In der Fremde glauben

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196Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/ Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, Zentralregistratur, CIa6, Vorläufige Satzung des Diözesan-Seelsorgeamtes des thüringischen Anteils der Diözese Fulda in Erfurt, ohne Datum [1950].

197Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/ Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, Zentralregistratur, CIa6, Arbeitstagung des Seelsorgeamtes in Erfurt, 25.3.1958.

198K. Döbler, Gotha, 87.

B) WEGE ZU IDENTITÄT UND BEHEIMATUNG

Die Heimatvertriebenen waren – anders als die übrige Bevölkerung des Deutschen Reiches – härter von Hitlers Politik und Hitlers Krieg getroffen: Sie hatten ihre Heimat verloren, brachten kaum mehr mit, als was sie auf dem Leib trugen, waren gezeichnet von den Drangsalen des Krieges und den Strapazen der Flucht, lebten getrennt von der angestammten Heimat und von ihrem früheren Besitz und oft auch von ihren Angehörigen.1 Die wichtigste Aufgabe der Seelsorge bestand darin, den Vertriebenen vor allem zur seelisch-geistigen, zur religiösen Bewältigung ihres Schicksals zu helfen.2 Darüberhinaus war von kirchlicher Seite eine „Beheimatung“ in den Aufnahmegemeinden angestrebt worden3, die verschiedene Etappen und Abstufungen umfasste. Folgende Anliegen stellte die Kirche in den Mittelpunkt ihres Nachkriegs-Engagements für Heimatvertriebene4:

1) sich selbst als caritative Anstalt beispielhaft einsetzen in allen menschlichen Nöten der Vertriebenen,

2) die Unglücklichen stärken und ihnen Wegweisung geben, damit sie als Christen ihr Schicksal zu tragen vermögen,

3a) in katholischen Aufnahmegemeinden: die einheimischen Gläubigen ermahnen und belehren, den Vertriebenen gegenüber als Christen zu handeln, um die „Neubürger“ später in die bestehenden Gemeinden zu assimilieren5.

3b) in der Diaspora: die Zugezogenen mit Hilfe einer „assimilativen Pastoral“ zu einem katholischen Zusammenleben befähigen, um die Voraussetzung zu schaffen, die neue Fremde als Anfang einer neuen Heimat zu bejahen.

Methoden und Organisationsformen der Vertriebenenseelsorge mussten sich in der Diaspora des Ostteils der Diözese Fulda erst nach und nach etablieren. Dabei standen die Fragen der Eingliederung, Nichteingliederung oder teilweisen Eingliederung der Vertriebenen in die neuen Pfarrfamilien und die Diözese zunächst nicht im Vordergrund. Es handelte sich bei diesen Fragen und der damit einhergehenden Seelsorge wohl eher um „einen besonders gearteten Fall von Adaption der Glaubensverkündigung“6 wie sie die Tradition der Kirche in der Lösung ähnlicher Fragen bereits in der Vergangenheit angewandt hatte.7 Das Prinzip der „leiblichen und seelischen Grundversorgung“8 hat hier seinen Ursprung.

Eine wie auch immer geartete Integration der Zugezogenen wurde zunächst nicht favorisiert, da in den zumeist protestantischen Orten gar keine katholischen Gemeinden existierten, in die man als Katholik hätte integriert werden können. Weiterhin konnte „Integration“ in die sozialistische Gesellschaft seitens der katholischen Bischöfe nicht empfohlen werden, da „Integration“ Identifikation mit dem System bedeutete; die vorherrschende Ideologie in der SBZ/DDR sah für Kirche und Christsein keinen Platz vor. Die Kirche lehnte das totalitäre System der SED-Diktatur ab und so natürlich auch eine „Integration“ der Gläubigen in die DDR-Gesellschaft.9

