Creative Leadership

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Problem mit Autoritäten

Rückblickend muss ich gestehen: Jawohl, ich hatte ein gehöriges Autoritätsproblem. Meine Lehrer merkten das nicht zu Unrecht an. Und wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich es auch nie ganz überwunden. Bis zum heutigen Tag nicht. Dabei geht es um weit mehr als nur die Formfrage eines festen Anstellungsverhältnisses. Ich möchte gern verstehen und nachvollziehen können, wie es zu einer bestimmten Entscheidung oder Strategie kommt, bevor ich sie umsetze. Kann ich das nicht, werde ich in der Umsetzung nicht überzeugend sein. Das war als freier Politikjournalist schon so und als CEO eines 300-Millionen-Euro-Unternehmens nicht viel anders. Es mag vielleicht überraschend klingen, dass ich das für eine meiner größten Stärken halte. Da ich von mir selbst wusste, wie ungern ich mir sagen ließ, was ich zu tun und zu lassen hatte, verstand ich intuitiv, wie man mit anderen Exemplaren meines Typs umgehen musste. Die meisten komplexeren Persönlichkeiten in der Kreativlandschaft wollen sich nichts sagen lassen. Was sie dringend brauchen, um gut zu sein, ist ein hohes Maß an Autonomie. Man verständigt sich über das Ziel, aber dann tragen sie einen großen Teil der Verantwortung selbst. Sie werden nicht kleinteilig gesteuert oder sonst wie kujoniert. Unter dieser Voraussetzung gehen sie mit einem ganz besonderen ›Glühfaktor‹ ans Werk, den ich im Laufe der Jahre immer wieder an Top-Kreativen beobachten durfte. Es ist ein inneres Strahlen, das sich aus dem Brennen für eine Idee speist und von den optimalen Rahmenbedingungen angefacht wird. Ohne die nötige Freiheit wird es früher oder später erlöschen wie eine Kerze ohne Sauerstoff.

Aus meinen ureigenen Gefühlen gewann ich letztlich die Einsicht, wie eine funktionierende Organisationsform für ein kreatives Unternehmen im Kern auszusehen hatte: Ich wollte eine Plattform bauen, auf der die kreativen Talente, die möglicherweise ähnlich fühlten wie ich, mit einem Maximum an Freiraum agieren konnten. Und ich wollte ihnen dabei sämtliche Widerstände aus dem Weg räumen. Ich hatte vorher keinen Management-Ratgeber gelesen, sondern nur von mir selbst auf andere geschlossen. Ein wesentlicher Anhaltspunkt, dass ich damit falsch gelegen hätte, ist mir in 27 Jahren als Geschäftsführer nicht begegnet. Meiner Erfahrung nach sind es – in absteigender Rangfolge – immer wieder dieselben Faktoren, die uns Kreative antreiben: Wir wollen gesehen werden. Damit meine ich, dass unsere Leistung, unser Talent, unsere besondere Begabung von anderen erkannt und anerkannt, im Idealfall weiter gefördert wird. Wir wollen als Konsequenz daraus Verantwortung übertragen bekommen, die es uns ermöglicht, im doppelten Sinne des Wortes verantwortungsvoll zu handeln. Wir wollen lernen, wir wollen besser werden und unseren Horizont erweitern, was nicht nur durch klassische Weiterbildung, sondern vor allem auch durch Vernetzung mit anderen interessanten Köpfen geschieht. Es gibt nichts, was ein Top-Talent so stark anzieht wie ein anderes Top-Talent. Mit diesem Credo im Hinterkopf habe ich die Plattform UFA gestaltet, solange ich für sie verantwortlich war. Es erscheint mir auch heute noch verblüffend einfach: Ich habe nur meinen persönlichen Bedürfnissen zugehört und sie auf andere übertragen.

2.VERANTWORTUNG ODER: WORAN SPÜRT MAN DIE WIRKUNGSMACHT DER BEWEGTEN BILDER?

Unter Fernsehmachern haben sich manche eilig dahingesagten Sprüche eingebürgert, die ich aus tiefstem Herzen verabscheue. Ganz oben auf meiner persönlichen Schwarzliste: »Das versendet sich.« Dicht gefolgt von »Wir machen doch nur Fernsehen und keine Herz-OP.« Während der erste Satz aus meiner Sicht einen sträflichen Mangel an Respekt vor dem Publikum offenbart, redet der zweite die Verantwortung für das eigene Tun unangemessen klein. Nein, es geht in unserem Geschäft nicht um Leben und Tod. Und mir liegt auch nichts an einem müßigen Abwägen der Verantwortung zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen. Man sollte sich möglichst nie zu ernst nehmen. Aber: Ich treffe immer noch zu viele Branchenkollegen, die ihre Verantwortung gnadenlos unterschätzen oder aus Bequemlichkeit ignorieren.

