Reisen mit leichtem Gepäck

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»Das ist sie«, sagte ich.

DAS FERIENKIND

Von Anfang an war klar, dass niemand auf »Backen« ihn mochte. Ein düsteres, mageres Kind von elf Jahren, das irgendwie hungrig aussah. Eigentlich hätte der Junge die natürliche Zärtlichkeit wecken sollen, die zum Beschützerinstinkt gehört, doch das tat er ganz und gar nicht. Zum Teil lag das an seiner Art, seine Umgebung anzusehen oder eher sie zu beobachten, mit einem misstrauischen, durchdringenden Blick, der alles andere als kindlich war. Und wenn er fertig geschaut hatte, äußerte er sich auf seine ganz eigene altkluge Art, und Herrje, was dieses Kind für geschraubtes Zeug von sich geben konnte!

Das wäre leichter zu übersehen gewesen, wenn Elis aus ärmlichen Verhältnissen gekommen wäre, doch das war nicht der Fall, seine Kleider und der Reisekoffer waren der pure Luxus, und an die Fähre gebracht wurde er vom väterlichen Auto. Das Ganze war per Anzeige und Telefon organisiert worden; die Familie Fredrikson nahm über den Sommer ein Ferienkind bei sich auf, aus reiner Herzensgüte und natürlich für ein geringes Entgelt. Axel und Hanna hatten lange über die Sache gesprochen, über Stadtkinder, die frische Luft, Wald, Wasser und gesundes Essen brauchten, sie hatten all das Übliche gesagt, was man eben so sagt, bis alle davon überzeugt sind, jetzt bleibt nur eins zu tun übrig, um richtig zu handeln und ein gutes Gefühl zu haben. Und dabei stand ihnen die ganze Juniplackerei bevor, viele Boote der Sommergäste lagen immer noch auf dem Slip, und ein paar davon waren noch nicht einmal vollständig überholt.

Nun, der Junge kam an und brachte einen Rosenstrauß für die Gastgeberin mit.

»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen«, lobte Hanna ihn.

»Den hat wohl deine Mama mitgeschickt?«

»Nein, Frau Fredrikson«, antwortete Elis, »meine Mutter hat noch einmal geheiratet. Den Strauß hat mein Papa gekauft.«

»Sehr freundlich … Aber warum hat er denn nicht gewartet? Hat er keine Zeit gehabt?«

»Leider nicht, er musste zu einer wichtigen Konferenz. Er lässt Grüße ausrichten.«

»Aha, ja«, sagte Axel Fredriksson, »na, dann gehen wir jetzt an Bord und fahren los. Die Kinder sind völlig aus dem Häuschen, weil sie sich so auf dich freuen. Einen schönen Koffer hast du da.«

Und Elis teilte mit, dass der achthundertfünfzig Mark gekostet habe.

Axels Boot war ziemlich groß, ein solides Fischerboot mit Kajüte, Axel hatte es selbst gebaut. Der Junge stellte sich ungeschickt an, als er an Bord gehen sollte. Und als der erste Spritzer kam, umklammerte er die Bank, auf der er saß, und kniff die Augen fest zu.

Hanna sagte: »Axel, fahr doch etwas langsamer.«

»Er kann ja in die Kajüte gehen.«

Aber Elis traute sich nicht, die Bank loszulassen, und unterwegs sah er kein einziges Mal aufs Wasser hinaus.

Beim Anleger warteten die Kinder voller Spannung, Tom, Oswald und die kleine Camilla, Mia genannt.

»So«, sagte Axel, »hier habt ihr Elis. Angeblich ist er gleich alt wie Tom, also müsstet ihr euch gut verstehen.«

Elis kletterte auf den Anleger, trat auf Tom zu, gab ihm die Hand, verbeugte sich kurz und sagte: »Elis Gräsbäck.« Dies wiederholte er mit Oswald, Mia dagegen sah er nur an. Sie kicherte hemmungslos und hielt sich die Hände vor den Mund. Dann gingen alle zum Haus hinauf, Axel trug den Koffer und Hanna den Korb mit den Einkäufen aus dem Laden. Sie stellte Kaffee auf, die Brote waren schon fertig hergerichtet. Die Kinder saßen um den Tisch und starrten Elis an.

