Der Stempelmörder

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»So, meine beiden Freunde. Dann blast mal rein.«

Das war auch so eine Neuerung, die er eingeführt hatte. Wenn das Gerät mehr als 1,0 Promille zeigte, musste der Bläser das Heim wieder verlassen.

Wir hatten für diesen Fall eine spezielle Atemtechnik entwickelt: Beim Hyperventilieren, also schnellem Ein- und Ausatmen, zeigte das Gerät einen viel geringeren Wert an. Wir bliesen.

Ich erreichte 0,4 Promille und Georg 0,9, wir lagen also gerade noch darunter.

Dann mussten wir jeweils drei Fragen beantworten. Dieser Scherz hing mit Piefke 5 zusammen, quasi eine Vorbereitung auf den Einbürgerungstest.

»So, Juri, deine Fragen: Wie viele Liter sind ein Doppler?«

Das war einfach. »2.«

»Richtig. Das war ja nicht schwer. Jetzt die zweite Frage: Wo wurde der Mörder unserer Sisi geboren?«

Das war nicht ganz so leicht, aber ich wusste die Antwort. »In Paris.«

Die dritte Frage war meist die schwerste. »Was liegt bei einem guten Österreicher im Nachtkastl?«

Ich hatte keine Ahnung. Georg erwähnte vor ein paar Tagen, dass er in seiner alten Wohnung immer eine Gaspistole und Kondome in der obersten Schublade aufbewahrte. »Eine Pistole und Kondome.«

Georg grinste.

Franz verzog die Augenbrauen. »Na ja, da müssen wir noch ein wenig üben. Im Nachtkastl eines guten Österreichers liegt die Bibel. Aber ihr seid ja hier zum Lernen.«

Georg hatte nicht so viel Glück und lag dreimal knapp daneben. »Damit habt ihr den heutigen Test nicht bestanden und müsst morgen nachsitzen. Noch vor eurem Dienst kommt ihr in den ersten Stock zur Guten-Österreicher-Schulung. So, jetzt noch eine Unterschrift, und dann ab ins Zimmer gegenüber. Dort sitzt Herr Inspektor Stippschitz. Er hat ein paar Fragen zum Mord letzte Nacht.«

Auf dem Gang sahen wir uns an und gingen lautlos die Stiegen hinauf in den vierten Stock.

Herbert stand vor seinem Zimmer. Sein Helm glänzte im schummrigen Licht der 25-Watt-Birne. »Wart ihr schon bei Stippschitz?«

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihm die Macht ein wenig zu Kopf gestiegen war. Anders konnte ich sein Gehabe nicht deuten.

»Herbert, was ist los?«, fragte Georg. »Gibt es Neuigkeiten? Habt ihr den Mörder schon gefasst?«

»Lass das Gequatsche. Was habt ihr mit Luise gemacht? Sie hat mich heute Nachmittag völlig aufgelöst angerufen. Das muss ein Ende haben.«

Georg schob Herbert in sein Zimmer und ich schloss hinter uns die Tür. »Hör mal gut zu, mein Freundchen. Du hast jetzt eine sehr wichtige Aufgabe. Wir werden dich voll und ganz unterstützen. Aber denk auch immer daran, dass Luise einen Pudel hat, den unser Freund Hasil gern verwerten möchte.« Georg drückte Herbert mitsamt seinem Helm gegen die Wand. »Du bist dafür verantwortlich, dass niemand unser Zimmer durchsucht. Weder Paradeiser noch Stippschitz oder Franz. Ist das klar? Ist das klar?« Den letzten Satz flüsterte Georg.

Ich spielte den guten Cop. »Herbert, denk an unsere gemeinsame Zeit im Waldviertel. Haben wir dich jemals im Stich gelassen? Glaubst du wirklich, wir könnten deiner Luise oder ihrem Pudel etwas antun? Wir brauchen nur etwas Privatsphäre. Georg hat eine regelrechte Allergie gegen die Obrigkeit und wir können uns die Medikamente nicht leisten.«

Herbert schaute Georg an. »Stimmt das mit der Allergie, Georg?«

»Klar stimmt das. Ich bekomme riesige Pusteln, die dann platzen und eitern.« Georg streichelte Herberts Helm.

