Masten, den rotbraunen Segeln und dem dunkelgrün gemalten Colin-Archer-Rumpf. Das Thema in der gemütlichen, mit bunten Teppichen ausgelegten Kajüte war von hoher Explosionskraft: Frauen an Bord.

Als Philip und Helen noch Reiseleiter waren und in der freien Winterzeit aus dem alten Kasten die schmucke Escape machten, da konnte sich Helen nichts Schöneres vorstellen, als sorglos an Bord zu leben, Gitarre zu spielen, all die Bücher zu lesen, die sie schon immer lesen wollte, und in der Pantry indonesisch zu kochen.

Nach fünf Jahren sah sie das anders. »Ich bin müde vom Boot«, sagte sie zu mir, ihr walisischer Akzent war kaum zu überhören. Sie habe immer öfter Angst: »Wenn Philip mal über Bord geht, muss ich ihn wieder rausfischen. Mach das mal … bei Windstärke acht!«

Philip schüttelte den Kopf. Die 14 Meter lange Escape, ohne Winsch, ganz nach alten Vorbildern als Gaffelketsch getakelt, sei zwar das Maximum für zwei Personen, aber … Dabei übersah er schnell mal, dass Helen sehr zierlich war.

»Und dann immer nur Häfen!«, murrte sie. Die seien doch alle gleich: Rechts Schiffe, links Schiffe und sie mitten drin. »Und auf jedem Schiff nur Typen, die kein anderes Thema kennen: Ihr letztes Schiff, ihr derzeitiges Schiff, und ihr nächstes Schiff. Das ist wahnsinnig, sag ich dir!« Philip verstand das nicht. Für ihn war sein Boot zum Lebensinhalt geworden.

Ob sie nicht auch Leute mit anderen Interessen kennengelernt und Freundschaften geschlossen habe, zum Beispiel mit Frauen?

»Kennengelernt schon, aber richtige Freundschaften – eigentlich nicht. Wir müssen ja immer weiter, können nirgends länger bleiben …« Seitenblick auf Philip. Außerdem seien die meisten Bordfrauen sowieso verschlossen. »Die wenigsten sind glücklich.«


Zuverlässig: Steuerfrau Ayse

Helen hatte das Gefühl, entwurzelt zu sein, vertraute sie mir an. Die alten Freunde von früher, sie meinte vor allem ihre Freundinnen, hatte sie aus den Augen verloren. Was ihr blieb, waren Philip und die Escape. »Nicht mal ’ne Katze darf ich haben. Ich muss unheimlich aufpassen«, sagte sie lächelnd, »dass ich mich nicht zu sehr an Philip klammere. Wer sich anklammert wird sich erschöpfen. Oder den erschöpfen, an den er sich klammert.«

Ich traf auch Typen, die behaupteten, Frauen seien für das Leben an Bord so wenig geeignet wie Männer fürs Kinderkriegen. Nimmt der Wind zu? Sitzt der Anker auch wirklich fest? Das ewige Knarren der Leinen, vor allem nachts. Das Rollen des Schiffes bei Schirokko. Die Enge, die Unruhe, die ewigen Männergespräche – all dies würde Frauen mürbe machen. Und auch die Anrainer des Mittelmeeres, die seit Odysseus’ Zeiten das Meer eher fürchten als lieben, schüttelten die Köpfe und bemitleideten die Frauen, wenn sie mal in so ein kleines Boot hineingeguckt hatten. »No, no – so kann man doch nicht leben!«

Andererseits begegnete ich starken Frauen, die noch verrückter waren als so manch verwitterter Dauersegler. Nora zum Beispiel, die ich auf Amorgos traf. Auf ihrem 7-Meter Schiffchen schipperte sie ganz alleine durch die Gegend, pfiff auf Beruf und Sicherheit, verzehrte die kleine Unterstützung, die sie von ihrem Ex-Mann bekam, träumte von größeren Reisen und fürchtete sich vor nichts. Oder Carolin, die Frau von Chris, die ihr zweites Kind unbedingt an Bord entbinden wollte und dies auch zwischen zwei Herbststürmen hingekriegt hat. Und Hiltrud, die Frau von Maler Wolfgang, die nicht nur den kompletten Umbau des 80 Jahre alten Lotsenkutters geleitet hat, sondern auch die jährlich anfallenden Überholungsarbeiten eigenhändig durchführte und alle Patente besaß.