»Bitte bedien dich, Elis«, nötigte Hanna ihn. »Du bist neu hier, da darf man als Erster zulangen.«

Elis erhob sich zur Hälfte, verbeugte sich leicht, nahm ein Brot und erklärte, für die Jahreszeit sei es ungewöhnlich warm. Die Kinder starrten ihn wie verhext unverwandt an, und Mia sagte: »Mama? Warum ist er so?«

»Sei still«, sagte Hanna. »Nimm doch etwas Lachs, Elis. Am Donnerstag haben wir vier Stück heraufgeholt.«

Elis erhob sich wieder und bemerkte, seltsamerweise gebe es immer noch Lachs, obwohl das Wasser so verunreinigt sei, danach teilte er ihnen mit, wie viel der Lachs in der Stadt koste, das heißt für Leute, die es sich erlauben könnten, werktags Lachs zu essen. Irgendwie brachte er sie dazu, sich unbehaglich zu fühlen.

Gegen Abend, als Tom ans Ufer hinunterging, um den Abfalleimer ins Wasser zu leeren, kam Elis hinterher, sah, was Tom da machte, und begann einen Vortrag über das vergiftete Meer vom Stapel zu lassen und über Leute, die sich asozial verhielten und mithalfen, die ganze Welt zugrunde zu richten.

»Er ist so komisch«, sagte Tom. »Man kann sich gar nicht mit ihm unterhalten. Er redet bloß darüber, was alles vergiftet ist und was die Sachen kosten.«

»Reg dich nicht auf«, entgegnete Hanna. »Er ist unser Gast.«

»Was heißt schon Gast! Er läuft andauernd hinter mir her!«

Tatsächlich, wohin Tom auch ging, hatte er Elis auf den Fersen, jeden Tag, im Bootsschuppen, am Angelsteg, auf dem Holzplatz, einfach überall.

Zum Beispiel so: »Was machst du da?«

»Eine Schöpfkelle, das sieht man doch.«

»Warum habt ihr keine Schöpfkellen aus Plastik?«

»Wär ja noch schöner«, antwortete Tom verächtlich, »diese Kelle hier soll ihre eigene Form kriegen, und das dauert lang.«

Und Elis stimmte ernsthaft zu: »Natürlich. Mit Ornamenten. Aber eigentlich schade um so eine große, schöne Arbeit.«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, später, wenn es keine Welt mehr gibt, hätte man genauso gut Plastik verwenden können.«

Und dann folgte wieder der ganze Sermon, alles, über Atomkrieg und Gottweißwas, Gerede, Gerede ohne Ende.

Tom und Elis hatten ihr Zimmer über der Küche, ein sehr kleines Zimmer mit Dachschräge und einem Fenster zur Wiese. Abends war Elis ewig lang damit zugange, seine Kleider zusammenzulegen und aufzuhängen, der rechte Schuh kam neben den linken Schuh, ganz penibel, die Armbanduhr wurde auch aufgezogen.

»Hör mal«, sagte Tom. »Lohnt sich das überhaupt, was du da machst? Du hast gesagt, jederzeit kann der Atomkrieg losgehen. Und wenn das morgen ist? Dann ist eh alles für die Katz!«

»Für welche Katze?«

Tom stöhnte. »Das sagt man eben so.«

»Warum?«

»Geh jetzt ins Bett und schlaf und sei nicht so doof. Ich mag nicht reden.«

Elis drehte sich zur Wand, sein Schweigen war kompakt, aber man wusste sehr genau, woran er dachte, allmählich würde es kommen, das wusste man, da half gar nichts, und schon kam es, eine gedämpfte Litanei über das verseuchte Meer und die verseuchte Luft, und dann die vielen Kriege und alle, die nichts zu essen hatten und überall und immerzu starben, und was soll man bloß machen, was soll man bloß machen …

Tom richtete sich im Bett auf und sagte: »Aber das alles ist so weit weg! Was ist eigentlich mit dir los?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Elis. Kurz darauf sagte er: »Du sollst mir nicht böse sein.«

Dann wurde es endlich still.

Tom war es ja gewohnt, alles zu ertragen, was damit verbunden war, der Älteste zu sein, der sich um Oswald und Mia zu kümmern hatte und deren schlimmste Dummheiten so gut es ging in Ordnung zu bringen, das war etwas, womit man sich einfach abzufinden hatte. Aber mit Elis war es irgendwie anders. Obwohl er gleich alt war wie Tom, konnte man ihm einfach nicht dabei helfen, mit irgendwas klarzukommen, das war vollkommen unmöglich. Man wurde nur wütend. Es tat nicht einmal gut, bewundert zu werden. Und alles war total ungerecht. Wie diese Sache mit dem Haubentaucher. Tom konnte wirklich nichts dafür, dass der im Netz hängen geblieben war, so was kommt eben vor. Er warf den Vogel ins Uferwasser und sofort machte Elis eine große Nummer daraus: »Tom. Dieser Haubentaucher, der hat lang gebraucht, bis er tot war. Die können zwanzig, dreißig Meter tief tauchen, hast du das gewusst? Stell dir mal vor, wie er sich gefühlt hat, wie lange er versucht hat, die Luft anzuhalten …«

»Du bist verrückt«, sagte Tom. Plötzlich fühlte er sich irgendwie unwohl.