Eines der Laborseminare, das mich im Publizistikstudium an der FU Berlin am nachhaltigsten beeindruckte, bezog sich auf die Sendung betrifft: fernsehen. Das war ein medienkritisches Magazinund Dokumentationsformat, das von 1974 an zehn Jahre lang im ZDF lief. Sein Ziel war es nicht, Nabelschau zu betreiben, sondern die Medienkompetenz der Zuschauer zu stärken, oftmals mit kontroversen Themen. Helmut Greulich, der Redaktionsleiter, wagte mit uns ein Experiment, aus dem ein viel diskutierter Beitrag für seine Sendung wurde: »Vier Wochen ohne Fernsehen«. Wir bauten eine Versuchsanordnung auf, die zwei Berliner Arbeiterfamilien dabei beobachtete, wie sie für einen Monat komplett aufs Fernsehen verzichteten. Von der Kamera begleitet, ließen wir die TV-Geräte aus ihren Wohnzimmern abtransportieren und installierten dort jeweils eine Handvoll feste Videokameras. Um keinen Einfluss durch unsere Anwesenheit zu nehmen, kamen wir nur dann vorbei, wenn Videobänder und Batterien in den Kameras ausgetauscht werden mussten. Mit unserem frühen Vorgriff auf Big Brother mochten wir inhaltlich modern sein, an digitale Aufzeichnungstechnik war freilich noch nicht zu denken. Unser Experiment zeigte am Ende eindrucksvoll, welche ausgleichende Wirkungsmacht das Medium Fernsehen hatte. Es wirkte wie ein Katalysator, der die im Alltag erlittenen Frustrationen und die Zwistigkeiten innerhalb der Familien eindämmte. Ohne ihren Fernseher und die verbindende Kraft gemeinsamer Seherlebnisse kamen die Familienmitglieder nicht mehr miteinander aus. Eines der beiden Ehepaare wollte sich nach den vier Wochen sogar trennen. Es war schockierend, die enorme emotionale Bindekraft des Fernsehens in ihrer Negativwirkung vorgeführt zu bekommen. Ich verstand mit einem Mal die Wirkungsmacht und die daraus resultierende Verantwortung, die Fernsehmacher zweifellos eingingen. Dieser Gedanke sollte mich nie wieder loslassen, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, wohin genau mein Weg mich führen würde.

Dass mir die journalistische Arbeit für Kennzeichen D und Telemotor irgendwann nicht mehr ausreichte, hatte ebenfalls mit dieser Wirkungsmacht des Fernsehens zu tun. Erst war es nur ein unbestimmtes Gefühl, dass ich meine wahre Berufung noch nicht gefunden hatte. Dann kam der entscheidende Impuls ausgerechnet am Zuschauertelefon, das ich im Anschluss an die Kennzeichen D-Sendungen regelmäßig betreute. Dort riefen Menschen an, die manchmal Nachfragen zu den behandelten Themen hatten, viel öfter jedoch einfach nur ihrem Ärger Luft machen oder ihre Zustimmung kundtun wollten. Die wesentlichen Reaktionsmuster aus Tausenden Telefonaten ließen sich auf zwei Archetypen herunterbrechen. Entweder: Ja, sehe ich genauso, danke für die Argumentationshilfe! Oder: So ein Unsinn, das stimmt doch gar nicht! In den Sendungen adressierten wir mit gut recherchierten Informationen ausschließlich den Verstand der Zuschauer. Ich begriff nach und nach, dass wir damit längst nicht so effektiv waren, wie wir uns das ausgemalt hatten. Die Medienwirkungsforschung hat oft genug nachgewiesen: Wenn neue Erkenntnisse nicht offen aufgenommen, sondern nur auf Basis bereits bestehender Wertbilder eingeordnet werden, dann kann keine Einsichtsveränderung entstehen – eine Art automatische Gehirnblockade zwecks Dissonanzvermeidung.

