Der Stempelmörder

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Sie trug Stöckelschuhe. Jetzt fehlte nur noch das Jesuskind auf ihrem Arm. Ein Bild für die Götter. Sie sah das rote Licht und setzte sich in die linke Kammer. Jetzt musste der Austausch passieren. Sie das Päckchen, Hasil den Koffer.

Minuten vergingen. Warum dauerte das so lange? Die Jungfrau Maria hatte offenbar viele Sünden auf dem Kerbholz. Sie kam aus dem Beichtstuhl. Alle Augenpaare folgten ihr zum Haupttor. Eine Erscheinung mit Kokain unterm Arm. Ich starrte ihr nach. Vor mir Reinhold. Paradeisers Spion musterte die Beteiligten. Warum in aller Welt musste er heute hier auftauchen?

Das rote Licht am Beichtstuhl brannte immer noch. Dann ging es plötzlich los.

Berlusconi stürmte herein. Er schaute Reinhold, den Helm und die Klorolle an, fluchte und verschwand in die Sakristei. Ein Streit war zu hören, Georg kam herausgerannt. Ich konnte es nicht fassen. Unsere Rückendeckung war im Arsch. Berlusconi hielt sich die Nase und folgte Georg.

Ich verlor langsam den Überblick und wollte hinaus, um Isabel zur Rede zu stellen. Was in aller Welt hatte sie mit Seldschuk zu tun? Warum erledigte sie seine Drecksarbeit?

In meinem Magen rumorte es. Am liebsten hätte ich Reinhold ins Genick gekotzt. Plötzlich ging das Licht am Beichtstuhl aus. Hasil schob den schweren Vorhang zur Seite, rutschte auf der Pudelpisse aus, fiel, rappelte sich auf. Die Ereignisse überschlugen sich.

Luise sah Hasil und fiel in Ohnmacht. Sie schlug mit der Klorolle aufs harte Gestein des Kirchenbodens, das Küchenmesser fiel aus ihrer Tasche. Herberts Helm verrutschte, sodass er nichts mehr sehen konnte. Er stolperte über Luises Pudel und landete ebenfalls auf dem Boden. Der Pudel wollte bellen, konnte aber nur quietschen. Hasil nutzte die Verwirrung und verschwand mit dem Koffer in die Sakristei. Der Pudel riss sich los, und auch mich hielt es nicht mehr in der dritten Reihe. Ich stürmte vor. Reinhold schlug mir die Bibel in den Magen. Dieser Satansbraten. Ich hinkte, fiel aber nicht. Stolperte über Reinholds Bein, strauchelte, trat auf die Hühnerknochen, verlor die Bodenhaftung, machte einen Sprung zum Beichtstuhl und riss den Vorhang mit mir zu Boden, raffte mich schnell wieder auf.

Herbert schrie. Luise hatte einen Weinkrampf und wurde hysterisch. Die Kirche war ein Tollhaus. Ich erreichte die Tür zur Sakristei. Hasil war weg, durch den Hinterausgang entwischt.

In der Zwischenzeit robbte Luise zum Haupttor. Der Pudel saß auf ihrem Rücken. Sie kroch ins Freie. Herbert lag benommen auf dem Boden. Und Georg? – Bestimmt saß er schon im Keller und schälte Kartoffeln. Vermutlich hatte ihm Berlusconi gedroht, Pater Ambrosius alles zu erzählen, Georg hatte zuerst zugeschlagen und sich dann dem Druck der katholischen Kirche gebeugt. Ich musste frische Luft schnappen.

Das Fest draußen stand kurz vor dem Höhepunkt. Karli Molk fuhr mit einem fetten Mercedes auf den Rupertusplatz, selbstverständlich missachtete er dabei die verkehrsberuhigte Zone. Die Donauzwillinge waren bereits auf der Bühne und sangen inbrünstig ein Lied von Österreichs Bergen. Die Leute schunkelten und tranken Wein. Die Stimmung war lustig und friedlich, vor allem die Kinder hatten ihre Freude. Ein kleines Karussell und ein Autoskooter sorgten für zusätzliche Ablenkung. Pater Ambrosius folgte eine Stunde später mit dem Kindergottesdienst.

Ich ging in den Keller. Von Georg keine Spur. Da kam er plötzlich die Treppe herunter, setzte sich auf einen Stuhl und warf eine ungeschälte Kartoffel in einen Eimer voller Wasser. Es spritzte.

»Juri, hast du den Koffer?«

Ich nahm ein Messer und schälte Kartoffeln.