Oder es klang so: »Ich weiß genau, was ihr mit den kleinen Kätzchen macht, ihr ertränkt sie. Habt ihr eine Ahnung, wie …« Und so weiter, nichts als Jammer und Elend. Es war nicht zum Aushalten.

Elis begrub den Haubentaucher oben an der Straße zum Dorf, wo es gebrannt hatte und nur noch Weidenröschen zwischen den Baumstümpfen wuchsen. Das sah ihm ähnlich, ausgerechnet so einen Ort auszusuchen. Er stellte ein Kreuz mit einer Nummer auf, Nummer Eins. Danach folgten noch mehr Gräber – die Opfer der Mausefallen, Vögel, die an die Fensterscheibe geflogen waren, vergiftete Wühlmäuse, allesamt wurden sie in Stille begraben und nummeriert. Manchmal ließ Elis nebenbei eine Bemerkung fallen, über einsame Gräber, um die sich niemand kümmere. »Und wo habt ihr euren eigenen Friedhof? Der würde mich interessieren. Habt ihr viele Verwandte dort?« Es gelang dem Jungen immer wieder, einem ein schlechtes Gewissen zu machen, oft war nicht mehr nötig, als dass er einen mit diesen bekümmerten, unheimlich erwachsenen Augen ansah, damit man sich sofort an sämtliche eigenen Vergehen erinnerte.

Einmal, als Elis noch schlimmer als sonst herumorakelte, unterbrach Hanna ihn brüsk: »Du kennst dich sehr gut aus mit allem, was stirbt und leidet, nicht wahr, Elis?«

Er sah sie ernst an und antwortete: »Aber das muss ich ja. Es gibt sonst niemand, der das tut.«

Einen Augenblick lang wurde Hanna von Gottweißwas ergriffen und hätte das Kind am liebsten an sich gedrückt, aber sein strenger Blick hinderte sie daran. Hinterher dachte sie: Hoffentlich bin ich nicht hartherzig, ich werde mich bessern. Doch dazu kam es nicht, denn kurz darauf geschah das ganz Schlimme und Unverzeihliche: Elis hatte der kleinen Mia drei Mark versprochen, wenn sie ihm ihren Popo zeigte. »Er wollte mir beim Pieseln zugucken«, erzählte Mia. Und fast genauso schlimm war es, als Elis seinen Gastgeber fragte: »Wie viel kriegst du für mich?«

 

»Was sagst du da?«

»Wie viel kriegst du monatlich für mich? Ist das Schwarzgeld? Ich meine, ohne Steuern?«

Axel wechselte einen Blick mit seiner Frau und verließ die Küche.

Als ob das nicht genug wäre, hatte Elis eine erstaunliche Fähigkeit, Dinge aufzustöbern, die kaputt waren. Immer wieder schleppte er etwas an, das nicht mehr funktionierte, und lief damit zu Tom, um es ihm vorzuführen. »Kannst du das hier reparieren? Du kannst doch alles reparieren. Wahrscheinlich ist das draußen im Regen liegen geblieben, schau mal, es ist ganz verschimmelt. Früher war das mal etwas sehr Schönes.«

»Wirf es weg«, sagte Tom. »Ich mache nur neue Sachen, für Kaputtes interessiere ich mich nicht.«

Elis sammelte den Krempel in einem Haufen neben seinem Friedhof, der Haufen wurde immer größer, und Elis schien fast stolz auf die betrübliche Anhäufung zu sein. Niemand hatte bisher bemerkt, was alles um den Hof herumlag, ausrangiertes, nutzloses Zeug. Sie hatten es einfach nicht gesehen. Aber Elis sah, scharf und kritisch. Manchmal, wenn er die Hofbewohner mit seinem direkten, unentrinnbaren Blick betrachtete, konnte es passieren, dass sie sich plötzlich ihrer verdreckten Arbeitskleidung und Arbeitshände bewusst wurden.

