In der Fremde glauben

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1.2 Forschungsstand

Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung für den Bereich der SBZ/DDR kennt bisher nur wenige fundierte Untersuchungen über die (katholischen) Heimatvertriebenen und ihre Eingliederung. Die reichhaltigeren Forschungen aus dem bundesdeutschen Gebiet können bei der Betrachtung der Eingliederungsprozesse Vertriebener im Ostteil des Bistums Fulda wohl nur zum Vergleich herangezogen werden.34 Als Vorlage oder Strukturierungshilfe für die mitteldeutsche Thematik können sie nicht direkt und unmittelbar dienen, da mit der SBZ/DDR eine besondere politische und gesellschaftliche Situation existierte, in die die „Vertriebenenproblematik“ involviert ist. Allgemeingeschichtliche Untersuchungen zu diesem Thema sind zudem nur partiell für eine kirchengeschichtliche Darstellung brauchbar, da sie die Gesamtthematik unter anderen Aspekten behandeln und die katholische Kirche – wegen ihres Minderheitsstatus’ – oft nur am Rande erwähnen. Für die evangelische Zeitgeschichtsschreibung fehlen Ausführungen für Thüringen gänzlich; die zahlreichen Monografien und Sammelbände, die die Nachkriegszeit thematisieren, beschreiben vor allem das Verhältnis von Staat und Kirche35 – dabei besonders den „Thüringer Weg“36 – sowie die kirchliche Neuordnung Thüringens inklusive der „Entnazifizierung“37.

Die Thematik der katholischen Vertriebenen in der SBZ/DDR griff als erster Josef Pilvousek 1993 auf.38 Er stellte zunächst statistische Daten vor, die die extremen Verschiebungen innerhalb der katholischen Kirche in diesem Bereich aufzeigten, und untersuchte Integrationsversuche der Ortskirche. Sein Fokus lag darüber hinaus auf der Problematik des Bleibens. Auf regionale Besonderheiten bzw. eine tiefer gehende Betrachtung der genauen Vorgänge konnte Pilvousek in diesem ersten Übersichtsartikel nicht näher eingehen. Weitere Artikel Pilvouseks sollten das Forschungsfeld der katholischen Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR weiter ergänzen.

Die von ihm 1995 eingeführte Prozessbeschreibung „Von der ‚Flüchtlingskirche‘ zur ‚Katholischen Kirche in der DDR‘“39 charakterisiert wohl den mitteldeutschen Katholizismus treffend, jedenfalls wird der Begriff der „Flüchtlingskirche“ seither von zahlreichen anderen Autoren benutzt.

Das methodische Vorgehen und die zu verwendende Terminologie wurden in einem Grundlagen-Aufsatz konkretisiert.40 Darin favorisiert Pilvousek für die Katholizismusforschung in der SBZ/DDR den Begriff der „Beheimatung“ anstelle des Integrations-Terminus. 2009 gab er zusammen mit Elisabeth Preuß einen Sammelband zu dieser Thematik heraus, wobei auch staatliche Integrationsversuche Berücksichtigung fanden.41

Verschiedene Aufsätze und Artikel beschreiben Einzelaspekte der Eingliederung der katholischen Vertriebenen und ihrer Priester näher. 2009 schrieb Pilvousek über Gottesdiensträume und Seelsorger als drängendste Probleme der katholischen Kirche der Nachkriegszeit,42 im selben Jahr über die hl. Hedwig von Schlesien und ihre Verehrung in der SBZ/DDR.43 Den besonderen Lebensschicksalen heimatvertriebener Priester wandte er sich 2009 in einem Aufsatz in der „Römischen Quartalschrift“ zu.44 Über die evakuierten katholischen Rheinländer während des Zweiten Weltkrieges im Gau Thüringen45 sowie über die Schwierigkeiten und Chancen katholischen Gottesdienstes in evangelischen Kirchen Mitteldeutschlands während der Kriegs- und Nachkriegszeit46 informieren zwei weitere Aufsätze aus der Feder Pilvouseks.