Fasziniert vom US-Vierteiler Holocaust

Von wegen ›Zirkus‹. All jene Journalisten, die sich als elitäre Kaste innerhalb des Fernsehsystems fühlten und auf die Unterhalter herabsahen, hatten sich also geirrt. Wie zur ultimativen Bestätigung dieser These fand Anfang 1979 der in jeglicher Hinsicht außergewöhnliche US-Vierteiler Holocaust seinen Weg ins deutsche Fernsehen. Marvin J. Chomsky erzählte darin die fiktive Geschichte der jüdischen Familie Weiss, die einem Millionenpublikum erstmals auf emotionale Weise die Schrecken der nationalsozialistischen Vernichtungsherrschaft nahe brachte und eine nachhaltige Zäsur der deutschen Erinnerungskultur bewirkte. Bei ihrer Ausstrahlung in den Dritten Programmen der ARD erhitzte die Serie die Gemüter wie keine andere. Die Sender erhielten Drohbriefe, auf zwei Sendeanlagen wurden gar Bombenanschläge verübt. Doch mit Einschaltquoten von bis zu 39 Prozent wurde Holocaust zum Riesenerfolg, löste intensive Debatten aus und brachte die Schrecken von Auschwitz ins kollektive Gedächtnis der Deutschen. Viele von ihnen begriffen erst jetzt so richtig, welche historische Schuld ihr Land zwischen 1933 und 1945 auf sich geladen hatte, obwohl sie zuvor sicher schon in Geschichtsbüchern darüber gelesen und zahlreiche Dokumentationen darüber gesehen hatten. Chomsky wollte nach eigenem Bekunden zeigen, was »mit den Menschen passiert ist: Normale Menschen tun anderen normalen Menschen schreckliche Dinge an«. Ihm ist das auf meisterliche Weise gelungen, qualitativ wie quantitativ. Die Kraft von Holocaust wirkte unmittelbar auf das Herz und auf den Bauch des Zuschauers. Nicht so sehr auf den Verstand, jedenfalls nicht direkt.

Diese Wirkweise war damals höchst umstritten. Ein Drama, das »dem Seifenopernrezept gefährlich nahekommt«, urteilte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im April 1978 nach der Erstausstrahlung bei NBC. Der berühmte Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel zeigte sich gegenüber der New York Times »schockiert von der Verwandlung eines ontologischen Ereignisses in eine Seifenoper«. Der Tenor der öffentlichen Wahrnehmung drehte sich im darauffolgenden Jahr. Nach der Ausstrahlung in Deutschland wertete der damalige FAZ-Herausgeber Joachim Fest Holocaust im Januar 1979 als »bedeutendes Fernsehereignis«. Das von Historikern und Publizisten beklagte Desinteresse der Öffentlichkeit an der Vergangenheit habe sich hier entpuppt als das, was es in Wirklichkeit sei: »das Desinteresse von Historikern und Publizisten an der Öffentlichkeit«.

 

An dieser herausragenden Miniserie ließ sich exemplarisch ablesen, was das Medium Fernsehen mit seinen Inhalten vermochte, welchen Stellenwert es hatte und – trotz aller mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen – bis heute hat. »Viele unserer wachen Stunden und häufig auch unsere Träume sind mit diesen Geschichten angefüllt«, urteilte der ungarisch-amerikanische Kommunikationswissenschaftler George Gerbner, der als Begründer der Kultivierungshypothese gilt. Er analysierte in den 1970er-Jahren die Rolle des Fernsehens für die Vermittlung des Weltbilds der Rezipienten und kam zu dem Ergebnis, dass man von einer starken Sozialisationsinstanz ausgehen müsse. Je mehr Fernsehen ein Mensch konsumiert, so die These, desto stärker wird er auch durch das Fernsehen kultiviert und sieht die Welt so wie vom Fernsehen vermittelt. Das Fernsehen, schrieb Gerbner, sei »die Quelle der auf breitester Ebene allen Menschen gemeinsamen Bilder und Botschaften in der Geschichte«. Es vermittle, »vielleicht zum ersten Mal seit der vorindustriellen Religion, ein tägliches Ritual, das die Eliten mit vielen anderen Publika teilen. Das Herz der Analogie von Fernsehen und Religion, bezogen auf die Ähnlichkeit ihrer sozialen Funktionen, liegt in der kontinuierlichen Wiederholung von Mustern (Mythen, Ideologien, ›Fakten‹, Beziehungen etc.), die dazu dienen, die Welt zu definieren und die soziale Ordnung zu legitimieren.«