Einmal sagte Hanna mit einem Anflug von Strenge: »Elis, denk jetzt bitte nur ans Essen und an sonst nichts. Bis zum Herbst solltest du ein bisschen was auf die Rippen kriegen, damit man sich nicht vor deinem Herrn Papa schämen muss.«

Elis fragte: »Könnt ihr mich bis zum Herbst ertragen?« Als niemand antwortete, sagte er: »Ihr vergeudet das Essen. Habt ihr schon mal daran gedacht, wie viele überhaupt nichts zu essen haben? Tut mir leid, dass ich das sagen muss, aber ich weiß, was ihr alles in den Abfall werft und dass das dann im Meer landet.«

»Das ist ja wohl …!«, schnaubte Axel und erhob sich. »Ich muss mal kurz nach den Booten schauen.«

Zugegeben, die Familie Fredriksson gestattete sich einen kleinen Luxus: Wenn das Essen nicht absolut frisch war, schmeckte es ihnen nicht, egal ob es Fisch oder Fleisch betraf oder einfach Hannas selbst gebackenes Brot, und so kam es, dass einiges den Weg alles Irdischen nahm. Elis kam sofort dahinter. Er überprüfte den Kühlschrank und räumte das Übriggebliebene heraus, das man gern ein Weilchen stehen ließ, bis es eine gewisse Muffigkeit entwickelte und darum mit gutem Gewissen weggeworfen werden konnte; er rettete diese Reste und aß sie gewissenhaft auf. Das klang dann so: »Nein, keine Fleischbällchen, vielen Dank. Ich nehme die übrig gebliebene Fischsuppe.«

»Haha«, sagte Oswald, der das meiste beobachtet und über vieles nachgedacht hatte und seinen Bruder nie mehr für sich haben durfte, nur weil dieses Ferienkind da war. »Haha, du bist unser alter Abfalleimer, stimmt’s?«

»Man isst, was auf den Tisch kommt«, bemerkte Axel. »Aber es ist nicht die feine Art, sich darin einzumischen, was die Gäste essen, übers Essen spricht man nicht, das ist einfach etwas, das da ist.«

»Das ist es gar nicht«, widersprach Elis, »denk doch an alle, die nichts haben …«, aber weiter kam er nicht, Axel schlug nämlich mit der Hand auf den Tisch und sagte: »Jetzt hältst du den Mund und ihr anderen auch. Hier im Haus ist der Friede dahin!«

Draußen in der Natur herrschte dagegen vollkommener Friede, es war eine Zeit von Windstille und leichten Sommerregen, unten auf der Wiese blühten die Apfelbäume, alles zeigte sich von seiner schönsten Seite. Früher war Tom im Sommer, wenn die hellen Nächte kamen, immer im Wald und an den Stränden herumgestromert, aber jetzt war ihm die Lust dazu vergangen. Man konnte sich nie darauf verlassen, allein zu sein.

»Mama«, sagte er. »Wie lange muss er bleiben?«

»Leute kommen und Leute gehen«, sagte Hanna. »Reg dich nicht auf. Alles hat seine Zeit, und dann kommt eine andere Zeit.«

Das Lästige war, dass Elis seine Fakten auf unwiderlegbare Statistik stützen konnte. Immer, wenn die Nachrichten kamen, klebte er am Radio und nahm neues Elend in sich auf oder bekam das alte bestätigt. Die Nachrichten waren die einzige Sendung, für die er sich interessierte. Aber mitunter kam es vor, dass er reale Katastrophen mit eigenen Fantasien vermischte, Fantasien, die sich so tief in die schrecklichen Möglichkeiten der Zukunft hineinbohrten, dass Tom weder aus noch ein wusste.

Wie dem auch sei, kaum hatte man Elis in der Nähe, war man sofort aufs Schlimmste gefasst – wie zum Beispiel diese Sache mit Großmutter, die in der Stadt als Pflegefall im Krankenhaus lag. Elis kam plötzlich angestürzt und verkündete: »Sie ist eben gestorben!« Aber es ging gar nicht um Großmutter, sondern um eine Krähe mit nur einem Bein, oh weh, die seit einer Woche bei Elis wohnte.

Als Hanna eines Tages den Bus nehmen wollte, um Großmutter zu besuchen, bat Elis darum, sie begleiten zu dürfen. Hanna sagte sich, warum nicht, Elis sei zwar ein Sorgenkind, aber mit starkem Mitgefühl für alle, die es schwerhatten.