Zudem besaßen die heimatvertriebenen Katholiken in den neuen Pfarreien und Seelsorgestellen „nur“ ein so genanntes Quasidomizil, denn laut CIC can. 92 hatten sie auf Dauer von zehn Jahren ihr Domizil noch in der alten Pfarrei.10 Für die Seelsorger galt diese kirchliche Rechtslage so lange als verbindlich, bis die Grenzziehungen im Osten endgültig definiert waren. Deshalb postulierten viele Priester in den ersten Nachkriegsjahren kein Verbleiben in den Aufnahmegemeinden Mitteldeutschlands. Wie viele andere auch, hofften sie auf eine Rückkehr und bestärkten die Vertriebenen, landsmannschaftliche religiöse Eigenwerte zu pflegen.11

Kirchliche Vertriebenenarbeit fokussierte aber nicht nur auf eine Bewältigung der augenblicklichen Not, sondern suchte auch nach möglichen Perspektiven für die Zukunft. In den katholischen Regionen des Eichsfeldes und der Rhön favorisierte man eine Assimilation der Zugezogenen in die bestehenden Pfarreien; den Magnetismus der Mehrheit glaubte man als Verbündeten zu haben.12

Anders verhielt es sich in der Diaspora. Hier mussten die zugezogenen Katholiken erst Gemeinden aufbauen, in denen sie selbst die Mehrheit der Gläubigen bildeten, da einheimische Katholiken nicht oder nur in geringem Umfang vorhanden waren. Das Erlebnis des Heimatverlustes, die Hoffnung, einmal wieder in die Heimat zurückkehren zu können, und die schwere Aufgabe, neu Fuß zu fassen, ließ diese Menschen aus verschiedenen Gegenden im Aufnahmegebiet allmählich einander näher kommen.13 So bildeten sich Erlebnisgemeinschaften, die zu Zweckbündnissen, Arbeitsgemeinschaften und selbst zu einer tief empfundenen Schicksalsgemeinschaft wurden.14 Ihre konfessionelle Eigenart und Identität, die sich von der vorherrschenden, dominanten Religionskultur deutlich absetzte, führte diese Katholiken enger zusammen. Das zunächst „fremde“ Zusammenleben endete schließlich in einer Verschmelzung heimatvertriebener Katholiken auf kirchlicher Ebene. Eine „assimilative Pastoral“, welche auf Harmonisierung, Annäherung, Einordnung, Einheitlichkeit im Gottesdienst, Sakramentenspendung, Liedgut und Religionsunterricht sowie schließlich auch auf Eingliederung in die sich prozesshaft entwickelnden Gemeinden setzte, beförderte diese Entwicklung.15 Verstärkt wurde sie zusätzlich, indem man die Heiligen Mitteldeutschlands als Tröster und Nothelfer installierte sowie die regionale katholische Kirchengeschichte der Ankunftsregion vorstellte bzw. den Vertriebenen näher brachte.16 Das Konzept der „Heiligen Heimat“ hat hier seinen Ort.

Diese Etappe der Gemeinde- und Identitätsbildung der Zugezogenen in einer doppelten Diaspora war besonders von einem Zusammen- und Miteinanderleben geprägt.17 So stand die Sammlung der zerstreut lebenden katholischen Heimatvertriebenen damals im Mittelpunkt. Diese „Neubürger“ waren im Aufnahmegebiet aufgerufen, sich zu katholischen Gottesdiensten und Gemeinden zusammenzufinden. Um eine ortskirchliche Identifikation zu erreichen, war man bemüht, Gemeinschaftsgeist und Zusammenhalt unter den zugezogenen Katholiken, die verschiedenen Regionen und Traditionen entstammten18, auszubilden. Unterschiede der Abstammung, der Herkunft, des Alters, der Tradition – all das in einer neuen, fremden Umwelt – sollten in der neuen kirchlichen Gemeinde verschmelzen zu einer „lebendigen Pfarrei“ heterogener Art.