Einzelne Jurisdiktionsgebiete und Regionen sind bereits Gegenstand eingehender Forschung gewesen. Für den östlichen Anteil der Diözese Osnabrück – das spätere Bischöfliche Kommissariat Schwerin – liegt mit der „Chronik des Bischöflichen Kommissariates Schwerin 1946-1973“ eine fundierte Darstellung der Migrationsbewegungen und der damit einhergehenden Probleme für die katholische Kirche in Mecklenburg vor.47

Dr. Martin Holz erforschte in seiner Dissertation das Wachstum der katholischen Diasporagemeinden und die sich daraus ergebenden neuen Perspektiven für die katholische Kirche auf der Insel Rügen. Die Monographie stellt exemplarisch die Untersuchung eines geschlossenen Gebietes – hier bedingt durch die Insellage – dar.48

In meiner Diplomarbeit habe ich die Problematik der Heimatvertriebenen in der katholischen Ankunftsgesellschaft des Eichsfeldes erforscht, das durch seine katholische Bevölkerungsmehrheit eine Besonderheit in der durch die Diasporasituation gekennzeichneten Kirche in der SBZ/DDR darstellt. Innerhalb des Migrationsgeschehens war dieses Gebiet durch seine exponierte Grenzlage besonders betroffen. Die Studie betrachtete vor allem die Rolle der katholischen Kirche und ihren Einsatz für die Flüchtlinge; eine Beheimatung der Vertriebenen in die homogene Welt des katholischen Eichsfeldes gelang trotz aller Bemühungen nicht.49

Weitere Monografien behandeln die Heimatvertriebenen, vernetzen das Thema aber nicht breit genug oder marginalisieren die integrationshemmenden Interessenkonflikte. Wolfgang Tischner50, der eine Studie über die Anfangsjahre der katholischen Kirche in der SBZ/DDR vorlegte, erwähnt den Zuwachs der Katholiken nach 1945 auf dem Gebiet der SBZ/DDR, wobei er den Integrationsprozess der Vertriebenen in die bestehenden Gemeinden als problemlos bezeichnet. Er bezieht die Thematik einer Beheimatung der heimatlos Gewordenen nicht als solche ein, obwohl er mehrfach die Veränderung der Großgruppe der Katholiken durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen anführt.

Vor allem das Verhältnis Staat-Kirche stellt Birgit Mitzscherlich51 in ihrer Dissertation über das Bistum Meißen 1933 bis 1951 in den Vordergrund. Der Flüchtlingsproblematik widmet sie nur wenige Textseiten. Dabei streift sie lediglich kursorisch kirchliche und staatliche Eingliederungsmaßnahmen.

Ulrike Winterstein beschreibt in ihrer Dissertation den vertriebenen Klerus im Aufnahmeland Sachsen und betrachtet das Thema unter dem Aspekt der Elitenforschung.52 Die Selbst- wie auch Fremdwahrnehmung der „Ostpriester“ war jedoch weit davon entfernt, sich als „Führungselite“ zu verstehen. Den heimatvertriebenen Klerus als „Elitegruppe“ zu bezeichnen, scheint auch deshalb unangebracht, da dieser Terminus, der soziologische Wurzeln hat, in den Quellen selbst nicht vorkommt und auch sonst kaum das Wesen und Selbstverständnis der heimatvertriebenen Geistlichen trifft.

Biografische Zugänge zur Thematik wählten mehrere Autoren. Konrad Hartelt stellte drei heimatvertriebene Schlesier und spätere Protagonisten der katholischen Kirche in der SBZ/DDR mit je einer Monografie näher vor: Kapitelsvikar Dr. Ferdinand Piontek53 und Prälat Dr. Joseph Negwer54, die beide in Breslau führende Ämter inne hatten und nach der Vertreibung in Mitteldeutschland tätig wurden. Auch der spätere Kapitelsvikar und Bischof von Dresden-Meißen, Gerhard Schaffran, stammte aus Schlesien und wurde zu einer prägenden Gestalt des mitteldeutschen Katholizismus. Einem Teil seines Lebens widmet Hartelt eine Biografie.55 Sebastian Holzbrecher stellte in seiner Diplomarbeit das Schicksal des letzten deutschen Weihbischofs in Breslau, Joseph Ferche, dar, der nach einem kurzen Aufenthalt in Thüringen in Köln ansässig wurde.56 Unverkennbar ist bereits hier der Einfluss der Schlesier auf Leben, Wirken und Struktur der katholischen Kirche in der SBZ/DDR; einen Überblicksartikel zu dieser Tatsache verfasste der Erfurter Pastoraltheologe Franz-Georg Friemel.57