Der total versoffene Holger, seit zwei Jahren verlassener Skipper und seither nicht mehr zum Auslaufen fähig, hatte in einem hellen Moment der Klarheit festgestellt, er glaube, es hänge vor allem von der Einstellung ab, von der Motivation. Die Frau, die nur ihm zuliebe mitfahre, werde genauso wenig glücklich wie der Mann, der ihr zuliebe zu Hause bleibe.

Das Dilemma einer Schiffsbeziehung fasste Einhandsegler Sam beim Tee auf seiner Alegro so zusammen: »Vor zehn Jahren hatte ich endlich die richtige Frau gefunden. Ich liebte sie wie keine vorher. Sie war nicht nur schön und intelligent, sie kochte auch noch, wenn ich den Treibanker klar machte. Sie hatte keine Angst und war ein großartiger Mensch.« Er nippte an seinem Tee.

»Vor drei Jahren hat sie mich verlassen. Die Alegro war ihr plötzlich zu eng und das Meer zu wild. Sie wollte Kinder kriegen und in einem Haus mit zwei Badezimmern wohnen.« Seitdem lebte Sam alleine auf seinem Boot. Sein Kommentar: »C‘est la femmes!«

Es gibt Boote, denen sieht man auf den ersten Blick an, dass eine Frau an Bord ist. Liegt das Schiff im Hafen, stehen Blumen auf dem Kajüttisch, ab und zu flattert frisch gewaschene Wäsche im Wind und aus der Kajüte duftet es jeden Abend anders. Dann wird den verlassenen oder aus welchen Gründen allein segelnden Junggesellen wehmütig ums Herz und ihnen wird bewusst, wie armselig ihr Traumleben doch ist.


Immer nur segeln?

Frauen an Bord können aber auch ganz anders wahrgenommen werden: Kati, die mit Frank zusammen in der Karibik segelte, kam plötzlich auf die Idee, Wolle zu kaufen, und sie begann, Teppiche zu knüpfen. In Häfen und auf Ankerplätzen sah man sie im Cockpit sitzen und mit Fäden hantieren. Bald stellte sich heraus, wie begabt sie war, was sie selbst nicht gewusst hatte. Ein Teppich nach dem anderen wurde geknüpft und die fertigen Teppiche von Bord zu Bord verkauft. Auf diese Weise konnte sie wunderbar zur Finanzierung des Bordlebens beitragen.

Die beiden überquerten den Atlantik und besuchten die klassischen Teppichländer des Orients, um Anregungen für Katis Ideenbuch zu sammeln. »Segeln«, sagte Kati, »verbunden mit einer Aufgabe, die mich erfüllt, ist außerordentlich befriedigend.« Frank meinte, das sei der Grund, weshalb Kati immer noch Spaß am Bordleben habe, obwohl sie schon im fünften Jahr unterwegs seien.

Inzwischen hatten Frank und Kati einen Lebensrhythmus gefunden, der Segeln und Knüpfen in einem ausbalancierten Verhältnis möglich machte. Im Sommer segelten und sammelten sie Anregungen für neue Muster, und im Winter mieteten sie irgendwo ein Häuschen, in dem Kati knüpfte, bis ihr die Finger weh taten. Frank hatte sich mittlerweile auch für das Thema begeistert, er schrieb ein Buch über Orientteppiche.