Dabei erscheint das kirchliche Zusammenleben als eine Durchgangsphase auf dem Weg der Gemeindebildung zur katholischen Kirche in der SBZ und DDR zu sein. Nach der Ankunft und Sammlung der Zugezogenen wurden somit erste präformierende Strukturen geschaffen, die auf die Bildung von Gemeinden und später eigenständigen Pfarreien hindeuteten. Da die meisten Heimatvertriebenen an eine baldige Rückkehr in ihre alte Heimat glaubten, waren diese Strukturen nur vorläufige. Man traf sich zum Gottesdienst und empfing die Sakramente; an eine Dauerhaftigkeit dieses Zustandes in den Aufnahmegemeinden glaubten die meisten „Neubürger“ nicht. Aus dieser liturgiezentrierten Versammlung der verschiedenen Landsmannschaften bildete sich erst allmählich eine kanonisch errichtete Pfarrei. Festzuhalten ist aber auch, dass zahlreiche katholische Heimatvertriebene den Weg zur Kirche nicht fanden oder sich von ihr abwandten. Dieser frühen Phase der Gemeindebildung entspricht annähernd das Verhaltensmuster des sogenannten Attentismus, das sich durch die Konfrontation mit den politischen Rahmenbedingungen immer mehr auflöste.19 Aus einer abwartenden Grundhaltung erwuchsen neue Perspektiven, sodass man aus heutiger Sicht diese Phase als eine Form der transitorischen Gemeindebildung beschreiben kann: Sie war durch die attentistische Grundhaltung nicht von Anfang an festgelegt auf die Herausbildung eines Systems der Pfarrorganisation. Erst durch die Irreversibilität der Vertreibung und die gewonnene Erkenntnis der Vertriebenen, nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren zu können, ergaben sich beständigere Strukturen.

Die kirchliche Sammlung und das Zusammenleben waren also wesentliche Voraussetzungen dafür, neue Gemeinden zu bilden und Gemeindebewusstsein aufzubauen. Dabei ist der Begriff der Gemeinde umfassender als der der Pfarrgemeinde. Gemeinde bedeutet übernatürliche Wirklichkeit, die in der Feier der Hl. Messe Ereignis wird. Die Gemeinde repräsentiert die Kirche. Die Beheimatung in diesen Gemeinden wurde favorisiert und eine Eingliederung angestrebt. Unverkennbar festzustellen ist – durch das Zusammenleben befördert – ab ca. 1955 eine andere, eigene Mentalität unter den Vertriebenen. Schließlich wurde immer deutlicher, dass nach zehnjährigem Aufenthalt in Mitteldeutschland die Ergebnisse von Flucht, Vertreibung und Grenzziehung irreversibel waren und der bisherige Attentismus beendet werden musste.

1Vgl. A. Fischer, Pastoral in Deutschland nach 1945. Band II. Zielgruppen und Zielfelder der Seelsorge 1945-1962, Würzburg 1986, 151.

2Vgl. E. Puzik, Gedanken zur Flüchtlingsseelsorge (Referat 1947), in: H. Unverricht / G. Keil (Hg.), De Ecclesia Silesiae. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Apostolischen Visitatur Breslau, Sigmaringen 1997, 9-15.

3Vgl. J. Pilvousek / E. Preuß, Katholische Flüchtlinge.

 

4Vgl. zu den ersten drei Punkten (1-3a) A. Fischer, Pastoral, Bd. II, 159.

5Vgl. T. W. Müller, Neue Heimat Eichsfeld?

6E. Puzik, Gedanken, 12.

7In der Missionspraxis der Kirche seit Gregor dem Großen hat sich die Glaubensverkündigung in Brauchtum, Denkweise, Sitte, Philosophie usw. an den Eingeborenen anzupassen, nicht umgekehrt. Vgl. Ebd.

8J. Pilvousek, Flüchtlinge, 15.

9Vgl. J. Pilvousek / E. Preuß, Katholische Flüchtlinge, 21.

10Vgl. K. Mörsdorf (Hg.), Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici. Bd. 1, Paderborn 91959, 201.

11Vgl. E. Puzik, Gedanken, 14f.

12Vgl. T. W. Müller, Neue Heimat Eichsfeld?

13Vgl. E. Puzik, Gedanken, 12.