Allgemeinhistorische Darstellungen sowie vernetzende Gesamtüberblicke zur Flüchtlings- und Eingliederungsforschung speziell für Thüringen liegen bislang kaum vor. Über die gesamte SBZ/DDR informiert das umfassende Standardwerk von Michael Schwartz.58 Lediglich Manfred Wille, ehemaliger Professor für Zeitgeschichte in Magdeburg und Vorreiter bei der Erforschung der Vertriebenenproblematik in der DDR, veröffentlichte 2006 eine Monografie, die die Aufnahme und Eingliederung der Heimatvertriebenen in Thüringen dokumentiert.59 Der eigentliche Text der Darstellung umfasst nur 37 Seiten, ein umfangreicher Dokumentenanhang schließt sich an. Seine Mitarbeiterin Steffi Kaltenborn legte 1989 ihre Dissertation „Die Lösung des Umsiedlerproblems auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik dargestellt am Beispiel des Landes Thüringen (1945-1948)“ vor.60 Sie ist im Stil und Duktus einer DDR-Abschlussarbeit verfasst, steht innerhalb des Grundrahmens des SED-Geschichtsbildes und wurde nie publiziert, obwohl die Arbeit eine Fülle an neuen Erkenntnissen liefert. Die Verfasserin schrieb aber einige Aufsätze, die sich thematisch an die Dissertation anlehnen61, einen längeren über die Wohn- und Lebensverhältnisse der Vertriebenen in Thüringen62 sowie über die Ansiedlung Gablonzer Industrie im Kreis Gotha.63

Innerhalb der volkskundlichen Erzählforschung Thüringens rücken seit 1995 die Heimatvertriebenen stärker in den Fokus der Betrachtung. Ein erster Aufsatz64 von Gudrun Braune sowie ein umfangreicher Band mit neun biografischen Skizzen geben Einblicke in die Lebenswelt von Flüchtlingen und Vertriebenen auf der Basis von Zeitzeugeninterviews.65 Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Vertriebenen über die Ankunft in Thüringen liegen mehrfach gedruckt vor.66

Einige wenige Ortschroniken und Stadtgeschichten haben in letzten Jahren die Vertriebenenproblematik aufgegriffen und auf breiterem Raum dargestellt.67 Allerdings spielen in den meisten gedruckten Ortschroniken Thüringens die Heimatvertriebenen oft nur insofern eine Rolle, wie sie zum quantitativen Wachstum der Dorfbevölkerung beitrugen. Über den Modus der Ankunft, Aufnahme und über integrationshemmende Interessenkonflikte wurde wenig oder kaum geforscht. Andere Publikationen vernachlässigen das Thema ganz.68 Der seit dem Fall der Mauer sich auch in Thüringen etablierende „Bund der Vertriebenen“ förderte einige regionalgeschichtliche Publikationen: Der Kreisverband Arnstadt im Bund der Vertriebenen veröffentlichte 2000 eine Dokumentation über die Eingliederung der Heimatvertriebenen im Landkreis Arnstadt, die viele Fotos, Zeitzeugeninterviews und Dokumente enthält.69 Der Bund der Vertriebenen Thüringen gab 2001 das Buch „Heimatvertriebene Künstler in Thüringen“ heraus, das 30 verschiedene Biografien und Werke beschreibt.70

 

Was bisher fehlt, sind detaillierte Untersuchungen und Darstellungen des „Vertriebenenproblems“ im kirchlichen Bereich für einzelne Territorien unterschiedlicher konfessioneller und struktureller Art auf dem Gebiet der SBZ/DDR. Die vorliegende Arbeit kann dazu beitragen, diese Forschungslücke zu füllen, da sie exemplarisch Flüchtlings- und Eingliederungsforschung für den Ostteil des Bistums Fulda betreibt.