Fernsehen als Sinnstiftung

Natürlich geht Gerbners Gleichsetzung des Fernsehens mit der Religion sehr weit und ist aus heutiger Sicht vielleicht auch gar nicht mehr so zielführend. Die Kernthese jedoch erscheint mir immer noch stimmig und ebenso auf moderne Formen von digitalem Bewegtbild erweiterbar: Die Geschichten, die wir unserem Publikum erzählen, tragen ihren Teil zur Sinnstiftung, zur Ritualisierung und zur Weltsicht bei. Im Positiven wie im Negativen. Das heißt nicht, dass eine Aussage aus einer Serienepisode eins zu eins übernommen wird. Aber sehr wohl, dass der jahrelange Konsum von zwei oder drei Lieblingsserien durchaus zu einer Beeinflussung des Bewusstseins durch Aneignung und Abgrenzung führen kann. Fällt der gewohnte Input weg wie bei unserem »Vier Wochen ohne Fernsehen«-Experiment, entsteht eine Art soziale Unordnung. Als heutiges Äquivalent möge man vier Wochen Netflix-, YouTube- oder Facebook-Entzug einsetzen. Wie könnte man angesichts dieses Befunds unsere Verantwortung für die von uns verbreiteten Bilder und Geschichten negieren?

Ich habe mich nie davor gedrückt. Nach der prägenden Erfahrung von Holocaust dauerte es nicht mehr lange und ich war mir sicher, dass ich dorthin wollte, wo in meinen Augen die wahre Wirkungsmacht lag – in die fiktionale Unterhaltung, und zwar bevorzugt in deren breitenwirksamen Teil. Am ausgeprägtesten habe ich die damit verbundene Verantwortung gespürt, als ich viele Jahre später zum Daily-Soap-Produzenten wurde. Mit täglichen Formaten wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Unter uns, Alles was zählt oder Verbotene Liebe standen wir quasi im Auge des Orkans. Denn gerade solche Programme für die jüngeren Zielgruppen mit einer hohen Bindungskraft erfüllen der Medienforschung zufolge ein Stück Lebenshilfe für Jugendliche und junge Erwachsene: Das Studieren von Rollenbildern und Verhaltensweisen auf dem Bildschirm dient der Orientierung oder Abgrenzung. Soaps machen der jeweiligen Zielgruppe das Angebot, grundlegenden Fragen des Lebens nachzugehen. Ihre zumeist jungen Charaktere meistern Probleme, mit denen sich das Publikum identifizieren kann. Die Faszination, die GZSZ & Co. auf die Zuschauer ausüben, hat ganz wesentlich mit der Authentizität der Figuren und der dargestellten Konflikte zu tun. Ihre Glaubwürdigkeit beziehen die Programme aus der Abbildung der Lebenswelten der Zuschauer. Die Tatsache, dass wir anfangs noch teilweise Laiendarsteller einsetzten, hat hierbei nicht gestört, sondern den Effekt eher noch gefördert. Auch für die märchenhafteren Formate – die Telenovelas, die die UFA ab 2004 erfolgreich im deutschen Fernsehen etablierte – gilt ein ähnlicher Mechanismus. Am Beispiel unserer Sat.1-Serie Verliebt in Berlin ließen wir das Rheingold-Institut in einer tiefenpsychologischen Studie die Magie der Hauptfigur Lisa Plenske erforschen, die sich über 364 Folgen vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan entwickelte. Das Ergebnis: Die überwiegend weiblichen Zuschauerinnen projizierten sich stellvertretend in die Figur hinein, um den Vorgang der Veränderung, des Wandels, des Sich-selbst-Gestaltens bewusst zu erleben.