Der Besuch wurde nicht wiederholt. Großmutter mochte es nicht, Elis seufzend und stöhnend neben sich zu haben, er schüttelte traurig den Kopf, er drückte ihre Hand wie zu einem letzten Lebewohl, und als er kurz ins Freie ging, sagte sie sehr verärgert: »Was hast du denn da für ein unausstehliches Kind angeschleppt?«

Es ließ sich nicht leugnen, dass alle in der Familie von dem Ferienkind beeinflusst wurden, ja, fast ein bisschen Angst vor ihm hatten. Nach dem Essen genehmigte Axel sich keine Pfeife mehr, sondern stapfte sofort zum Bootsschuppen, er war einsilbig geworden, und eines Tages, als Elis ihn über sein Jahreseinkommen und seine politischen Ansichten verhörte, verließ er mitten in der Fischsuppe die Küche. Die kleine Mia in ihrer kindlichen Unschuld begriff zwar nichts von dem Ganzen, aber sie spürte die Veränderung und wurde weinerlich und schwierig. Was Oswald betraf, war er unverhohlen eifersüchtig. Tom hatte keine Zeit mehr für ihn, und wenn sie ein seltenes Mal beim Fischen waren, lief das nicht mehr auf die alte gemütliche Art, die kameradschaftlich und ruhig gewesen war. Oswald entwickelte eine mörderische Ironie: »Willst du tatsächlich diesen armen kleinen Dorsch erschlagen?« Oder: »Oh, wie viele Leichen haben wir heute denn in den Netzen?« Und so weiter. Alles war ein einziges Elend.

Es war Axel und Hanna klar, dass sie Tom mit dem Ferienkind zu viel aufgebürdet hatten, aber was blieb ihnen anderes übrig, sie hatten mit den Notwendigkeiten des Alltags alle Hände voll, da mussten die Kinder so gut es ging auf eigene Faust klarkommen.

Einmal sagte Axel: »Tom, das mit dem Holzstapeln kannst du heute lassen, pass lieber auf Elis auf.«

»Ich mach lieber mit dem Holz weiter«, antwortete Tom. »Aber da ist er ja auch dabei, also macht es keinen Unterschied.«

»Du machst das so, wie du willst«, versetzte Axel Fredrikson hilflos und entfernte sich, drehte sich aber dann noch einmal um und sagte: »Das alles tut mir leid.«

Da glaubt man, man würde sich um ein bedauernswertes fremdes Kind kümmern, aber nein – man hat einen unerbittlichen Beobachter auf den Hals bekommen, der einen unentwegt an die Schlechtigkeit und das Elend der Welt erinnert. Erzogen diese Städter ihre Kinder womöglich dazu, misstrauisch zu werden, beladen mit einem Gewissen, für dessen Last sie zu jung waren und das sie noch nicht verstehen konnten? Axel besprach das mit seiner Frau, und sie meinte, damit könne er recht haben. Der Junge brauche etwas Abwechslung. Wie wäre es, mit den Kindern eine Bootsfahrt zu unternehmen, wo das Wetter jetzt doch so ruhig und schön sei – Hanna könne derweil in Lovisa einen Verwandtenbesuch machen, und Axel müsse ja ohnehin Gasflaschen zu den Leuchttürmen hinausbringen. Das sei eine gute Idee, fand Axel, genau an diesem Morgen hatte die Küstenwache angerufen, das Leuchtfeuer von Västerbåda sei ausgegangen. Er machte sich daran, Benzin aufzufüllen und die Gasflaschen zu verstauen, und Hanna nahm den Proviant in Angriff.

Elis war sehr aufgeregt, er klopfte immer wieder ans Barometer, weil er fürchtete, es könne Sturm geben, und erkundigte sich mehrmals nach den Leuchtturminseln, waren das tatsächlich richtige Inseln, also wirklich ganz kleine?

»Klein wie Fliegenschisse«, sagte Tom. »Und warum ist das so wichtig?«

Elis antwortete ernsthaft, er habe einmal eine Erzählung gelesen, die hieß ›Die Insel der Seligen‹, und diese Insel sei sehr klein gewesen.

»Aha«, versetzte Tom. »Komm jetzt, Papa wartet.«

»Auf ins Boot mit euch!«, rief Axel. »Jetzt fahren wir in den Urlaub und lassen alle Sorgen hinter uns!«

Alle vier Kinder saßen im Boot. Hanna stand auf dem Steg und winkte ihnen zum Abschied, als das Boot Fahrt aufnahm und hinaussteuerte. Es war ein strahlender, milder Tag, die hohen Haufenwolken spiegelten sich im Meer, und den Horizont gab es gar nicht. Elis hing an der Reling und hielt Ausschau nach Inseln, manchmal wandte er den Kopf und grinste Tom an, er sah tatsächlich aus, als würde es ihm ausnahmsweise einmal gutgehen.