14Dies gilt zum Großteil auch für die Vertriebenen, die im Eichsfeld unterkamen. Beispielsweise führte der Ausschluss der Flüchtlinge aus dem gesellschaftlichen Leben des Eichsfelddorfes Flinsberg 1954 dazu, „daß es bis jetzt noch regelmäßig Zusammenkünfte der ehemaligen Umsiedler im Ort gibt, in denen die Sorgen und Nöte dieser Menschen besprochen werden.“ J. Gruhle, Ohne Gott und Sonnenschein. Band 3. Altkreise Eisenach, Heiligenstadt und Mühlhausen. Eine Dokumentation, Nauendorf 2002, 97.

15Vgl. Leitsätze zur Diasporaseelsorge, in: Handreichungen zur Seelsorge. Herausgegeben vom Seelsorgeamt Magdeburg (1949) Heft 1, 1-6, hier 2.

16Vgl. A. Fischer, Pastoral, Bd. II, 159.

17Der Bereich der Tischgemeinschaft ist hierbei von besonderem Interesse, da die Kommensalität einen Teil der klassischen Integrationstrias – Kommerzium, Kommensalität und Konnubium – ausmacht. Die Trias ist eine Testskala, um das Verhältnis von Einheimischen und Vertriebenen zu definieren und wird in vorliegender Arbeit nicht angewandt, da im kirchlichen Bereich eine Diasporasituation vorherrschte: die zugezogenen Katholiken konnten sich in keine katholische Gemeinschaft integrieren, da es sie bis dahin gar nicht gab. In allgemeinhistorischer Hinsicht ist die Trias durchaus anwendbar, auch wenn sie nicht die tatsächliche Geschichte widerspiegelt und keine Auskunft über Mentalitäten gibt. Vgl. J. Pilvousek, Flüchtlinge.

18Die katholischen Heimatvertriebenen entstammten verschiedenen Regionen, sprachen unterschiedliche Dialekte, gehörten diversen kulturellen und sozialen „Milieus“ an; ihre Einheit in geschichtlicher Prägung, in Tradition, Brauchtum, Sitte, Heimaterinnerung und Heimatbezogenheit auf landsmannschaftlicher Ebene müssen besonders betont werden, da die Zugezogenen keine homogene Einheit bildeten, die man berechtigt wäre, den Eingesessenen gegenüberzustellen. Vgl. P. P. Nahm, Der kirchliche Mensch in der Vertreibung. Die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wirkungen des Eingliederungsauftrages unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen und konfessionellen Bereichs, Wolfenbüttel 31961, 110f.

19Der Begriff des „revolutionären Attentismus“ wurde vom Historiker Dieter Groh benutzt, um das Warten der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf die sozialistische Revolution zu beschreiben. Im Zusammenhang mit der Vertriebeneneingliederung muss allerdings festgehalten werden, dass der Begriff zwar die vorherrschende Abwartehaltung treffend beschreibt, jedoch kein untätiges, passives Warten intendiert. Wenn auch zahlreiche Handlungsentscheidungen innerhalb der Gruppe der Heimatvertriebenen aufgeschoben wurden, da man anfangs eine baldige Rückkehr in die Heimat erhoffte, so lässt sich eine attentistische Grundhaltung im religiös-kirchlichen Bereich (Caritas, Liturgie, Kirchbau, Wallfahrten usw.) nicht in jedem Fall konstatieren. Vgl. D. Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt-Berlin-Wien 1974.

4 Organisierte Caritas

Wie verliefen die Anfänge der Caritasarbeit20 im Hinblick auf das Einströmen der Heimatvertriebenen im Ostteil des Bistums Fulda? Bereits in der NS-Zeit hatten die deutschen Bischöfe Bereiche der Caritas – nachdem die Verbände und Strukturen zerschlagen waren – in diözesane Strukturen einbezogen.21 Auch nach 1945 sollte dieses „Modell“ für die Caritas in der SBZ/DDR wegweisend werden, sodass man in der Nachkriegszeit Caritas, Kirche und Katholizismus kaum unterscheiden konnte.22 Die Caritas war also integraler Bestandteil der katholischen Kirche in der SBZ/DDR und verhalf dieser später zur Präsenz in der ansonsten gleichgeschalteten „sozialistischen Gesellschaft“.23