»Hey, Juri! Was ist mit dem Koffer? Wann checken wir aus?«

»Georg, glaubst du, die Kartoffel fühlt sich nackt ohne Schale? Der Koffer ist weg.«

»Was, nackt? Wie – weg?«

»Hasil hat uns verarscht. Du kannst schon mal anfangen, Pudel zu schlachten. Morgen fliegt einer in sein Geschäft. Hast du Isabel gesehen? Sie ist die Jungfrau Maria.« Es spritzte erneut.

Georg verstand überhaupt nichts. »So ein verdammtes Schwein. Isabel? Sie war hier? Das kann ich mir nicht vorstellen. Was sagen wir Seldschuk? Der wird uns kreuzigen und öffentlich am Naschmarkt aufhängen.«

»Seldschuk ist nur eins unserer Probleme. Ich verlier langsam die Übersicht.« Plötzlich hörten wir Schritte: Herbert ohne Helm.

»Juri, Georg, kommt schnell. Reinhold ist tot.« Herbert schnaufte. »Er liegt vor dem Beichtstuhl. Halb nackt. Blut. Überall Blut. Kommt! Kommt schnell!«

Ich folgte nur widerwillig.

Es war ruhig in der Kirche. Totenstille. Noch hatte die Festgemeinde das Unglück nicht bemerkt, die Geräusche des Kirtags drangen nur leise durch die fetten Mauern.

Als ich Reinhold entdeckte, musste ich schlucken. Blut umgab den leblosen Körper. Was für ein Massaker. Du kannst dir das gar nicht vorstellen. Der Tote lag auf dem Bauch. Als ich näher kam, erkannte ich die durchgeschnittene Kehle – und noch etwas: Auf dem Rücken prangte ein Stempelabdruck. Piefke 5. Wie bei Karl Greißler. Es war noch keine halbe Stunde her, da lag ich in der dritten Reihe und Reinhold hatte mir kurz darauf die Bibel in den Magen gerammt. Jetzt weiß ich auch, warum ein guter Österreicher eine Bibel im Nachtkastl hatte.

Es war eine fürchterliche Szenerie. Ich trat näher, um den Toten zu untersuchen. Aus Reinholds Hosentasche ragte ein blutverschmierter Zettel, den ich unauffällig einsteckte. Mir gingen so viele Gedanken durch den Kopf!

Schon wieder wurde ein Bewohner unseres Wohnheims umgebracht. Warum Reinhold? Wer war für diese Schweinerei verantwortlich? Ich schloss seine Augen. Eine Mordwaffe sah ich nicht. Der Mörder brauchte für diesen Schnitt ein scharfes Messer. Schon wieder! Seine Haare waren fettig und voller Schuppen. Genau in diesem Moment dachte ich an seine Unterhosen. Ist das normal? Vor mir liegt ein Toter und ich denke an seine gerippten Unterhosen? Er hatte diese bescheuerte Angewohnheit gehabt, mit einem langen, grauen Liebestöter im Speisesaal zu erscheinen. Auch abends lungerte er in diesem Aufzug in den Gängen. Das und sein Nebenjob als Spion der Polizei würden mir wahrscheinlich in Erinnerung bleiben. Mehr nicht. Ohne diesen Verräter hätte ich Hasil erwischen können. Der war sicher schon mit dem Geld über alle Berge. Und Isabel? Da gab’s eindeutig Erklärungsbedarf, auch für Herbert. Der war gerade mit sich selbst beschäftigt und schlug sich immer wieder mit den Fäusten gegen den Kopf. Hatte Herbert den Mörder gesehen? Reinholds Hose war viel zu kurz und zerknittert, seine Schuhe mehr als ausgelatscht und mit Staub bedeckt. Hundescheiße klebte an der Schuhsohle. Georg kniete neben mir und band mit Reinholds offenen Schnürsenkeln eine schöne, feste Schleife. Wir drei wechselten betretene Blicke.

»Was machen wir jetzt? Wenn uns Paradeiser hier findet, dann steckt er uns in den tiefsten Keller Wiens! Und foltert uns, bis wir alles gestehen.« Ich stand auf und schob den blutverschmierten Zettel tiefer in meine Hosentasche.

Georg kam wieder zu sich. »Was heißt hier wir? Wir beide waren im Keller und haben Kartoffeln geschält. Wo warst du, Herbert?«

Herbert setzte sich auf die Bank. »Es ging alles so schnell. Luise und ich wollten uns die Kirche anschauen. Dann haben wir gebetet. Reinhold hab ich zuerst gar nicht erkannt. Und dann auch noch Hasil. Luise ist ohnmächtig geworden und ich bin über den Pudel gestolpert. Dabei muss ich mir den Helm gestoßen haben. Ich bin zu mir gekommen, und da war er tot. Tot! Einfach tot! Ich konnte nichts mehr machen.«

»War sonst noch wer in der Kirche?«, wollte ich wissen.