Du nimmst dir also frei, du Mistkerl, dachte Tom, jetzt gerade hast du vergessen, dass die Welt untergehen wird, und interessierst dich nur für dich selbst.

Eine bittere Welle aus Gekränktheit stieg in ihm hoch, und er beschloss, auf der ganzen Fahrt hinaus und wieder zurück keine Spur von Interesse zu zeigen.

Der erste Leuchtturm war auf einer sehr niedrigen Schäre errichtet, auf deren Mitte sich ein windzerzauster Schopf aus Gestrüpp befand. Als sie anlegten, flogen Möwen hoch und kreisten schreiend über der Insel. Axel hievte die Reserveflaschen an Land und zog sie über den Felsen zum Leuchtturm hinauf.

Zuerst stand Elis nur da, steif wie ein Stock, und guckte, dann schoss er los und raste in das struppige Wäldchen hinauf und wieder herunter, die Eiderenten flatterten mit großem Getöse aus ihren Nestern, doch das merkte er kaum, er rannte hin und her, rief laut und warf sich schließlich der Länge nach ins Krähenbeerkraut.

»Der ist verrückt, das hab ich dir doch gesagt«, sagte Oswald verächtlich. »Und so einen lässt du von morgens bis abends hinter dir herrennen. Da hast du dir einen feinen Freund zugelegt.«

Tom ging langsam zu Elis hin, der ausgestreckt dalag, an den Himmel schaute und ganz unverschämt zufrieden wirkte.

Elis sagte: »Ich bin bisher noch nie auf einer richtigen Insel gewesen, auf einer, die wie eine Insel aussieht. Die hier ist so klein, dass sie mir selbst gehören könnte.«

»Was du daherredest«, sagte Tom. »Übrigens gehört sie auch den Eiderenten.« Damit ging er wieder.

Als Axel zurückkam, um zum nächsten Leuchtfeuer weiterzufahren, wollte Elis nicht mitkommen. »Ich bleibe hier«, teilte er mit. »Diese Insel gefällt mir.«

»Aber wir bleiben vielleicht mehrere Stunden weg«, wandte Axel ein. »Wie müssen zu Leuchttürmen, die weit draußen liegen. Und dort ist es viel schöner, hohe Felsen und alles Mögliche, was dir gefallen könnte.«

»Das macht nichts«, sagte Elis. »Ihr könnt ruhig fahren. Ich bleibe hier.«

Es war unmöglich, den Jungen auf andere Gedanken zu bringen. Schließlich nahm Axel Tom ein wenig beiseite und sagte: »Am besten, du bleibst bei ihm, bis ich zurückkomme und euch wieder einsammle. Sonst fällt er uns womöglich ins Wasser oder stellt sonst was Verrücktes an, und immerhin haben wir die Verantwortung für den Jungen.«

Die kleine Mia rief: »Ich will jetzt zum nächsten Leuchtturm, ich will jetzt zum nächsten Leuchtturm!«

»Aber Papa«, protestierte Tom. »Ich kann doch nicht stundenlang mit ihm auf diesem kümmerlichen Felsen hocken!«

»Klar kannst du das«, antwortete sein Vater und stieß ab.

»Manchmal muss man sich mit Dingen abfinden, die nicht unbedingt lustig sind.«

»Such ihm doch ein paar alte verfaulte Vögel!«, schrie Oswald übers Wasser. »Bist ja sein Kindermädchen!«

Erst beim nächsten Leuchtturm fiel es Axel ein, dass er den Jungen keinen Proviant dagelassen hatte. So etwas hätte Hanna nie vergessen – aber Himmel noch mal, solange nichts Schlimmeres passiert war.

Eine Stunde später passierte tatsächlich etwas: Die Benzinleitung ging ab, und so was lässt sich nicht im Handumdrehen reparieren.

»Weißt du was«, sagte Elis, seine Stimme klang fast andächtig.

»Diese Insel ist wunderbar. Sie liegt so weit weg, dass nichts Gefährliches herkommen kann. Und das Wasser ist ganz sauber.«

 

»Glaubst du, ja«, versetzte Tom, er ging weiter hinaus auf den Felsvorsprung und begann Steinchen ins Wasser zu werfen. Es gab absolut nichts zu tun, außer zu warten und die Zeit sinn- und nutzlos verstreichen zu lassen. Ha, was für eine wunderbare Insel der Seligen. Oh nein! Finstere Gedanken zogen auf, verschwanden und kehrten wieder; ein ganzer Sommer überschattet von ständiger Betrübnis und Bewachung, nie richtig allein sein zu dürfen, und dazu endlose idiotische Beerdigungen und Abfallhaufen … Und als ob die täglichen Sorgen nicht genug wären, bekam man gleich die der zukünftigen Tage dazu serviert, wo alles viel, viel schlimmer werden würde, das war einfach nicht gerecht!