Viele junge Menschen – das bekam ich immer widergespiegelt – betrachten also das Unterhaltungsfernsehen wie eine Art topografische Landkarte des Lebens und nutzen es als Probebühne für ihr eigenes Verhalten. Mit allen Höhen und Tiefen, mit Enttäuschungen und Erfolgen, mit Liebe und Leid. Diese Landkarte soll Orientierung und Navigation ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass die Bedeutung der Medien, allen voran TV und Internet, als Agent der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen über die vergangenen Jahrzehnte erheblich zugenommen hat. Und zwar in dem Maße, in dem die gesellschaftlich akzeptierten Institutionen wie Familie, Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften ihre vormalige Funktion als gesellschaftliche Anker einbüßen. Indem Eltern, Lehrer, Pfarrer und Politiker an Autorität verlieren, suchen sich Heranwachsende logischerweise neue Vorbilder und Maßstäbe. Da kommen wir mit unseren täglichen Serien oder auch den Casting-Shows ins Spiel. Über Grenzen und Grenzüberschreitungen haben wir innerhalb von UFA und Fremantle regelmäßig diskutiert. Daraus resultierte der Anspruch »Inspiring Entertainment«, der der UFA bis heute als Claim dient. Gemeint ist damit das Ziel, unseren Zuschauern etwas zu bieten, was sie inspiriert und bewegt. Programme, die in sich werthaltig sind und Sinn stiften. Mehr als einmal musste ich mich fragen lassen, wie denn etwa Dieter Bohlen mit diesem Anspruch zusammenpasse. Ausgerechnet Bohlen als moralische Anstalt der Nation? Als Vorbild für junge Zuschauer im Umgang mit Mitmenschen? So verständlich ich diesen Reflex fand, so sehr ist er doch Ausdruck von eindimensionalem Denken an der Realität vorbei. In Wahrheit ist die überwiegende Mehrheit der Heranwachsenden viel differenzierter in ihrer Wahrnehmung, als mancher Erwachsene glaubt. Verschiedene Studien zeigten uns im Laufe der Jahre, dass es mindestens drei Arten gibt, auf Casting-Shows wie Deutschland sucht den Superstar oder Das Supertalent zu reagieren: Es gibt Jugendliche, die Bohlens Sprüche am nächsten Tag in der Schule unreflektiert wiederholen und sie sich zu eigen machen. Es gibt Jugendliche, die seine Sprüche als Unterhaltungselement cool finden, Bohlen aber niemals als Maßstab eigenen Handelns anerkennen würden. Und schließlich gibt es auch eine Gruppe von Jugendlichen, die nicht einverstanden ist mit der Art und Weise, wie mit einzelnen Kandidaten umgegangen wird. Ehrlich gesagt, hatte ich manches Mal den Eindruck, dass Dieter Bohlen selbst nicht immer wusste, mit welcher seiner Bemerkungen er den Rubikon des Vertretbaren überschritt. Die Zuschauer wussten es dagegen schon. Abgesehen davon, dass Bohlen – auch auf unser Zuraten hin – längst milder geworden ist, funktioniert seine Figur also durchaus als eine Art Anti-Held, an dem sich junge Menschen abarbeiten und einen eigenen Weg im Umgang miteinander finden können. Auch eine Funktion von Unterhaltungsfernsehen.

Serien bieten Orientierung im Alltag

Was unsere Daily-Drama-Serien betrifft, die auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs zusammengenommen täglich zwölf Millionen Zuschauer, die doppelte Reichweite der Bild-Zeitung, erreichten, so hat jede von ihnen über die Jahre einen umfangreichen Wertekatalog entwickelt, der soziale Grundsätze und Leitgedanken festhält. Diese Werte sind bei der Entwicklung neuer Geschichten stets präsent und fließen in die Erzählstränge mit ein. »Crime doesn’t pay off«, lautet einer der Grundsätze: Kriminalität darf sich in den Soaps nicht auszahlen. Kriminelle Machenschaften werden früher oder später bestraft. Selbst wenn der Arm des Gesetzes einmal nicht ausreicht und der Täter zunächst davonzukommen scheint, wird er früher oder später zumindest durch sein Umfeld zur Rechenschaft gezogen. Familienzusammenhalt und Toleranz sind weitere wichtige Werte. Die Familie – es mag jegliche regenbogenbunte Patchwork-Familie sein – ist für die Hauptfiguren der Serien eine Konstante im Leben. Auch wenn es innerhalb der Familie kracht, kann man sich darauf verlassen, dass die Familie in existenziellen Krisen füreinander da ist. GZSZ & Co. wollen die Familie als Ort des Geborgenseins vermitteln. Selbstverständlich spielen auch Ängste vor dem Anderssein und die sexuelle Identitätsfindung eine zentrale Rolle in den Storylines wie im Leben vieler Heranwachsender. Wann immer die Serien beispielsweise gleichgeschlechtliche Liebesgeschichten erzählen und dabei auch die Angst vor Anfeindungen sowie die mühsame Überwindung von Vorurteilen thematisieren, ist ihnen ein gewaltiges positives Feedback gewiss. Aus Online-Foren und sozialen Netzwerken wissen wir, dass solche Handlungsstränge nicht wenigen Zuschauern als Diskussionsgrundlage und Anleitung dafür dienen, ihre eigene sexuelle Orientierung zu offenbaren.