In der Nachkriegszeit war der Aufbau neuer, diözesaner Caritasstrukturen aufgrund der sich ständig stabilisierenden Interzonengrenzen und ihrer Undurchlässigkeit unbedingt notwendig geworden. Dies geschah unter Einbeziehung der Vorgängerinstitutionen und erfahrener Caritasmitarbeiterinnen und - mitarbeiter. Die organisierte Caritas in Thüringen geht auf den 1910 gegründeten „Ortscaritasverband für Erfurt und Umgebung“ zurück, aus dem 1923 eine Zentralstelle für Thüringen unter dem Namen „Caritasverband für das Bistum Paderborn – Caritasstelle für die Provinz Sachsen und Anhalt“ hervorging.24 Auch im Eichsfeld gab es Vorläufer: Die älteste karitative Vereinigung ist der Elisabethverein in Heiligenstadt, gegründet 1855, dem sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts weitere caritative Vereine anschlossen. Als Zusammenschluss trat 1922 der „Caritasverband für das Eichsfeld“ ins Leben.25

Der Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde in ganz Deutschland „die Stunde der Caritas“.26 Die kommunale Verwaltung und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) hatten seit April 1945 ihre Arbeit eingestellt. Die neu eingesetzten Verwaltungsbeamten und Bürgermeister standen den wachsenden sozialen Aufgaben oft hilflos gegenüber. In dieser Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges leisteten kirchliche Organisationen und Gemeindeseelsorger vor Ort effektive Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene, längst bevor staatliche „Umsiedler“-Verwaltungsstellen ihre Arbeit aufnahmen. So bat man beispielsweise bei den zu bewältigenden Problemen zunächst die örtlichen Pfarrämter um Rat und Hilfe.27

Die ersten Nachkriegsjahre waren zunächst Jahre des Improvisierens: Es galt, behelfsmäßige Unterkünfte zu schaffen und die Verpflegung der Angekommen zu sichern.28 Dabei kümmerte man sich in Thüringen – hier besonders in den Regionen entlang der Zonengrenze – zunächst um die „Grenzgänger“, Evakuierten, Flüchtlinge und Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, die in den Westen gelangen wollten. Eine Verdichtung der unzähligen Wanderungswege bildete sich im westlichen Obereichsfeld im Raum Leinefelde-Heiligenstadt-Kirchgandern, wo die amerikanische, britische und sowjetische Besatzungszone sich berührten. Unzählige versuchten, in das nahe Grenzdurchgangslager Friedland29 zu gelangen. Durch das Eichsfeld zogen ab 1945 etwa 2,5 Millionen zum größten Teil mittellose Menschen, die die Grenze überschritten oder zu überschreiten suchten.30 Der unvorstellbaren Not dieser „Grenzgänger“ versuchten Kirche, Caritas und einige Priester mit zahllosen caritativen Initiativen31 zu begegnen; vollkommen zu beseitigen war sie jedoch nicht.32

So begann beispielsweise der katholische Caritas-Verband Heiligenstadt, als einzige soziale Einrichtung der Stadt, im Mai 1945 ohne jede Mittel seine Arbeit, die nun erstmals ein hauptamtlich angestellter Geschäftsführer koordinierte.33 Als eine zentrale Anlaufstelle wurde zunächst eine Caritas-Geschäftsführung installiert, die ihren Sitz in der Privatwohnung des Geschäftsführers hatte. 1948 wurde ein zweiter hauptamtlicher Mitarbeiter aus dem Sudetenland eingestellt.34 Die Caritas, in der Person des Geschäftsführer Kurt Rudolph35, richtete in Zusammenarbeit mit der Kreisverwaltung und der sowjetischen Grenzkommandantur sämtliche Flüchtlingslager ein. Rudolph wurde schließlich zum Unterbringungsleiter des 30 Mitarbeiter umfassenden „Grenzstabes Heiligenstadt“ ernannt, der mehr als eine Million durchziehende Personen verpflegte.36 Diese mit den Zügen in Heiligenstadt ankommenden Zivil- und Militärpersonen wurden zuerst von der Caritas-Bahnhofsmission erfasst und dann einem der drei Caritas-Auffanglager für eine Nacht zugewiesen. Von dort wurden sie durch die Caritas-Durchgangsstelle auf die acht Rückwandererheime verteilt.37 Zu den Heimen zählten auch das Redemptoristenkloster und das Bergkloster der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel38 in Heiligenstadt.39