Der Soko-Leiter atmete tief durch. »Na, warum habt ihr beide das nicht gleich gesagt. Wir sind doch Freunde, die sich gegenseitig helfen. Paradeiser und Stippschitz haben viel damit zu tun, jeden im Haus zu verhören. Ihr habt sicher keine Lust, mit ihnen zu reden. Aber eine schlechte Nachricht hab ich leider noch. Sie werden auch euer Zimmer durchsuchen. Die Mordwaffe haben sie bis jetzt noch nicht gefunden. Vielleicht kann ich da was machen.«

»Gut so. Das ist unser Herbert, wie wir ihn kennen«, freute sich Georg.

Der Arme schaute wieder freundlicher drein. Wir klopften ihm zum Abschied auf die Schulter und verließen sein Zimmer.

Der Gang wirkte endlos. Wie in einem Gefängnis. Rechts und links die Zellen. An der Decke eine nackte Birne. Das vorletzte Zimmer links gehörte uns. Wir durften es nicht verschließen. Das war strengstens verboten – Regel Nummer sieben der Hausordnung.

Der Sack, den wir am Morgen auf den Gang geworfen hatten, war verschwunden.

Georg öffnete das Fenster, ich setzte mich an den Tisch. »Ich freu mich schon auf morgen. Der Pater hat seinen großen Tag. Dann wird die Jungfrau Maria erscheinen und wir werden endlich ein paar Scheine mehr in der Tasche haben. Es geht aufwärts.«

Georg raunzte. »Juri, langsam verliere ich den Überblick, wer hier wen erpresst. Du hast einen ganz schön schlechten Einfluss auf mich. Wir sollten vielleicht wirklich den Koffer mit Geld nehmen und abhauen.«

Dann holte ich die DVD aus dem Rucksack, die hatte ich bis dahin verdrängt. »Was machen wir damit? Hier im Heim haben wir keine Möglichkeit, sie anzuschauen. Irgendwie bin ich schon neugierig.«

Georg starrte auf die Scheibe. »Wir können sie doch vernichten und einfach vergessen. Was kümmert uns dieses Überwachungsvideo?«

»Willst du denn nicht wissen, was da so Geheimnisvolles drauf ist? Wir sollten uns das Video zumindest ansehen.«

Er wirkte unsicher. »Nein. Vielleicht ist das gar keine gute Idee. Du und Kovac zieht mich in keine weitere Geschichte. Ich werde ein guter Österreicher.« Er fummelte an Seldschuks Päckchen herum.

Ich riss es ihm aus der Hand. Ob das wirklich Drogen waren? Ein ungutes Gefühl durchdrang mich. »Wir könnten doch beim Pater in Dornbach die DVD abspielen? Dann sehen wir, was drauf ist.« Ich schaute auf die Kommode. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich sprang auf und öffnete die halb verschlossene Schublade und schaute den Kärntner entgeistert an. »Ich glaube, da will uns jemand was anhängen.«

Das Küchenmesser war weg.

Sonntag:
Dornbacher Kirtag in Wien Hernals

Piefke 5 hieß Sonntagsarbeit. Die Fünftagewoche war den guten Österreichern vorbehalten. Ich gehörte von Geburt an zu den Langschläfern. Egal wo, egal wann und egal in welcher Position. Und sogar heute, da die meisten ausschlafen konnten, mussten wir um sechs aufstehen. Die Stockbetten waren nicht gerade bequem. Ich drehte mich mehrmals um die eigene Achse, klammerte mich ans Kopfende, streckte mich. Dann erst konnte der Tag beginnen.

Draußen auf dem Gang war die ganze Nacht viel Betrieb. Die meisten im Männerwohnheim litten unter Schlafstörungen. Sie wanderten hin und her, führten Selbstgespräche, lauschten an den Türen. Den Heimbewohnern durften keine Schlaftabletten verschrieben werden. Selbstmordgefahr. Die lag angeblich im Heim erheblich über dem Wiener Durchschnitt.

Karl Greißler war dieses Jahr schon der fünfte Tote. Drei von ihnen hatten sich in ihren Zimmern erhängt, einer sprang vom Dach. Einfach so. Wahrhaft tragisch. In der Regel wurde der Freitod bescheinigt. Hinterfragt wurde nichts. Bei uns war der Sensenmann Stammgast. Er fühlte sich wohl im Männerwohnheim in der Meldemannstraße.

Der Wecker klingelte erbarmungslos. Meine Füße berührten den Boden. Ich gähnte. Wie gelähmt saß ich da, die Finger in die Matratze gekrallt. Dann stand ich auf, streckte mich und beobachtete Georg.