1.3 Territoriale und zeitliche Eingrenzung

Als Untersuchungsgebiet wurde der östliche Anteil der Diözese Fulda gewählt, zu dem das Eichsfeld, die Rhön, die Stadt Erfurt und die thüringische Diaspora seit 1929 gehörten.71 Durch die Errichtung der Interzonengrenze 1945 wurde die Diözese geteilt: der Bischof residierte im westlichen Teil, während der östliche Bistumsanteil von ihm getrennt war und unter sowjetischer Verwaltung stand. Die pastoralen und gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Bistumsteil verliefen aufgrund politischer Entwicklungen und antikirchlicher Maßnahmen des totalitären SED-Systems grundlegend verschieden von denen im Westen.72 Diese Kluft wurde bereits während der Besatzungszeit sichtbar, verschärfte sich zusehends mit der deutschen Staatenbildung: der Ostteil des Bistums gehörte ab 1949 zur DDR, der Westteil zur Bundesrepublik. Unter Angliederung des Bischöflichen Kommissariates Meiningen und gleichzeitiger Abspaltung der Rhön entstand aus pastoralen Gründen aus dem östlichen Fuldaer Diözesananteil 1994 das Bistum Erfurt.73 Deshalb ist es legitim und notwendig, den Ostteil des Bistums Fulda im Hinblick auf das Einströmen der katholischen Heimatvertriebenen und die damit verbundenen neuen Akzentsetzungen sowie Umstrukturierungen zu untersuchen.

Die zeitliche Eingrenzung erweist sich als evident: Ein Anfang wurde mit dem Jahr 1945 gesetzt, als alliierte Truppen Deutschland besetzten und der Zweite Weltkrieg ein Ende nahm.74 Infolgedessen begannen die massenhaften Zwangsmigrationen aus Ostmitteleuropa. Die zeitliche Begrenzung bis 1955 liegt darin begründet, dass zu Beginn der 1950er Jahre die Anzahl der Quellen, in denen die Vertriebenen erwähnt werden, rapide abnimmt. Die Behörden der DDR führten schon nach 1949 keine Statistiken zu dieser Bevölkerungsgruppe mehr und propagierten eine gelungene und beendete Integration der Flüchtlinge. Mit dem Auslaufen der letzten sozialen Sondermaßnahmen für „Umsiedler“ 1953 stellte die DDR ihre Vertriebenenpolitik vollständig ein und belegte diese Thematik mit einem strengen Tabu.75

Zur Logik der Terminierung gehört, dass bereits 1947/1948 die Auseinanderentwicklung von Ostzone und Westzonen unübersehbar war. Die Gründung beider deutscher Staaten zeigte deutlich, dass die geschaffenen Verhältnisse sich nicht wesentlich verschieben würden. Mit der doppelten Blockintegration 1955 – Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und der DDR zum Warschauer Pakt – schien die deutsche Teilung irreversibel geworden zu sein.76

Vor allem innerkirchliche Gesichtspunkte sprechen dafür, Mitte der 1950er Jahre eine weitere Zäsur anzusetzen. Das kirchliche Leben der Nachkriegsjahre war durch einen beharrlichen und mühevollen Aufbau charakterisiert. Enorme Anstrengungen wurden unternommen, um die Pastoral und die seelsorglichen Einrichtungen aufzubauen und zu festigen. Zahlreiche Schuppen, Garagen oder Gasthäuser wurden zu Gottesdiensträumen umgebaut, und einige wenige Kirchenneubauten entstanden.77 Diözesane Verwaltungen mussten aufgebaut oder neu geordnet werden, da die Kommunikation zu den im Westen liegenden Ordinariaten weiter eingeschränkt wurde.78 Als eine zentrale Form der Kirchenorganisation auf dem Gebiet der SBZ/DDR wurde von Pius XII.79 1950 die „Ostdeutsche Bischofskonferenz“ gegründet.80 Besonders die Frage des Priesternachwuchses verlangte nach einer Lösung: 1952 wurden das „Philosophisch-Theologische Studium Erfurt“ und das „Alumnat“ eröffnet und waren die einzigen Ausbildungsstätten für katholische Theologinnen und Theologen in der ehemaligen DDR.81 Weitere Institutionen wurden in Magdeburg, Halle und Schöneiche gegründet, um dem Erfurter Studium den Nachwuchs zu sichern.82 In den neu errichteten Seminaren auf der Huysburg und in Neuzelle verbrachten die Diakone die letzte Zeit vor der Priesterweihe.83 Auch die Gründung von Ausbildungsstätten für Seelsorgehelferinnen fällt in diese Periode.84 Vor allem der Aufbau des katholischen St.-Benno-Verlages Leipzig war für den Auftrag der Glaubensverkündigung und eine christliche Lebenshilfe von immenser Bedeutung.85 So können die Jahre bis 1955 für die katholische Kirche in der DDR durchaus als fruchtbare Wachstumsjahre definiert werden, in denen sich u.a. eine umfangreiche Bautätigkeit und eine lebhafte Gemeindearbeit auf allen Gebieten entfaltete.86