»Was glaubst du? Der Heilige Geist?« Herbert wurde lauter. Georg klopfte ihm auf die Schulter.

»Herbert, beruhige dich. Mach jetzt keinen Stress. Wir brauchen einen klaren Kopf.«

Ich hatte eine geniale Idee. Nicht umsonst waren Georg und ich berühmt für unsere Kreativität. Durch das Leben auf der Straße und im Elend von Piefke 5 hatten wir auch das Überleben gelernt. Unsere Erfahrungen aus der Gackerlszene waren jetzt sehr wertvoll.

»Hört mal her, wir sollten das Feld räumen. Lasst uns in den Keller gehen. Wenn dich jemand sieht, Herbert, hier mit der Leiche und ohne Alibi, bist du fällig. Passt auf. Tretet nicht ins Blut.«

Wir flüchteten durch die Sakristei.

Zurück im Keller rannte Herbert nervös im Kreis herum. »Luise. Die habe ich fast vergessen. Ich muss zu ihr.«

Ich konnte gerade noch seinen Arm erwischen und ihn festhalten. »Herbert, hast du nicht verstanden? Denk an Paradeiser und Stippschitz. Mach jetzt keinen Fehler. Sei ruhig.«

»Wie kann ich jetzt ruhig sein?«

»Schau, Herbert, du weißt doch, wir würden dich nie im Stich lassen. Wir sind doch Freunde. Oder? Was meinst du?« Georg nickte. Ich wurde noch deutlicher. »Herbert, pass mal auf. Am besten, du sagst einfach, dass du gesehen hast, wie Hasil Reinhold die Kehle aufgeschlitzt hat. Und dass er ihm noch einen Stempel auf den Rücken gedrückt hat.«

Beide schauten mich an. So viel Kreativität hatte Herbert mir offenbar nicht zugetraut. »Juri, warum sollte Hasil Reinhold ermorden, und dann dieser Stempel? Hasil hatte doch überhaupt kein Motiv?«

»Was weiß ich, was er gegen Reinhold hatte, aber das mit dem Stempel ist klar. Er wollte diesen Mord mit dem im Männerwohnheim in Verbindung bringen. Dreimal darfst du raten, wo Paradeiser zuerst ermitteln wird?«

Georg schlug auf Herberts Schulter. »So, jetzt geh und such deine Luise. Dann sag Berlusconi Bescheid, damit er die Polizei informiert.«

Herbert verließ den Keller. Er würde Hasil sicher nicht belasten. Einen Versuch war es aber wert. Damit Paradeiser nicht auf dumme Ideen kam und uns immer mehr in den Sumpf zog, mussten wir den Verdacht ein wenig variabel gestalten. Das verstehst du bestimmt, oder?

 

»Juri, warst du nicht in der Kirche? Was ist wirklich passiert? Hasil hat doch mit Reinhold nichts zu tun. Verschweigst du mir etwas?« Das Kärntner Urvieh grinste mich an. Sein Schmäh ging mir entschieden zu weit.

»Georg, schäl weiter. Ich habe Reinhold jedenfalls nicht umgebracht. Wo warst du die ganze Zeit? Vielleicht hast du ihn auf dem Gewissen? Du bist erst nach mir in den Keller gekommen. Eine Revanche für euren Streit von gestern Morgen?«

Georg schmunzelte.

Ich reichte ihm den blutverschmierten Zettel, den ich bei Reinhold gefunden hatte.

»Was ist das?«, fragte Georg.

»Ein Erpresserbrief. Schau ihn dir an.«

Georgs Stirn schlug Falten. Er verstand anscheinend nur Bahnhof. »Was soll das? Ich kapier überhaupt nichts.«

In dem Brief stand etwas vom Aufdecken einer Identität, etwas von einer Geldübergabe und von Innsbruck. Mehr konnten wir nicht entziffern. Zu viel Blut. Kein Adressat.

»Isabel kommt doch aus Innsbruck?«

Ich nickte. »Aber du hast einen Drachenflieger-Schnupperkurs in Innsbruck absolviert. Vielleicht wollte er dich erpressen?«

»Juri, hör auf. Es macht doch keinen Sinn, wenn wir uns gegenseitig verdächtigen. Vielleicht war es Isabel? Wer weiß? Paradeiser und Stippschitz werden bald auftauchen. Können wir Herbert trauen?«

Ich überlegte kurz, schüttelte den Kopf, riss Georg den Brief aus der Hand und steckte ihn ein.