Zur Gruppe derjenigen, die in ihrer Segelei noch einen anderen Sinn sahen als nur in der Welt herumzubummeln, gehörten auch Mec und Charles, die ihr Boot im Hafen verankerten und für Tage aus ihrer gewohnten Umgebung verschwanden. Zurückgekommen, erzählten sie in den Cockpits der befreundeten Yachten abendelang Geschichten von ihren Fußwanderungen im Landesinneren, ihren Übernachtungen unter freiem Sternenhimmel und den vielen, seltsamen Vogelarten die sie gehört und manchmal auch gesehen hatten.

Außer Sieglinde, die malte, Gudrun, die schrieb, Tina, die lustige Kinderlieder komponierte, Ann, die Mineralien sammelte, Harvey, der Buddelschiffe baute, gehörten noch viele andere dazu, für die Segeln nur eine wichtige Dimension ihres losgelösten Lebens war. Daneben gab es Interessen, Neigungen und Leidenschaften, die entdeckt, ausgegraben und gefördert, dem Leben auf dem Boot einen schöneren, manchmal auch tieferen Sinn verliehen.

Wer sich geringschätzig über die »Hängengeblieben« und »Bummelanten« des Mittelmeeres auslässt, der kennt sie nicht, diese Nicht-nur-Segler, für die Segeln kein Selbstzweck ist und auch kein Langstrecken-Marathon zu irgendwelchen fragwürdigen Zielen, sondern etwas sehr Privates und Persönliches. Begegnungen mit diesen schöpferischen Spinnern sind niemals langweilig. Oft sitzt man nächtelang zusammen und spürt, wie spannend es sein kann, wenn sich ein Mensch auf das Abenteuer einlässt, sich selbst zu entdecken.

 

Susi von der Wayway lachte und sagte: »Warum sind eigentlich die Hauptfiguren in den Abenteuergeschichten immer nur Männer? Billy Jenkins und Tom Mix, Old Shatterhand und Winnetou, Oliver Twist und Michael Kohlhaas, Dorian Gray und die Brüder Karamasow, Don Quichotte und Robinson Crusoe, und so weiter und so fort. Nicht zu vergessen Jerry Cotton und Batman. Wenn ich könnte, würde ich Bücher mit Abenteuerinnen schreiben. Das würde uns Frauen helfen, selbstbewusster zu sein und gleichberechtigter. Das Quotengequassel ist von gestern. Wir sind genauso stark und halten auch was aus, wenn es draußen kachelt!«

Wenn man allgemein an starke Frauen denkt, fallen einem zuerst die Amazonen ein, jene Frauen aus den griechischen Mythen und Sagen, die männergleich in den Kampf zogen und vor allem als wagemutige Reiterinnen mit Doppelaxt und freier Brust, Angst und Schrecken unter Männerkohorten verbreiteten.

Denkt man »starke Frauen« heute, sind die Assoziationen oftmals kritisch. Starke Frauen gelten oft als dominant, die versuchen, sich überall einzumischen und den Ton anzugeben. Mit so »einer« gemeinsam das Wagnis eines längeren Bootsabenteuers auf dem Meer zu wagen? Da hält es mancher offenbar für einfacher, als Einhandsegler solo über die Meere zu ziehen und seine Ruhe zu haben.

Ich persönlich war immer für gemischte Crews. Waren Frauen an Bord, ging es »despektierlicher« zu. Dann wurden nicht so viel Witze gerissen und es hieß meist: »Bitte kannst du mir mal die Butter geben?«, statt: »Gib mich mal die Butter!«

Eine mit ganzem Herzen mitmachende Frau zeichnet sich nicht unbedingt durch Kraft in den Armen aus, sondern durch weitaus wichtigere Eigenschaften: Ein gesundes Selbstwertgefühl und starkes Selbstvertrauen, auch um gegen den Strom der Vorurteile anzuschwimmen und so die Hürden des Lebens auf dem Meer und einem Boot zu überwinden.