Er lag mit dem Kopf auf seiner knallroten Fliegenklatsche. Andere Heimbewohner bekamen von Franz ein Kuschelkissen, Georg kuschelte mit einer herzförmigen Klatsche. Überall an der Wand waren kleine Blutflecken zu sehen. Tote Gelsen. Je nachdem, wie der gefüllte Bauch der feingliedrigen Wesen platzte, spritzte das Blut. Zufrieden legte Georg dann das rote Herz unter seinen Kopf und schlief ein.

Wenn ich in der Nacht aufstand, um zu pinkeln, erwischte ich ihn oft, wie er im Schlaf mit seiner Zunge am Plastikgitter der Klatsche leckte.

Schöne Geschichte: Die Gelse saugte unser Blut, Georg erschlug sie, naschte von dem roten Saft, dazu einen Flügel oder ein kleines Beinchen. Ein leckerer Kreislauf.

Das Leben zu zweit in einem winzigen Zimmer war nicht angenehm. Die Privatsphäre hielt sich in Grenzen. Unsere zunehmende Unzufriedenheit als Piefke 5 mündete in letzter Zeit immer öfter in Raunzen und Jammern, was das Ganze nicht erträglicher machte. Dann der ständige Hunger und die allgegenwärtigen Kontrollen.

Georg, als Kärntner Urvieh, war es von zu Hause gewohnt, mit einer Großfamilie in einem Raum zu schlafen. Während die Touristen ihre Wohnräume beschlagnahmt hatten, waren sie bei ihm daheim zusammengerückt. Auch das gemeinsame Essen aus einem Topf gehörte für ihn zur Routine.

Ich dagegen sehnte mich nach mehr Freiraum. Aber ich wollte mich nicht beschweren. Andere Zwangsgemeinschaften im Heim endeten in Streit, Chaos, Freitod oder Mord.

Georg gähnte, schrie die Müdigkeit aus seinen Knochen und kletterte aus dem oberen Bett. »Guten Morgen, Juri. Ein neuer Tag bricht an. Mein Gefühl sagt mir: Es geht aufwärts. Heute wird uns die Jungfrau Maria erscheinen. Dann werden wir unsere Sachen packen und ins Hotel ziehen.«

Ich dagegen hatte seit gestern Abend kein gutes Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Und wie so oft in der Vergangenheit war das ein schlechtes Omen.

In der Nacht zuvor hatten wir das ganze Zimmer auseinandergenommen. Unsere Klamotten lagen kreuz und quer auf dem Boden. Das Küchenmesser war spurlos verschwunden. Eigentlich konnte es uns egal sein, weil wir mit dem Mord an Karl nichts zu tun hatten und Georg in weiser Voraussicht mein Blut abwischte. Blöderweise hatte der Stempelmörder ein Küchenmesser benutzt. Die Polizei konnte sicher auf gute Methoden zurückgreifen, um mein Blut an der Klinge oder Georgs Fingerabdrücke am Griff nachzuweisen. Wer weiß, welches Blut noch daran klebte?

 

Ich dachte an Paradeiser. Ob ihn die Wahrheit wirklich interessierte? Ich zweifelte daran. Er wollte den Fall bestimmt so schnell wie möglich zu den Akten legen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass ihm wenig Personal zur Verfügung stand, deshalb richteten sie gern Sokos ein, um mithilfe von Zivilisten an weitere Informationen zu gelangen. Ganz legal war das nicht, aber wer fragte schon danach?

Lange konnten wir Paradeiser nicht mehr aus dem Weg gehen. Piefke-5-Teilnehmer waren überall registriert und mussten sich mehrmals am Tag entweder im Heim oder bei den zuständigen Arbeitsstätten melden. Mein Instinkt sagte mir klar und deutlich: Legt euch nicht mit ihm an. Der Mann bringt nur Probleme, und die können wir Piefkes überhaupt nicht brauchen.

Dazu zählte auch das Nachsitzen. Georg und ich gehörten zu den Kandidaten im Heim, die die Aufnahmeprüfung zum guten Österreicher nie schaffen würden. Fast jede Woche saßen wir hier gemeinsam im ersten Stock und wurden von Franz geschult. Manchmal konnte er einem leidtun.

Auch heute kam er mit schwarzen Aktenordnern schwer beladen in den Schulungsraum, stellte sich vor die große grüne Tafel und holte tief Luft. »Heute wird euch Chefinspektor Paradeiser schulen.«

In meinem ganzen Leben sind meine Gesichtszüge noch nie so abrupt in sich zusammengefallen. Meine Stirn berührte sozusagen mein Kinn. Georg ging es offensichtlich nicht besser.