Wir stürmten die Stufen hinauf, schlichen zum Kircheneingang und beobachteten durch einen Türschlitz Herbert, Luise und Berlusconi.

Herbert hatte seine Luise gefunden. Sie saß in der ersten Reihe mit einer Bibel in der Hand, stand offenbar kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Auf dem Boden lagen noch immer Reinhold, Herberts Helm und die Klorolle herum. Ich beobachtete den Pudel, wie er das Blut aufleckte. Reinholds Umriss wurde später auf dem steinernen Boden festgehalten. Wenn du mal nach Dornbach kommst, dann geh in die Kirche und schau dir die Markierung an. Ein schauriges Gemälde, bestimmt für die Ewigkeit.

Herbert schöpfte Wasser aus dem Becken und benetzte Luises Stirn. Kaplan Berlusconi wirkte verzweifelt. Er hielt unsere DVD mit dem pornografischen Inhalt in der Hand. Wahrscheinlich wartete er auf Ambrosius, um sie ihm zu übergeben.

Herbert griff nach dem blutverschmierten Helm. »Rufen Sie die Polizei und einen Leichenwagen.« Berlusconi starrte ihn an. »Los, verdammt noch mal, schnell!«

Der Kaplan legte die DVD auf einen Stuhl ganz in der Nähe des Eingangs und rannte hinaus. Wir konnten gerade noch zur Seite springen.

Als wir kurz darauf wieder in die Kirche linsten, zerrte Herbert den Pudel von der Blutlache weg. Luise zitterte. Genau in dem Moment, als Herbert sich um Luise kümmerte, schnappte Georg sich die DVD und wir rannten wieder zurück in den Keller.

*

Zweimal pro Stunde kam ein Mann aus der Küche und holte einen Eimer Pommes. Die Kinder genossen das Fest. Pommes mit Ketchup, Volksmusik, katholisches Rahmenprogramm. Wir hingegen schälten munter weiter, als wäre nichts geschehen. Wir hatten die perfekte Schältechnik entwickelt. Jeden Moment konnte Paradeiser hier auftauchen.

Berlusconi kam in den Keller. »Hört auf, es ist was Schreckliches passiert. Ein Mord in unserer heiligen Kirche! Hören Sie auf, gehen Sie nach Hause. Das möchte ich Ihnen nicht zumuten.«

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen.

Der Rupertusplatz vibrierte. Karli Molk stand auf der Bühne, links und rechts von ihm die Donauzwillinge. Sie schunkelten. Die Besucher wirkten zufrieden. Meine Musik war das nicht, Georg konnte eher was damit anfangen. Auf den Bergen und in den Tälern Kärntens war die Schunkelmusik zu Hause. Aber egal, die Stimmung war gut und wir bahnten uns den Weg durch die Bankreihen. Wir setzten uns an den Rand der Veranstaltung und bestellten ein Achterl Riesling. Die Polizei kam mit Blaulicht. Zwei Wagen. Paradeiser und Stippschitz wurden von Berlusconi empfangen und rannten in die Kirche. Alles wurde abgesperrt, dann kam der Leichenwagen. Herbert und Luise wurden vom Kaplan und dem Chefinspektor begleitet. Die beiden Waldviertler stiegen in ein Polizeiauto und fuhren mit Blaulicht zum Göttlicher Heiland Krankenhaus gleich um die Ecke.

Wir stießen an. Der Riesling war Marke Eigenbau und schmeckte ein wenig nach Marille. Ich schwenkte das Glas, schaute hindurch, steckte meine Nase hinein und genoss das fruchtige Bouquet.

Der Weinberg lag direkt gegenüber der Kirche, der Wein wurde nur am Kirtag und in dem benachbarten Buschenschank ausgeschenkt. Wir freuten uns über die freien Stunden. Das Treffen mit Seldschuk lag noch in weiter Ferne.

Paradeiser und Stippschitz nahmen die Befragungen auf. Sie gingen von Tisch zu Tisch. Einige der Besucher wirkten beunruhigt und fragten die Geistlichen, was passiert sei. Pater Ambrosius besänftigte seine Schäfchen. Auch der Kaplan ging durch die Reihen, machte um uns aber einen großen Bogen.

Wir beobachteten, wie der Leichnam in einem schwarzen Leichensack aus der Kirche getragen wurde. Die arme Sau. Paradeiser kam immer näher.