05. Fallhöhe

Die Biskaya ist eine holprige Chaussee. Wer je versucht hat, mit einer kleinen Yacht, egal zu welcher Jahreszeit, den stürmischen Golf zu überqueren, kann ein Lied davon singen. Nur wenigen wird es ergehen wie jenem Segler, der ums Kap Horn herum motoren musste. Ich kenne niemanden, der die Biskaya bei Flaute allein mit tuckerndem Motor hinter sich gebracht hat.

Zum Wachwechsel trafen wir uns im Cockpit. Freund Claus, der mich auf meiner ersten Etappe in das Abenteuer Freiheit unter Segeln begleitete und der Erfahrenere von uns beiden war. Und ich, der Autor dieser Geschichten, die sich im Lauf von 40 Jahren in meinem Logbuch angesammelt haben.

Es gab heißen Tee, manchmal Schokolade und eine Zigarette. Dazu erzählte Claus seine Beobachtungen aus der Nacht und las auch mal Zeilen vor, die er beim Schein einer Taschenlampe aufgeschrieben hatte. Danach verschwand er unter Deck und ich übernahm die Wache – warm in Helly Hansen eingepackt, mit dickem Pullover und Ölzeug oben drüber. Die Nächte waren kalt, die Sterne funkelten abweisend, die See kam schwarz daher, hob und senkte das Boot, lief schlürfend darunter durch und verschwand gurgelnd im Kielwasser. Ab und an schimmerte das Licht eines Frachters oder Containerschiffes auf Gegenkurs durch die Nacht.

Am frühen Morgen legte der Wind zu, aber anders als vorausgesagt aus SW mit 4–5 von vorne. Wir kamen vom Kurs ab und steuerten hoch am Wind in den Atlantik hinaus. Das Boot stampfte sich mühsam durch das Berg- und Tallabyrinth. Beide fühlten wir uns blümerant. Kurz und bündig trug Claus ins Logbuch ein: »Heut’ schreib ich lieber nix, es dümpelt mir zu sehr – zifix!«

»Wind auf West drehend«, röhrte es Stunden später aus dem Radio. Das war schon besser. Gegen 18 Uhr Wachübergabe, diesmal mit Linsensuppe und einem starken Kaffee. Nach dem langen Schlag in den Atlantik hinaus und der Wende zurück in die Biskaya, segelten wir innerhalb des Dampfertrecks. Wo genau wir uns befanden, sagte uns der unzuverlässig gekoppelte Ort. Der verdammte Funkpeiler machte keinen Mucks; so weit draußen gab es keine Signale. Der Peilrahmen im Masttop war eigentlich überflüssig. GPS war noch nicht erfunden, wir kannten nicht einmal das Wort dafür.

Endlich raumer Wind aus NW – jetzt lief es richtig. Kurz darauf Erregung an Deck: »Wal, er bläst!« Als wir näher kamen, tauchte er ab. Lange majestätische Atlantikdünung blieb zurück, der Wal war verschwunden. Während seiner Wache schrieb Claus ins Logbuch:

»In der Biskaya im Mai / schwamm ein gigantischer Wal vorbei. / Riesig. Wetter war diesig. / So um vier Glasen, / sahen wir ihn blasen. / Früher hätten wir ihn harpunieren gekonnt … / doch er schwamm über den Horizont. / Und das Meer war wieder grau und leer.«


Freund Claus, Dichter und Planer*

Am Nachmittag tauchte Pandarea weich ein, kam achtern hoch, schüttelte sich leicht und setzte sanft in die unter ihr durchlaufende Welle. Es rauschte und gurgelte achteraus. Kein einziges Mal wurde es nass an Deck. Dazu strahlender Sonnenschein, es wurde wärmer. Der Kurs lag an, La Coruña voraus. Südwärts ho!