Da wurde die Tür mit voller Wucht aufgerissen. Der Windstoß wirbelte meine Locken durcheinander.

Paradeiser schnappte sich die Kreide und schrieb mit Großbuchstaben: GRÜSS GOTT an die Tafel. »Das sind die beiden wichtigsten Worte, die ihr euch unbedingt merken solltet. Ich bin ein guter Österreicher. Quasi ein Bilderbuchösterreicher. Von mir könnt ihr euch eine Scheibe abschneiden.«

Wir schauten Hilfe suchend zu Franz, der den Raum fluchtartig verließ.

»Wo sind eure Augen? Hier spielt die Musik!«, rief Paradeiser. Dann setzte er sich aufs Lehrerpult und beugte sich zu uns in der ersten Reihe vor. »Wer von euch ist Georg?«

Ich atmete tief durch. Georg hob zitternd die Hand.

»Wer hatte ein Motiv, Karl umzubringen? Hattest du eins?«

Georg schüttelte den Kopf.

»Karl leitete den Drachenflieger-Schnupperkurs, bei dem deine Frau starb. Du hast ihn wiedererkannt? Warum solltest du dich nicht an ihm rächen?«

»I-ich ha-hab ihn n-nicht erm-mordet«, stotterte Georg.

»Das kann ich bestätigen«, unterstützte ich ihn mit fester Stimme.

Der Chefinspektor nahm mich ins Visier. »Juri Sonnenburg. Du willst also ein guter Österreicher werden? Ein guter Österreicher sagt nicht nur ›grüß Gott‹, sondern lebt den österreichischen Traum. Und das bedeutet nicht, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Nein, ganz und gar nicht. Das bedeutet zu beichten, wenn es Zeit ist, und die Sünden auf den Tisch zu legen, um reinen Gewissens seinem Gegenüber in die Augen schauen zu können. Kannst du mir in die Augen schauen?«

Ich wollte nicht, aber es war ein Reflex und ich sah auf die Schreibtischplatte vor mir.

»Siehst du, Piefke Sonnenburg. Du hast kein reines Gewissen. Genau wie dieser Kärntner.«

Auch Georg schaute auf seine Tischplatte.

»Der Stempel war eine bescheuerte Idee, aber ich habe es gleich durchschaut. Während wir hier sitzen, wird euer Zimmer von Inspektor Stippschitz durchsucht. Und glaubt mir, er findet was. Was auch immer.«

Das Gewitter verzog sich langsam, aber sicher. Ich blickte zu der großen runden Uhr, die über der Tür hing, und erwartete die Pausenklingel.

»Ich werde euch beobachten. Wenn euch was einfällt, dann meldet euch. Ich bin ja kein Unmensch.« Paradeiser klatschte in die Hände, nahm sich ein Stück Kreide und schrieb die Zahlen 316 und 317 an die Tafel. »Das ist eure Hausaufgabe. Merkt euch diese Zahlen!«

Stippschitz öffnete die Tür und schüttelte kurz den Kopf.

Ich saß schweißgebadet auf meinem Stuhl, als Paradeiser den Raum verließ. »Jetzt stehen wir auf seiner Liste.«

Georg schwieg.

Für ein ausgiebiges Frühstück war jetzt keine Zeit. Wir verließen den Schulungsraum und trafen Herbert. Er lief Streife, dabei lächelte er so komisch. »Juri, auf mich kannst du dich verlassen. Eine Hand wäscht die andere. Luise und ich werden heute unseren freien Tag in Dornbach verbringen. Wir freuen uns schon auf Karli Molk und die Donauzwillinge.«

»Herbert, bitte geh weiter«, wies ich ihn schroff zurück.

*

Um neun Uhr begann unser Job in Dornbach, einem kleinen Bezirksteil unweit des Wienerwaldes. Der Kirtag fand einmal im Jahr statt: eine Kombination aus Jahr- und Flohmarkt. Für das Kulinarische war die Pfarrei zuständig, den Wein lieferte der eigene Weinberg. Früher, zu Kaisers Zeiten, kamen die reichen Wiener zur Sommerfrische in diese Gegend. Heute war vom alten Glanz nicht mehr viel übrig. Die Schrammelmusik gehörte einst zu Dornbach wie die Heurigen zu Grinzing. Ein Schrammeldenkmal unweit der Kirche zeugte von dieser alten Tradition. Die Pfarrkirche am Rupertusplatz hatte schon über 500 Jahre auf dem Buckel, sah aber gar nicht so alt aus. Man musste ihr zwischendurch einmal ein recht hübsches Barockgewand verpasst haben, aber das war längst wieder durch mehrere architektonische Änderungen verunstaltet worden.