»Juri, gehen wir? Oder magst mit ihm plaudern?«

»Wir bleiben, sonst fallen wir auf. Bleib ruhig. Außerdem müssen wir uns die DVD anschauen und das Küchenmesser haben wir auch noch nicht gefunden.«

Ich versuchte, entspannt zu wirken, beobachtete, wie die Donauzwillinge sich die Seele aus dem Leib sangen. Plötzlich stand der Chefinspektor mit seinem Kollegen vor uns, sie zeigten uns ihre Marken und verstellten den Blick auf die heile Welt.

Ich musterte Paradeiser. Ich schätzte ihn auf Anfang 50. Im Heim ging das Gerücht um, dass ihm Stippschitz erst im letzten Monat zur Seite gestellt worden war, Auslöser war anscheinend das blutige Gesicht einer Zeugin gewesen. Ich hatte gehört, dass Paradeiser sich die Welt ganz nach seinen eigenen Vorstellungen formte. Passte die Wahrheit nicht, machte er sie passend.

»Wen haben wir denn hier?« Paradeiser grinste. Stippschitz korrigierte den Sitz seiner Pistole. »Meine Lieblingspiefkes. Saufen und hängen hier rum. Das habe ich gern. Und schon wieder ganz in der Nähe eines Mordfalls. Was für ein Zufall.«

Der Chefinspektor hatte so eine Macke wie Georg mit seiner Fliegenklatsche. Er trank gern aus den Weingläsern von anderen und leckte anschließend mit seiner langen Zunge die Tropfen vom Glasrand. Das machte er auch jetzt an jedem zweiten Tisch. Keiner wollte mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Georg schlug normalerweise in so einer Situation zu, aber würdest du einen Paradeiser schlagen?

Wir schauten wieder auf die Tischplatte. Das hatte schon einmal geholfen.

»Habt ihr was Ungewöhnliches gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Karli Molk macht eine sehr gute Figur zwischen den Donauzwillingen. Der Wein schmeckt heute besonders gut.« Ich konnte es gar nicht glauben, dass mir in dieser Situation solch belangloses Zeug aus dem Mund schoss. Die beiden setzten sich an unseren Tisch.

Stippschitz saß mir gegenüber und beugte sich nach vorn. »Juri Sonnenburg. Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Das ist der zweite Mord innerhalb von zwei Tagen. Sie und ihr Piefkekumpel waren in beiden Fällen in unmittelbarer Nähe. Kommt, sagen Sie mir doch, was soll ich in diesem Fall denken? Was würden Sie denken?«

Das roch nach einer Fangfrage. »Wir haben Kartoffeln geschält. Nicht mehr und nicht weniger. Fragen Sie doch Kaplan Berlusconi. Der kann es Ihnen bestätigen, Herr Inspektor.«

Stippschitz lag schon halb auf dem Tisch, als sich Paradeiser zu Wort meldete. »Denkt daran, was ich heute Morgen gesagt habe. 316 und 317. Denkt darüber nach. Wenn ihr nicht kooperiert, dann werden wir andere Methoden anwenden. Darauf könnt ihr euch verlassen.« Er stand auf und leerte mein Glas, schleckte daran herum und ging zum nächsten Tisch.

Es war schon alles ein wenig schizophren. Hier ein den Umständen entsprechend angenehmer Nachmittag auf dem Dornbacher Kirtag und nur ein paar Meter weiter ein Mord im Gotteshaus. Die Polizei hatte sich wohl mit Pater Ambrosius darauf geeinigt, keine Unruhe zu stiften, die Gäste durften nicht in Panik geraten. Karli Molk und die Zwillinge besangen die schöne blaue Donau, machten Scherze und versuchten, über die Bühne zu tanzen, so gut sie es halt konnten. Die Sonne strahlte. Trotz des fürchterlichen Mordes blieben alle ruhig. Die Situation entspannte sich vollends in dem Moment, als Polizei und Leichenwagen den Rupertus­platz verließen.

Herbert hatte das Verhör noch vor sich. Er war nun in zwei Mordfälle verwickelt. Paradeiser konnte sicher eins und eins zusammenzählen. Herbert würde sich aus der Schlinge befreien und hoffentlich Hasil in Verdacht bringen, womit der Kofferdieb ebenfalls auf Paradeisers Radar erscheinen musste. Es gab also genügend Lösungswege für den Chefinspektor.

Meine größte Sorge galt etwas anderem. »Was machen wir mit Seldschuk? Und stellen wir ihn zur Rede wegen Isabel?«, wollte ich von Georg wissen. Heute Abend mussten wir den Koffer am Donaukanal übergeben. Ich roch den Ärger.