Plötzlich ein hässliches Knacken von oben, erschrockene Blicke zum Masttop hinauf. Der Peilrahmen auf der Spitze des Großmastes wippte im Rhythmus der Bootsbewegung hin und her. Verdammt! Wenn der sich los schaukelt und runter kommt …!

»Du bist leichter, los hinauf!« Claus griff den Bootsmannstuhl aus der Backskiste und sprintete zum Mast, rollte Groß und Genua ein – ich startete den Motor und ließ den Autopiloten langsam gegen Wind und Wellen anfahren. Das bremste das Rollen und verminderte das Schlingern. Etwas.

Den Lifebelt mit dem Reservefall gesichert und den Bootsmannstuhl mit dem zweiten Fall verknüpft … wie gut, dass wir zwei Reservefallen hatten! Claus kurbelte, die Winsch ächzte, schon schwebte ich drei Meter über dem unter mir schwankenden Deck, pendelte vom Mast weg frei über die Wellen und wieder zurück, stemmte mich mit beiden Füßen dagegen und versuchte, mich am klammen Mastholz festzuhalten.

Oben knirschte der Peilrahmen bedenklich. Hoffentlich kam der nicht gerade jetzt herunter! Schon stand ich auf der ersten Saling, dann auf der zweiten, war kurz darauf oben und krallte mich krampfhaft fest. Claus fuchtelte mir Zeichen von unten zu, die ich nicht verstand.

Im schwankenden Masttop pendelte ich mit der Schiffsbewegung hin und zurück – und jedesmal schwang das weiße Deck des zum Spielzeug geschrumpften Bootsrumpfs weit unter meinen Füßen im Rhythmus der Wellen und übertrug die rollende Bewegung zu mir herauf. Um das Schwingen zu stoppen, umklammerte ich den Mast mit beiden Beinen und zurrte mit den Händen den starren, aus zwei gekreuzten Rohren von gut einem halben Meter Durchmesser bestehenden Kreuzpeilrahmen, mit einem Tampen auf dem Masttop fest. Das Ding war sperrig und einige Kilos schwer. Mehrfach schlang ich den Tampen unter den Stag- und Wantenbeschlägen durch und verknotete alles dreimal. Sicher ist sicher.

Danach ging der Blick über das grenzenlos leere Meer bis zum Horizont. Himmel und See verschmolzen im grauen Dunst – nur der kleine, schaukelnde Bootsrumpf unter mir war gesichertes Terrain. Wie hoch hing ich über dem schmalen Deck und dem Freund, der mit dem Fernglas zu mir heraufschaute? Masthöhe 14 Meter, Fallhöhe … Wahnsinn! Würde ich an Deck landen oder im Meer? Waren die Knoten an Bootsmannstuhl und Lifebelt sicher, die Fallen stabil? Mir schwindelte.

Endlich war das Monster gesichert. »Runter!«, rief ich. »Erst Toplicht-Kontrolle!«, echote es herauf. Mir war zum Kotzen zumute, die Schaukelei im schwankenden Mast und das Festklammern mit Beinen und Händen tat meinem sonst seefesten Magen nicht sonderlich gut.

»Ok?«, kam es kaum hörbar aus dem Niedergang. Nur nicht kotzen, dachte ich und grinste säuerlich, der arme Mensch dort unten … Ich schluckte und nickte: »Brennt!«

Langsam rutschte ich abwärts. Unten angekommen, fielen wir uns in die Arme und wischten heimlich ein paar Tränen ab. Später erzählte Claus, er habe ernsthaft darüber nachgedacht, was er gemacht hätte, wenn ich von oben herunter gerauscht wäre. Egal ob ich das überlebt hätte oder nicht: wo und wie sollte er in der Weite der Biskaya Hilfe finden … wohin steuern? Zurück nach Dartmouth? In den Golf hinein nach La Rochelle? Oder weiter aufs Ziel zu, nach La Coruña?

Poseidon sei Dank war alles gut gegangen, so dass wir drei Tage später unbeschadet in La Coruña einlaufen konnten.