In diesem Zeitraum bildete sich eine eigene Mentalität innerhalb der katholischen Kirche in der DDR heraus, die – anders als am Ende der 1940er Jahre – Kirche im totalitären Staat für notwendig und möglich hielt. Könnte es nicht sein, dass lebendige „Flüchtlingsgemeinden“ samt erfolgreichen Pastoralkonzepten und Seelsorgsinitiativen sowie im äußeren Bereich Gottesdiensträume und Seelsorgestellen usw. dazu beigetragen hatten, ein neues Bewusstsein von katholischer Kirche in Mitteldeutschland herbeizuführen? Bischöfliche Äußerungen zum Überleben in der Diaspora und zur Notwendigkeit von Kirche in der DDR belegen dies.87 So kann man mit Josef Pilvousek davon sprechen, dass etwa ab Mitte der 1950er Jahre ein innerer Wandlungsprozess einsetzte: von einer „Flüchtlingskirche“ zur „Katholischen Kirche in der DDR“.88

Gleichzeitig begann der Staat damit, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen. Der Leipziger Oratorianer Wolfgang Trilling fasste diese Phase bis 1955 unter dem Stichwort „harte Fronten“ zusammen.89 Die Jahre nach 1955/1956 nannte er „Scheidung und Läuterung“, da nun die weltanschauliche Position der SED auch für den Staat kompromisslos als Grundlage ausgegeben wurde.90 Sichtbar wird dies unter anderem an der Einführung kultischer Ersatzhandlungen (Jugendweihe usw.) und dem ständig größeren Druck, der auf die katholische Kirche ausgeübt wurde – zum Teil mit einer primitiven, aggressiven und oft vulgären antireligiösen Propaganda.91 Somit scheint es legitim, das Jahr 1955 als Zäsur anzusehen und den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit auf die Jahre von 1945 bis 1955 zu beschränken.

1.4 Aufbau und Methode

Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Forschungslage wird die folgende Untersuchung den Transformationsprozess der katholischen Kirche im Ostteil des Bistums Fulda im Hinblick auf das Einströmen der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen rekonstruieren. Für die Kirche stellten diese erzwungenen Migrationen eine besondere Herausforderung dar. Es ist zu fragen, wie die katholische Kirche damals organisiert war, welche institutionellen und personellen Strukturen bzw. Hierarchien es gab und wie Entscheidungsprozesse abliefen. Eine besondere Rolle spielen dabei der „Traditionstransfer aus dem Osten“92 sowie die Mentalitäten der unterschiedlichen Landsmannschaften, die analysierend darzustellen sind, um ihre Wirkungen in Pastoral und Liturgie in den gewachsenen oder neu entstandenen katholischen Gemeinden aufzeigen zu können.

Ziel der Arbeit wird es auch sein, darzustellen, wie die katholische Kirche auf die sich ergebenden Aufgaben, Probleme und Chancen reagierte. Unter welchen Umständen erfolgten Ankunft, Aufnahme und Eingliederung der heimatvertriebenen Katholiken, Priester und Ordensleute in diesem Territorium? Welche Rolle spielten Glaube und Kirche bei dem Prozess der allmählichen Beheimatung in den neu entstehenden Gemeinden? Dabei sollen vor allem auch personelle, strukturelle, mentale und geistlich-theologische Veränderungen der Aufnahmegemeinden dargestellt werden, die die pastorale Besonderheit des Jurisdiktionsbezirks – des heutigen Bistums Erfurt – ausmachen. Zentrale „Bausteine der konfessionellen Identität“93 und der Beheimatung werden eingehend beschrieben und anhand konkreter Fallbeispiele untersucht.