»Wir schlagen ihm vor, dass wir das Geld bis Ende der Woche auftreiben. Wir müssen Hasil finden. Und das mit Isabel schlag dir aus dem Kopf. Uns kann es doch egal sein, wie diese Frau ihren Lebensunterhalt verdient. Sie schneidet Hunden im Hundeknast die Haare. Was glaubst du? Die tut alles, um aus ihrem Elend herauszukommen. Mach dir doch nichts vor. Vergiss sie endlich.«

Plötzlich stand Pater Ambrosius vor uns. »Kaplan Berlusconi war sehr zufrieden mit Ihnen. Ich werde dem Arbeitsmarktservice eine positive Mitteilung schicken. Nächsten Monat hat unsere Buschenschank geöffnet. Was halten Sie davon, wieder bei uns zu arbeiten? Ich werde für Sie beten. Haben Sie noch einen Wunsch?«

Was konnten wir uns wünschen? Einen Koffer voller Geld? Ich hatte da eine Idee. »Pater Ambrosius. Sie kennen doch die Initiative ›Sackerl fürs Gackerl‹?« Der Pater nickte. »In unserer Piefke-5-Funktion helfen wir dem Wiener Magistrat, indem wir Spenden sammeln und Info-Blätter verteilen. Sie könnten uns im Kampf gegen das herrenlose Gackerl unterstützen, wenn sie uns ein paar Zeilen schreiben würden. So was wie: Die katholische Kirche fördert das Sammeln von Spenden für eine saubere Stadt Wien. Zusätzlich erwerben Sie mit dieser Spende eine Ausgabe des ›Penners‹. Durch den Kauf helfen Sie unseren armen Mitbürgern auf die Beine. Gott und der Papst segnen Sie!«

Pater Ambrosius war begeistert und wir erhielten endlich eine kirchliche Legitimation, um die Gackerl­szene aufzumischen.

Der Kirtag ging zu Ende. Um vier räumten die Ersten ihre Stände zusammen, der Flohmarkt war ein voller Erfolg gewesen. Karli Molk und die Donauzwillinge beendeten ihre Reise durch die heile Welt und gaben Autogramme.

Paradeiser würde wieder von vorn anfangen müssen, denn die Ermittlungen im Fall Karl Greißler gingen allem Anschein nach ebenfalls nur schleppend voran. Wenn sie eine Spur gehabt hätten, dann hätte uns Herbert als Leiter der Soko sicher als Erstes informiert. Jetzt ein weiterer Mord. Wieder ein Heimbewohner.

Wir hatten unterdessen genug beobachtet und folgten Pater Ambrosius hinein, wo er uns das Gackerlschreiben aufsetzte. Das Pfarrhaus ähnelte einem Palast, noch nie hatte ich so eine Einrichtung gesehen – das Kaiserschloss Schönbrunn war ein Scheiß dagegen. Dabei handelte es sich bei der Pfarrei Dornbach nur um einen kleinen Fleck im Riesenreich der katholischen Kirche.

Ich ließ mich zurückfallen. Georg folgte dem Pater in dessen Arbeitszimmer. An den Wänden hingen barocke Madonnenbilder, die Jungfrau Maria mit dem kleinen Kerl im Arm. In der Bibliothek gab es alle möglichen Schinken in unterschiedlichsten Sprachen. Ein gebildeter Mann, dieser Ambrosius.

In der Ecke stand ein Fernseher mit einer DVD-Anlage. Das erinnerte mich wieder an Kovac und dieses Überwachungsvideo. Unser Freund zitterte gestern am ganzen Leib. Hatte er Angst? Aber warum? Vor Kleindienst? Allein schon der Gedanke, dass wir morgen wieder in der Sicherheitswache beim Oberinspektor in Frohsinn arbeiten müssten, verursachte mir ein mulmiges Gefühl im Magen. Der Mann war furchtbar.

Ich überlegte nicht lange und legte die DVD ein. Dieses Mal klappte es auf Anhieb. Jetzt konnte ich verstehen, warum der Kaplan außer sich war.

Mir standen die Haare zu Berge. Die Videoansicht gliederte sich in zwei Bereiche. Auf der linken Seite sah ich einen Garten mit Büschen und Bäumen und das Eingangstor konnte man deutlich erkennen, auf der rechten stand ein großes Bett, auf dem eine Frau lag, mit gespreizten Beinen, gefesselt und mit einer Augenbinde. Der Mann über ihr bewegte sich sehr schnell in rhythmischen Bewegungen auf und nieder. Dann schlug er sie mitten ins Gesicht, spuckte und schlug wieder zu. Mir wurde ganz übel. Was für eine Sauerei!