Doch sie sind nicht ganz verschwunden, / jene, die Kap Horn umrunden, / die noch heut auf kleinen Schiffen, / Stürmen trotzen, Klippen, Riffen, / die den Träumen hinterher – / fahren, fahren übers Meer.

Sie, die wieder leben lernen, / fern von Stress und Mietskasernen, / die Besitz, Erfolg, Karriere, / tauschen gegen Wind und Meere. / Auf der Fahrt nach nirgendwo / einfach rufen: Westward! Ho!

Aus dem Logbuch von Claus

* Wer erfahren will, was Claus, alias Capitano Claudio, nach unserem Abenteuer in der Biskaya bei Windstärke 12 vor Kap Horn erlebte, lese hier weiter: www.vallebote.de/band4-capitano-claudio/

06. Banyo

Ich war ein paar Tage zu früh in Cadiz. Claus, mit dem ich von Volendam am IJsselmeer durch die Biskaya bis zur spanischen Südküste gesegelt war, musste zurück nach München. Ich wartete auf Ursula, meine neue Crew, und lernte Lars und Simone auf ihrer Banyo kennen. Sie lagen neben mir und waren für mich die ersten Menschen, die als Paar den Absprung aus dem bürgerlichen Leben geschafft hatten, ohne Probleme damit zu haben, eines Tages zurück zu müssen – sollte die Bordkasse einmal so leer sein wie die dritte Flasche nach dem nächtlichen Plausch im Cockpit der Banyo.

Lars war ein stämmiger Typ mit breiten Schultern und von Beruf Chemotechniker. Seine Frau Simone war das Gegenteil von ihm, eine zierliche Person mit langen, blonden Haaren, Sozialpädagogin, 35 Jahre jung. Sie hatten keine Kinder und wohnten in einem Reihenhaus im niederländischen Friesland. Seit zwei Jahren waren sie unterwegs. Abgelegt hatten sie in Amsterdam. Von Ijmuiden segelten sie nach Südengland, Frankreich, Galizien, Lissabon, und seit April hielten sie sich an der portugiesischen Südküste auf.

Ihr Boot war eine drei Tonnen leichte Dufour 35, 10,75 m lang, raumschots sieben Knoten schnell und wenn kein Wind wehte, schaffte es der kleine Diesel gegen alte Dünung gerade noch so. Innen war alles zweckmäßig eingerichtet, »vielleicht etwas cool, wir wollen halt nicht zu viel Arbeit damit haben«, erklärten sie.

»Guck mal, hier passen zwei Klappfahrräder rein«, sagte Lars und öffnete die Backskiste. Die kämen oft raus, damit machten sie ihre Landausflüge, wenn es nicht zu bergig war. Woher der Name Banyo kam, wollte ich wissen? »Wir haben früher Jazz gemacht, Simone spielt Banyo und ich Klarinette – ja ja, auch jetzt noch.«

»Wir lieben das einfache Leben«, Simone schmunzelte. Der Käse stamme aus Edam, die Tomaten aus Dartmouth, die Chorizo und der Fundador aus La Coruña, der Vino tinto aus Portonovo und der Kaffee von Coop in Sneek. Zum Nachtisch gebe es ein Nickerchen, ab und zu unterbrochen von einem schnellen Rundumblick: Kein Schiff weit und breit, gut! Weiter schlafen.

Einen festen Plan hatten sie nicht. Wo es schön sei, da wollten sie bleiben. In Portugal zum Beispiel. Die Leute seien sehr hilfsbereit und freundlich, vor allem die Fischer. »Und dann spürt man hier schon den Atlantik«, erklärte Lars, »das ist doch was ganz anderes!«

Simone und Lars arbeiteten selbstständig, sie hatten für vier Jahre gespart und mehr verdient als sie ausgegeben hatten. »Wenn wir so weitermachen wie bisher, kommen wir gut über die Runden.« Simone kicherte.