Es wäre verlogen, an dieser Stelle nur Positivbeispiele anzuführen. Bei allem Bewusstsein und bei allem Bemühen sind sicher nicht hundert Prozent aller UFA-Produktionen in den 27 Jahren meiner Geschäftsführung dem Ziel der Inspiration und der gesellschaftlichen Verantwortung vollumfänglich gerecht geworden. So wie von Axel Springer das Zitat überliefert ist, er habe »wie ein Hund« unter manchem gelitten, was zu seinen Lebzeiten in der Bild-Zeitung stand, so habe auch ich gelegentlich – zum Glück sehr selten mit Konsequenzen für die Programme – unter ein paar Extremen unseres Outputs gelitten. Vor allem dann, wenn die Darstellung einzelner Protagonisten in den Casting-Shows oder in einem Format wie Schwer verliebt, einer Dating-Doku-Soap für übergewichtige Menschen, meine persönliche Geschmacksgrenze überschritt. Aber natürlich gibt es in moralischen Fragen meist kein Schwarzweiß, sondern viele Grautöne und noch mehr unterschiedliche Auffassungen: Was ist noch zulässig, was nicht mehr? Wo erfolgt ein Tabubruch, der eine gewollte gesellschaftliche Debatte auslöst? Und wo einer, der nur Menschen oder Minderheiten bloßstellt? Wir haben das, wie schon erwähnt, regelmäßig intern diskutiert, besonders intensiv aber auch immer mit den jeweiligen Redaktionen in den Sendern. Denn Fernsehen darf ethische und moralische Wertvorstellungen nicht ignorieren. Einen eindeutigen Konsens über Trennlinien gibt es allerdings in der Gesellschaft nicht. Daher sollte man als Fernsehmacher mit Sorgfalt planen und auf Bedenken reagieren, wenn es darum geht, Grenzen zu verschieben und Diskurse anzustoßen.

In einem Fall jedoch haben wir komplett danebengegriffen. Das muss man mit Abstand so klar und schonungslos feststellen. Im Jahr 2004 produzierten wir für ProSieben The Swan – endlich schön, eine Reality-Show, in der 16 Frauen, die mit ihrem Aussehen unzufrieden waren, durch Schönheitsoperationen, Fitnesscoaching und Persönlichkeitsberatung verwandelt wurden. Unsere amerikanische Schwestergesellschaft hatte dieses Format entwickelt und mit großem Erfolg auf Sendung gebracht. Innerhalb des Fremantle-Vorstands führten wir lange, leidenschaftliche Diskussionen darüber, ob wir dieses Programm überhaupt in andere Märkte exportieren sollten. Die männlichen Board-Mitglieder waren dabei eher zurückhaltend, während die weiblichen weniger Bedenken hatten und auf die Erfolge in den USA sowie die Möglichkeit zur Selbstfindung der teilnehmenden Frauen verwiesen. Obwohl wir das ursprüngliche Konzept mit Blick auf die kulturellen Bedingungen in Deutschland etwas veränderten, hätte ich damals besser entscheiden sollen, auf den Produktionsauftrag zu verzichten. Soziale Anerkennung durch eine selbstdefinierte Physis, mehr Freunde finden mit gestrafften Wangen und aufgespritzten Lippen: Das waren nach meiner Einschätzung fragwürdige Botschaften eines Unterhaltungsformats, die zudem das Risiko einer Imageschädigung für Sender und Produzent bargen. Wir haben The Swan nach einer Staffel beendet und nie wieder etwas Vergleichbares versucht.

 

Mein weiter Bogen von Holocaust bis The Swan zeigt zweierlei: wie komplex, vielfältig und unvermeidbar unsere Verantwortung ausfällt, wenn wir Geschichten für ein breites Publikum erzählen; aber ebenso, dass wir es hier nicht nur mit gesellschaftlicher Pflichterfüllung zu tun haben, sondern auch mit einem geschäftlichen Imperativ. Für mich steht es außer Frage, dass der langfristige Erfolg von Medienmarken maßgeblich von der Authentizität und Glaubwürdigkeit ihrer Inhalte abhängt. Gerade in der schier unübersichtlichen Angebotsvielfalt des digitalen Medienzeitalters ist das eine große Chance für zuverlässige Marken, die ein klares Profil haben. Ein Profil, das die soziale Verantwortung sichtbar mit einbezieht und das auf dem Boden eines klar umrissenen Wertekosmos steht.

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