 

»So, meine Herren.«

Ich drückte die Auswurf-Taste und versteckte die DVD hinter meinem Rücken. Hatte er was gesehen? Hoffentlich nicht!

»Hier, nehmen Sie.« Er wedelte mit dem Schreiben. »Ich hoffe, Sie werden damit glücklich und erfolgreich sein.«

Ohne zu zögern, verließen wir Pater Ambrosius.

*

Georgs Rucksack hatte merklich an Volumen zugenommen. Auf dem Platz vor der Kirche standen Paradeiser und Stippschitz. Gestresst wirkten sie nicht. Warum auch? Ihre Haltung erklärte die Tatsache, dass die Aufklärungsquote der Wiener Mordkommission angeblich unter 30 Prozent lag. Ich machte mir ganz andere Sorgen.

Georg staunte nicht schlecht, als er den Inhalt des Videos erfuhr. »Verdammt! Das riecht nach Problemen.«

Georg hatte recht. Das war keine leichte Kost. »Wir müssen handeln. Morgen werden wir uns mit Kovac was überlegen.«

»Lass die Finger davon, Juri. Kleindienst ist ein Kaliber zu hoch für uns. Das mache ich nicht mit. Lass uns die DVD vernichten.«

Ich schwieg.

Unser Weg führte zur nächstgelegenen Straßenbahnhaltestelle. Das Ziel: das Schottentor gleich neben der Universität an der Ringstraße.

Österreich war mein Paradies. Etwas hatte ich allerdings herausgefunden: Es flossen hier weder Milch noch Honig. Und eine Straßenbahnfahrt im 43er war immer ein Erlebnis.

Uns gegenüber saß ein junger Wiener mit einem Irokesenschnitt. Er pöbelte alle an, die ihn anschauten. »Fucking people, you are dead! Fuck you! Was schaust mich an? Schaut nicht so, ihr fucking people.«

Dann hielt er sein Handy ans Ohr. »Du, kennst du mich? Ich bin Roman. Weißt du noch? Ich bin auf den Fotos, die Anna dir gezeigt hat. Anna hat mir gesagt, ich gefalle dir. Gefalle ich dir? Wenn ja, können wir uns doch auch sehen. Ich weiß nämlich, was ich will im Leben. Was machst du heute?«

Ich schaute Georg an. »So wirst du auch mal enden. Mit einem Irokesenschnitt und wirres Zeug faselnd.«

Georg grinste.

Der Junge schaute uns an. »Fucking people. Was wollt ihr?« Am Gürtel stieg er aus. Der Gürtel war eine breite Autoschneise, die sich quer durch die Stadt zog. In der Nacht konnte man hier die unterschiedlichsten Charaktere studieren. Die Leute der Programme Tschuschen 6, Atatürk hab 8 und Piefke 5 waren hier zahlreich vertreten.

Georg und ich machten selten die ganze Nacht durch. Wer in der Meldemannstraße mehrere Nächte in Folge nicht eincheckte, der verlor den Anspruch auf sein Zimmer. Der »gute Österreicher« schwebte wie ein Damoklesschwert über uns.

Georg hatte viele Macken. Es war eine Freude, ihn in allen möglichen Lebenssituationen zu beobachten. Er zappelte, weil er es nicht erwarten konnte, aus der Bim auszusteigen. Die Ungeduld kompensierte er mit Kaugummikauen. Wenn er keinen hatte, suchte er unter den Tischen oder hier in der Straßenbahn auf den Sitzen. Manchmal fand er einen relativ frischen und steckte ihn in den Mund.

Am Schottentor öffnete Georg seinen Rucksack. Würste, Schinken, Käse, Brot und zwei Flaschen von einem Burgenländischen Pinot noir waren die Beute.

»Ich hab mir gedacht, dass wir nach dem Treffen mit Seldschuk ein gutes Tröpfchen und was für den Magen gebrauchen könnten.« Das Kärntner Urvieh verfolgte einen pragmatischen Ansatz. »Juri, wir haben jetzt noch eine Stunde. Entweder wir überfallen eine Bank, oder wir erpressen das Geld von unseren Gackerlbesitzern. Ich bezweifle jedoch, dass sie diese Summen zahlen. Lieber tragen sie das Gackerl in der Hand nach Hause.«

Wir gingen entlang der Ringstraße in Richtung Schottenring. Hier an der Prachtstraße Wiens hatte vor über hundert Jahren eine massive Stadtmauer gestanden. Wir kauften bei einem Kolporteur eine Tageszeitung und setzten uns vor die Wiener Börse.