Warum sie das überhaupt machten, abseits der Gesellschaft so herumstreunern? »Genau«, sagte Lars, »wir sind vorher viel unterwegs gewesen, mit einer Tasche, einer Hose, durch ganz Europa … das hat uns gefallen. Außerdem hatten wir immer eine Jolle.« So entstand der Plan. »Mit 60 machst du das nicht mehr so unbeschwert, da hast du wahrscheinlich zu viel Angst, alles aufzugeben. Je etablierter du bist, desto mehr musst du zurücklassen.« Jetzt sei das leichter. «Wir hatten Lust und waren bereit.« Sie wollten sich später nie vorhalten: hätten wir das doch damals gemacht. Mit der Gesellschaft haben sie keine Probleme. »Klar«, sagte Lars, »wenn das alle machen würden, das wäre nicht so gut. Aber wir haben viel gearbeitet und auf einiges verzichtet, jetzt wollen wir unsere Zeit genießen.«

 

Südliche Traummarina mit Palmen im Wind

Lars berichtete in einem Nebensatz von seinem einzigen Handicap an Bord. Er werde die ersten Tage immer seekrank, er habe schon alles ausprobiert: Pillen, Zäpfchen, Pflaster, Baldrian, aber nichts helfe. Simone kicherte, »Hihihi – wie Lord Nelson, der Held der Meere.«

Simone und Lars kalkulierten mit 20 Dollar pro Tag für Essen, Trinken und kleine Schiffsreparaturen. »Marinas meiden wir und zum Essen gehen wir auch nicht – das ist uns zu teuer.« Sie hätten genug Wein an Bord und jede Art von Küchengenüssen, die sie sich selbst zubereiteten. Gibraltar hatten sie nur angelaufen, um preiswerten Diesel zu tanken. Für Reparaturen war ein größerer Betrag auf dem Konto zuhause angespart, das wollten sie aber nur im Notfall angreifen. Sie ankerten lieber irgendwo, das kostet nichts. »Das Leben kann so einfach und trotzdem wunderschön sein«, meinte Simone.

Freilich gebe es Leute, die überhaupt nicht verstanden hätten, was sie da machten: »Alles aufgeben, und so. Gut, unsere Eltern schon, aber die meisten Kollegen nicht. Obwohl einige sicher heimlich davon träumten … aber meine Frau … hm«, Simone lachte. »Andere wollten wissen, was wir den ganzen Tag auf dem kleinen Boot anstellen? Und wieder andere hatten Angst davor, alles aufzugeben und dann später nicht mehr zurückzukönnen. Wir machen uns darüber keine Gedanken«, erklärte Lars. »Wir haben unsere Musikinstrumente dabei und spielen schon mal, wenn wir Lust haben – auch auf einer Pier oder in einer einsamen Bucht. Das macht immer viel Spaß.«

Natürlich werde irgendwann damit Schluss sein, gab Simone zu. Okay, zurück in die Kälte! Lars lachte. »Ein paar Jahre malochen wir, dann ziehen wir wieder los – vielleicht mit einem größeren Boot, mit dem wir auch über den Atlantik kommen.« Simone sei die treibende Kraft.

»Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr so viel über alles nachdenke. Vielleicht werden wir mit der Zeit oberflächlicher, kümmern uns nur um uns selbst und den heutigen Tag, und weniger um die Welt. Es stimmt schon, manchmal sind wir ganz mit uns selbst beschäftigt. Aber ich spüre auch wie gut mir, wie gut uns, das tut«, sinnierte Simone und Lars ergänzte: »Es gibt so viele Probleme auf der Welt, trotzdem lassen wir es uns hier in unserer kleinen Blase so ein bisschen egoistisch wohl ergehen.« Er schüttelte den Kopf. »Trotzdem: Segeln ist wichtig für uns – wir werden immer ein Boot haben.« Simone nickte mit glänzenden Augen.