Und jetzt kam Elis mit weit aufgerissenen Augen angerannt und rief: »Eine Insel, vergessen im Weltmeer! Fantastisch! Hier ist es so sauber. Hier ist es so verlassen und leer!«

»Fantastisch kannst du selber sein«, sagte Tom. »Und allzu leer kommt es mir nicht vor, wenn man bedenkt, was für ein Eiderjahr wir dieses Jahr haben.« Mit einem Schulterzucken fügte er hinzu: »Allerdings werden wohl nicht allzu viele flügge werden, wenn man bedenkt, wie du hier herumgetrampelt bist!«

»Wie meinst du das?«

»Naja, ich meine bloß, wenn man eine brütende Eiderente aufschreckt, kehrt sie nicht wieder ins Nest zurück. Eiderenten sind sehr empfindliche Vögel.«

Elis sagte nichts. Es war ziemlich komisch, ihn dabei zu beobachten, wie er jetzt durchs Krähenbeerreisig stakste, ein langsamer Schritt nach dem andern, die Ellbogen dicht am Körper und den mageren Hals vorgeschoben. Jetzt konnte er mal selbst erleben, wie es ist, wenn jemand einem ein schlechtes Gewissen macht. Tom lief hinter ihm her. Bald darauf blieb Elis stehen und starrte in ein Nest mit fünf Jungen, sie waren sehr klein und dunkelflauschig und verhielten sich regungslos.

»Was wird jetzt aus ihnen?«, flüsterte er.

»Na, darüber brauchst du nicht nachzudenken. Du sollst nur daran denken, dass du auf »einer Insel, vergessen im Weltmeer« bist, war es nicht so? Vielleicht wird es dich interessieren, dass eine Schäre wie diese hier tatsächlich vergessen werden kann. Es ist sehr schwierig, wieder hierherzufinden.«

Elis sah ihn nur an.

»Du glaubst mir nicht? Aber so was ist schon vorgekommen.« Tom setzte sich hin und stützte den Kopf in die Hand. »Ich will dir ja keine Angst machen«, fuhr er fort, »aber an manchen Ufern hat man schon Skelette gefunden. Da kann man nichts machen, am besten man vergisst es einfach. Aber trotzdem, stell dir vor, wie die dasaßen und gewartet und gewartet haben und niemand ist gekommen.«

»Aber dein Vater hat ja eine Seekarte dabei«, wandte Elis ein.

»Hat er das? Wenn ich es mir jetzt überlege, ist die Seekarte daheim liegen geblieben … Oje, das ist gar nicht gut.« Tom seufzte und warf Elis durch die Finger einen hastigen Blick zu, am liebsten hätte er laut gelacht. Hier hast du deine Katastrophen. Und ich hab noch üblere auf Lager, wart’s nur ab.

Elis setzte sich hinter einen großen Stein. Und die Sonne wanderte weiter gen Nachmittag, die Kriebelmücken sangen und die Seevögel kehrten friedlich zu ihren Nestern zurück.

Als Tom hungrig wurde, kam ihm eine gute Idee, er stöberte Elis auf und teilte mit, jetzt sei es schlimm um sie bestellt, sie hätten nichts zu essen – genau wie all die bedauernswerten Menschen überall auf der Welt. »Du kannst natürlich Krähenbeeren essen«, sagte er, »nur kriegt man davon manchmal schrecklich Bauchweh. Falls du Durst hast, ist direkt hinter dir eine Wasserlache, aber die ist wahrscheinlich salzig und so abgestanden, dass sogar die Asseln darin gestorben sind.« Er setzte noch eins drauf: »Dann musst du ihre Leichen eben zwischen den Zähnen durchsieben«, begriff aber sofort, dass dies eine unvorsichtige Übertreibung war, damit war er zu persönlich und stillos geworden. Elis betrachtete ihn lange und durchdringend, dann wandte er sich ab.

Inzwischen hatte das Meer eine wärmere Färbung angenommen. Die Stunden vergingen, Axel hätte schon längst da sein sollen. Und es gab nichts zu tun, außer Elis Angst zu machen. Warum war Axel nicht gekommen, was dachte er sich dabei, seinen Sohn so zu beunruhigen und einen ganzen Tag auf diese Art zu vermasseln! In Tom begann es zu kribbeln, überall, das war nicht zum Aushalten.