Georg öffnete eine Flasche mit einem Korkenzieher. »Hm, koste mal. Herrlich, dieses Tröpfchen.«

Ich nahm einen Schluck und steckte den Korken zurück in die Flaschenöffnung. »Schau mal, Georg, was da steht.« Mir fielen die Zahlen wieder ein. 316 und 317. Paradeiser hatte sie so eindringlich betont, dass sie sich mir eingebrannt hatten.

Ich las laut vor:

Piefkes vermisst

Seit Einführung des Programms Piefke 5 verschwanden 315 Piefkes. Das Innenministerium veröffentlichte eine Liste mit Namen für die Angehörigen. Die Polizei hält es für wahrscheinlich, dass die Vermissten nie wiederauftauchen werden. Man müsse mit dem Schlimmsten rechnen.

Mir stockte der Atem. »Georg, 315 Piefkes werden vermisst. Wir sind die Nummern 316 und 317! Paradeiser kennt diese Liste. Das war eine Drohung!«

Georg nahm einen Schluck aus der Flasche und schwieg.

Widerwillig bewegten wir uns in Richtung Schwedenplatz, es war schweineheiß. Dort angekommen, beobachteten wir die Touristenmassen. Volle Eislokale gehörten in dieser Jahreszeit zum Stadtbild, genau wie die gefüllten Schanigärten. Wir wechselten die Straßenseite und stiegen zum Donaukanal hinab.

Seldschuk und sein Cousin Akgün waren pünktlich. Den Dritten kannte ich nicht. Sie würden kurzen Prozess machen und uns in den Kanal werfen.

Seldschuk strahlte Autorität aus. Mit seinem breiten, kurz geschorenen Schädel könnte er Rausschmeißer in einer Disco sein. »Hi, Juri. Georg. Schön, euch zu sehen. Wir kommen gerade vom Markt.« Seldschuk musste sonntags arbeiten, um alles für Montag vorzubereiten. »Habt ihr den Koffer?«

Wir versuchten, vom Thema abzulenken. Ich hatte mir fest vorgenommen, Isabel nicht zu erwähnen. »Seldschuk, hast du Paradeiser gesehen?«

»Nein, warum?« Er hatte offenbar noch nichts vom tragischen Tod Reinholds gehört.

Georg klärte ihn auf. »Reinhold ist tot. Er wurde umgebracht. In Dornbach. Du kanntest ihn doch, oder?«

Seldschuk nickte. »Was ist passiert? Seid ihr okay?«

»Jaja, alles in Ordnung. So genau können wir das nicht sagen. Er starb nach dem gleichen Muster wie Karl Greißler: die Kehle durchgeschnitten und am Rücken eine Botschaft.«

»Was für eine Botschaft?«

»Der Mörder hat ›Piefke 5‹ auf die Haut gestempelt. Wahrscheinlich wieder der Stempelmörder.«

»Piefke 5? Warum?«

Seldschuks Cousin meldete sich zu Wort. »Es ist offensichtlich eine weitere Botschaft. Der erste Tote hatte auch einen Stempel am Rücken.«

»Entweder will jemand Rache an euch üben oder irgendwer will euch den Mord anhängen. Oder der Täter ist ein stolzer Piefke 5«, überlegte Seldschuk und schaute mich an.

Der dritte Mann in Seldschuks Gefolge stellte sich als sein Bruder Emre heraus. Er hatte nach und nach seine Familie nach Wien geholt, vorher waren sie in ganz Europa verstreut gewesen: der eine in Berlin-Kreuzberg, der andere in Brüssel, und jetzt arbeiteten sie alle gemeinsam am Naschmarkt. Ein kleines Familienunternehmen.

»Seid ihr in die Sache verwickelt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir saßen im Keller und haben Kartoffeln geschält. Die Polizei hat alle Besucher des Kirtags befragt. Herbert war in der Kirche, als es passierte.«

Seldschuk wurde jetzt ein wenig nervös. »Es passierte in der Kirche? Was ist mit der Jungfrau Maria? Habt ihr sie gesehen?«

Wir schauten zu Boden.

»Was ist? Sagt schon! Geht es ihr gut? Sagt schon!«

»Sie ist vor dem Mord in die Kirche gekommen. Die Übergabe ist gut über die Bühne gegangen. Dann war sie wieder weg.«

Er regte sich ab. »Wo ist der Koffer?«

Georg kratzte sich am Kopf. In mir machte sich ein unbehagliches Gefühl breit. Wir mussten Farbe bekennen.

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