Zu den Forschungsdesideraten der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung gehören vor allem auch die informellen Verbindungen innerhalb der Gruppe der Vertriebenen – unter Umgehung des staatlichen Koalitionsverbotes – und ihre Auswirkungen auf die Identitäten der Zugezogenen. Trotz der repressiven Grundhaltung des herrschenden Regimes konnten im ersten Nachkriegsjahrzehnt unter den Vertriebenen viele Selbstorganisations- und Kommunikationsphänomene beobachtet werden, die von der Forschung bisher nur unzureichend wahrgenommen und gewichtet worden sind.94 Außerdem lässt eine Analyse der Medien der Meinungsbildung, d.h. kirchliche Zeitungen und Literatur der (Vertriebenen-)Seelsorge, aufschlussreiche Ergebnisse erwarten.95

Es ist weiterhin auf das Phänomen einzugehen, dass große Teile der geflüchteten und vertriebenen Katholiken nach einigen Jahren offenbar ihre (äußere) Kirchenbindung verloren haben. Es wird zu untersuchen sein, wie dabei der politische Druck einerseits und der Verlust der aus der alten Heimat überkommenen Volkskirchlichkeit andererseits zusammenhängen, da im Ostteil der Diözese Fulda auch durch den Zuzug der „Neubürger“ keine Volkskirche entstehen konnte, sondern die Diasporasituation für die gesamte DDR-Zeit prägend bleiben sollte.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Kapitel: Die Voraussetzungen der Vertriebenenseelsorge, die Wege zu Identität und Beheimatung sowie die Vorstellung kirchlicher Akteure in diesem Prozess. Im ersten Kapitel werden die verschiedenen Migrationsbewegungen nach Mitteldeutschland und die damit verbundenen Herausforderungen für die katholische Kirche beschrieben; breiteren Raum nimmt die Ankunft der Heimatvertriebenen aus Ostmitteleuropa ein. Die personellen und jurisdiktionellen Änderungen der Diasporakirche im Ostteil der Diözese Fulda stehen dabei im Mittelpunkt.

Das zweite Kapitel beschreibt die verschiedenen Wege der Identitätssuche und Versuche der Beheimatung der katholischen Heimatvertriebenen im Aufnahmegebiet. Allen voran stehen die Hilfen der Caritas, die Zugezogenen leiblich zu versorgen. Daneben war man aber ebenso bemüht, den Vertriebenen eine seelsorgliche Betreuung zukommen zu lassen. Ziel aller Seelsorge war die Sammlung der Katholiken und der Aufbau von Gemeinden. Dieser Prozess wurde geistlich begleitet von theologischen Deutungen, die man mit dem Begriffspaar „Heilige Heimat“ zu umschreiben suchte. Das Themenfeld Wallfahrten gilt es ebenso, hinsichtlich der Thematik zu untersuchen. Die Begegnungen der Konfessionen waren im Aufnahmegebiet geradezu unumgänglich, wobei die Nutzung evangelischer Kirchen für den katholischen Gottesdienst eine „räumliche Ökumene“ beförderte. Stets war man aber bemüht, einen eigenen Gottesdienstraum oder einen Kirchenneubau zu realisieren.

Die kirchlichen Akteure in diesem Prozess der Ankunft, Aufnahme und Beheimatung stehen im Mittelpunkt des dritten und letzten Kapitels: Priester, Seelsorgshelferinnen und Ordensangehörige, die nach Mitteldeutschland einströmten. Ein Resümee rundet die Arbeit ab.

Um das Thema vernetzt und perspektivisch darstellen zu können, werden verschiedene methodische Ansätze gewählt. Mit der ereignisgeschichtlichen Methode wird deskriptiv der Ablauf der Geschehnisse der Jahre 1945 bis 1955 dargestellt. Anhand der strukturgeschichtlichen Methode werden die Aufnahmegebiete näher in den Blick genommen, um gleichsam komparativ Mentalitäten, „Milieus“ sowie kirchliche und weltliche Eliten zu untersuchen. Die ideengeschichtliche/theologische Methode greift das Thema unter einem anderen Gesichtspunkt auf, wobei besonders theologische Grundüberzeugungen, seelsorgliche Konzepte und deren Auswirkungen auf die Pastoral in einer zunehmend säkularen Umwelt reflektiert und dargestellt werden.