»Elis!«, schrie er. »Wo bist du! Komm kurz her!«

Elis kam und sah Tom mit gesenktem Kopf an.

»Hör mal«, begann Tom, »ich muss dir was sagen. Dieses Wetter, das ist nicht natürlich. Es braut sich zu einem Sturm zusammen.«

»Es ist ganz ruhig«, wandte Elis ein, offensichtlich misstrauisch.

»Das Auge des Sturms, typisch«, erklärte Tom. »Aber du kennst dich ja nicht mit dem Meer aus. So was kann ganz plötzlich kommen, päng, und schon schwappen die Wellen über die ganze Schäre.«

»Und was ist mit dem Leuchtturm?«

»Der ist abgeschlossen. In den kommen wir nicht rein.« Da er schon in Fahrt war, fuhr er fort: »Und nachts kommen die Schlangen …«

»Das erfindest du bloß.«

»Vielleicht erfinde ich es und vielleicht nicht. Und was ist dann das, was du selbst immer machst?«

Elis sagte langsam: »Du kannst mich nicht leiden.«

Das Schlimmste war, dass sie nichts zu tun hatten. Tom nahm das Fahrtenmesser und begab sich in den Windbruch, um Tannenreisig zu schneiden, Tannenreisig für eine Hütte, so wie er sie auf Ausflügen sonst immer für Oswald baute. Er schnitt und schnitzte und rackerte sich ab, und der Schweiß lief ihm über den Nacken und alles war eigentlich völlig unnötig, aber er ertrug es nicht, unablässig von Elis beobachtet zu werden, und es war schon fast Abend und das Boot war noch nicht gekommen … Und jetzt fragte Elis, ob das, was er da mache, Notsignale seien.

»Nein! Als ob wir Streichhölzer hätten!« Tom hievte die Dachkonstruktion hoch und rammte sie in das Tannengestrüpp. Das hier ist ja idiotisch, alles ist idiotisch, und das Boot, das nicht kommt … Vielleicht macht das Leuchtfeuer Schwierigkeiten – nein, dann hätte er sofort gewendet. Es muss etwas anderes sein, etwas Ernstes … Und plötzlich krachte das ganze Dach wieder herunter! Tom fuhr herum und rief heftig: »Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, bevor ein Sturm ausbricht! Alles wird dunkel … Und man hört ein komisches Geräusch, das immer näher kommt – und die Vögel verstummen total …« Das hier ging unter die Haut, ganz offensichtlich. Er fuhr fort: »Manchmal steigt das Wasser vor einem Unwetter, aber manchmal sinkt es auch. Katastrophal ist das! Du hast ja gesehen, wie tief es gesunken ist! Überall nur grüner Schleim. Und wenn das Wasser dann wie eine Wand anrückt, kann sich niemand und nichts festhalten, gar nichts!«

»Warum tust du das?«, flüsterte Elis.

»Was meinst du?«

»Warum kannst du mich nicht leiden?«

»Und warum streitest du mit mir! Ich hab das alles jetzt satt, das macht keinen Spaß mehr! Leg dich irgendwo hin zum Schlafen!«

»Aber deine Schlangen! Ich hab Angst!«

»Schon gut, schon gut, es gibt keine Schlangen«, rief Tom ungeduldig aus, »auf so kleinen Schären gibt es die nie. Ich bin müde! Ich hab’s versucht, ich hab alles Mögliche versucht, aber das mit dir wird einfach nicht besser, du redest bloß komisches Zeug und bringst einen dazu, genauso komisch zu werden wie du selbst! Und mein Papa ist noch nicht da und dabei hätte er schon längst da sein müssen!«

»Ich hab Angst«, wiederholte Elis. »Tu was … du kannst doch einfach alles!« Plötzlich krallte er sich an Toms Pullover und wiederholte immer wieder, er habe Angst – »du hast mir Angst gemacht«, rief er, »tu was, irgendwas, du kannst doch alles!«

Tom befreite sich mit einem so heftigen Ruck, dass Elis nach hinten kippte, da saß er jetzt im Moos und guckte, und seine großen Augen waren zu engen Schlitzen geworden, und er sagte, langsam und sehr leise: »Na klar, dein Vater hätte schon längst da sein müssen. Warum ist er nicht gekommen? Bestimmt nicht, weil er uns nicht findet. Das hast du nur gesagt, um mir Angst zu machen. Ihm ist etwas zugestoßen.«

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