Analog zu Heiligenstadt entfaltete sich auf ausdrücklichen Wunsch des Diözesanbischofs Dietz hin40 die Arbeit der Caritas in jeder katholischen Gemeinde. Bis in die kleinsten Pfarreien hinein mobilisierte der Caritasverband die Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft der katholischen Bevölkerung. An den Brennpunkten des Verkehrs, wo die Not sich buchstäblich staute, auf den Bahnhöfen, den großen Wanderstraßen und Durchgangslagern41, belebte und verstärkte er die altbewährte Einrichtung der Bahnhofsmission, die seitdem planmäßig ungezählte Hilfsbedürftige betreute, indem sie ihnen ohne Rücksicht auf Konfession oder Nationalität gesundheitliche Fürsorge, Rat, zusätzliche Ernährung, Übernachtungsmöglichkeiten und Hilfe jeder Art vermittelte.

4.1 Aufbauarbeit

Die Arbeit der Caritas, wie auch die Leitung der katholischen Kirche in Thüringen insgesamt, waren nicht einheitlich geregelt. Die Verantwortlichkeiten lagen beim Bischöflichen Kommissarius für das Eichsfeld und bei den Dechanten von Erfurt, Weimar und Geisa.42 Diese Aufteilung wirkte sich besonders negativ im Hinblick auf die Korrespondenz mit der neuen Thüringer Landesregierung in Weimar aus, die bei der katholischen Kirche nicht informiert war, mit welcher Stelle verhandelt werden sollte. Eine Verbindung mit dem Ordinariat oder Caritasverband in Fulda kam für sie ohnehin nicht in Frage.43

Deshalb arbeiteten der Erfurter Dompropst Freusberg und der Fuldaer Caritasdirektor Aloys Schmand44 seit November 1945 daran, eine Zentralisierung der Caritasarbeit in Thüringen herbeizuführen.45 Sehr gelegen kam es deshalb, dass vom Erzbischöflichen Amt Görlitz im Juli 1946 ein Experte auf dem Gebiet der Caritas, der ehemalige Caritasdirektor für Oberschlesien, Franz Nitsche, für den Erfurter Bereich avisiert wurde. Kanonikus Tinschert schrieb an Freusberg, Nitsche sei „der tüchtigste Mitarbeiter von [Caritas-]Direktor Zinke, der evtl. als Leiter der Caritas-Flüchtlingsfürsorge für das dortige Gebiet Verwendung finden könnte. […] Nitsche hat bis zuletzt in der Caritasarbeit in Breslau an führender Stelle gestanden.“46

Am 31. August 1946 übertrug der Generalvikar von Fulda im Auftrag von Bischof Dietz dem in Thüringen eingetroffenen Franz Nitsche die Leitung der Caritas im sowjetisch besetzten Teil der Diözese. Nach der Schaffung einer katholischen Pressestelle im Land Thüringen47 war dies die zweite Vereinheitlichung, die für den Ostteil des Bistums Fulda vorgenommen wurde. Weitere sollten folgen.48

Von Erfurt aus, wo sich das erste Büro der Caritas befand, siedelte Nitsche nach wenigen Tagen nach Weimar über, da dort die Landesregierung ihren Sitz hatte. Wie nötig der Umzug war, zeigt, dass Nitsche in Weimar prompt in die staatliche Landeskommission für Neubürger berufen wurde.49 Als die Landesregierung 1949 von Weimar nach Erfurt umsiedelte, kehrte auch die Caritasleitung nach Erfurt zurück.50

In der Landesverwaltung in Weimar war damals u.a. der ehemalige Oberpräsident von Oberschlesien, Hans Lukascheck51, als dritter Vizepräsident des Landes Thüringen – verantwortlich für Landwirtschaft und Forsten52 – tätig, den Nitsche gut kannte und der seinen Arbeitsbeginn in Thüringen erleichterte. Ebenso dürfte der CDU-Politiker und aktive Katholik Clemens Riedel53 aus Breslau, der 1946-1949 in Erfurt eine Großbäckerei leitete und Vorsitzender des CDU-Wirtschaftsausschusses in Thüringen war, zu seinen wichtigsten Kontaktpersonen gezählt haben.54

 

Franz Nitsche kann zudem als einer der „Gründervater“ der Caritas in der DDR bezeichnet werden. Sein Verdienst ist es, die organisierte Caritas in Thüringen vollkommen neu aufgebaut zu haben.55 Mit seinen Erfahrungen auf diesem Gebiet – in Oberschlesien hatte er 1,3 Millionen Katholiken zu betreuen – war er ein nicht zu ersetzender Fachmann der Caritasarbeit und wurde demgemäß auch im Aufnahmebistum mit einer ähnlichen Stellung wie im Heimatbistum betraut. Da er sich nach der Vertreibung 1946 zusammen mit Joseph Negwer in Erfurt niederließ und in Thüringen viele schlesische Priester vorfand – eine Zeit lang sogar den Breslauer Weihbischof Josef Ferche – war er in ein personelles Netzwerk von Klerikern, und in den ersten Nachkriegsjahren auch Politikern, eingebunden, das ihm – weit über die SBZ hinaus – Handlungsspielräume eröffnete. Seine kirchlichen Vorgesetzten schenkten ihm vollstes Vertrauen und Entscheidungsfreiheit; bis 1975 blieb er Caritasdirektor der – wie es später hieß – Diözesancaritas Erfurt im Bereich des Bischöflichen Amtes Erfurt-Meiningen.56

Zu den in Thüringen sesshaften Caritashelferinnen und -helfern – bspw. Dr. Katharina Trutz57 als Pionierin der Caritasarbeit des Thüringer Raumes – kamen durch Flucht und Vertreibung erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas des Erzbistums Breslau hinzu. Exemplarisch seien zwei Frauen genannt, die vor der Vertreibung als Diözesanfürsorgerinnen im Caritasverband für Oberschlesien tätig waren und ab 1946 an entscheidender Stelle die Diözesancaritas für das Land Thüringen mit Prälat Nitsche mit aufbauten: Fräulein Luzia Menzel58 und Fräulein Elisabeth Reinhold59.

Um die anfallende Arbeit zu erfüllen, wurden zunächst – neben der Diözesanstelle – 17 Kreis-Caritassekretariate neu eingerichtet und Caritashelferinnen ausgebildet. 18 hauptamtliche Fürsorgerinnen und Fürsorger stellte man schließlich an.60 Auch der Aufbau einer Pfarrcaritas in den sich neu bildenden kirchlichen Vertriebenen-Gemeinden verlief seit 1948 zielgerichtet. Gebraucht wurden Helfer zur gerechten Verteilung der Auslandsspenden, in den neu eingerichteten Nähstuben zur Verwertung der Kleiderspenden sowie zur Durchführung von öffentlichen Sammlungen. Die Genehmigung für die erste öffentliche Haus- und Straßensammlung wurde bereits im November 1948 erteilt. Seither fanden jährlich zwei öffentliche Sammlungen durch Mitarbeiter der Caritas statt: im Frühjahr für den Aufbau der katholischen Kirche sowie im Herbst für die Caritasarbeit.61 Auf diese Weise waren die grundlegenden personellen Voraussetzungen zum Neuaufbau der Caritas und der Kirchengemeinden im Ostteil der Diözese Fulda geschaffen worden.

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