Uns war das egal. Wir packten Seldschuks Päckchen und die Überwachungsvideos von Kovac ein und begaben uns zur nächsten U-Bahn-Station. Per U- und Straßenbahn brauchten wir fast eine Stunde bis Dornbach. Für die Fahrt zur Arbeit erhielten wir spezielle Fahrscheine, sie berechtigten uns nur zu der Hin- und Rückfahrt. Du wirst dich jetzt fragen, was wir da draußen am Rande der Stadt hackeln mussten. Pater Ambrosius, der Dornbacher Pfarrer, hatte uns bei der Piefke-5-Leitung im Arbeitsmarktservice als Küchenhilfen angefordert. So billige Kräfte konnte sich der Pater nicht entgehen lassen.

*

Der Rupertusplatz war klein und verkehrsberuhigt und lag mitten in Dornbach. Im Winter standen hier ein paar jämmerliche Glühwein-Buden, und wenn es richtig kalt wurde, luden die Dornbacher Pfadfinder zum Eislaufen auf einer künstlichen Eisfläche ein. Aber heute brannte die Sonne unbarmherzig auf die Heurigenbänke und die vielen schmalen Holztische. Vier Buden sorgten für Schmankerl und den notwendigen Alkoholpegel.

Ambrosius’ Sekretär, Kaplan Luigi Berlusconi, empfing uns am Eingang der Kirche. »Herr Sonnenburg und Herr –«

Georg kam ihm zuvor. »Sagen Sie einfach Georg zu mir.«

»Also, lieber Herr Sonnenburg und lieber Georg. Ich freue mich, dass Sie uns als zukünftige gute Österreicher unterstützen werden. Ich denke, Pater Ambrosius wird für Sie ein gutes Wort bei den Behörden einlegen. Sie sind doch so nette Kerle.« Der Kaplan betatschte uns ganz zart mit seinen Fingerspitzen.

Ein widerlicher Typ, dachte ich mir.

»Darf ich Ihnen jetzt Ihren heutigen Arbeitsplatz zeigen? Kommen Sie. Kommen Sie. Hier entlang.«

Wir folgten ihm zum Nachbargebäude ins Pfarrhaus, hinunter in den kühlen Keller, in einen Raum ohne Fenster. Es war eine notdürftig eingerichtete Küche mit einem alten Holzofen, einem großen Tisch, zwei Sesseln und einem Schrank mit Geschirr. Die 20 Zehn-Liter-Eimer mit Kartoffeln hätte ich fast übersehen.

»So, meine Lieben. Eure Aufgabe für den heutigen Tag ist es, die von Gottes Gnaden erzeugten Früchte unserer Erde zu schälen und daraus Pommes frites entstehen zu lassen. Wir erwarten heute viele kleine Kinderchen, die diese frittierten Stäbchen lieben. Gott wird euch beistehen.«

Ich schaute Georg an und schüttelte den Kopf. »Herr Berlusconi. Das sind 20 Eimer Kartoffeln. Das ist Ihnen klar, oder?«

Berlusconi lächelte und zupfte Georg am Ohrläppchen. »Ich werde für euch beten.« Dann verschwand er die Treppe hinauf.

»Georg, wer hat uns das schon wieder eingebrockt? Piefke 5! Ich kann es einfach nicht fassen, was die mit uns machen. Seit wann schält ein guter Österreicher 20 Eimer Kartoffeln? Die sind doch bescheuert! Wenn wir heute Mittag den Koffer von der Jungfrau Maria bekommen, dann werde ich ihm die Früchte Gottes in den Rachen stopfen.«

»Mach mal halblang, Juri. Noch ist es nicht so weit. Und wir können es uns nicht aussuchen. Schau’n wir mal, was der heutige Tag bringt.«

Wir hatten kaum mit dem Schälen angefangen, da kam Berlusconi in den Keller. »Liebe Freunde. Es gibt da ein kleines Problem. Einer von euch beiden muss beim Servieren helfen. Ein langjähriges Schaf der Gemeinde ist erkrankt. Wer hätte denn Lust? Ich könnte mir gut vorstellen, dem hier Zurückbleibenden unter die Arme zu greifen.«

Kaum hatte er das ausgesprochen, meldeten wir uns beide und schnipsten wie wild mit den Fingern.

»Herr Sonnenburg, Sie als Piefke können doch sicher unsere Gäste bewirten. Sie stammen schließlich aus einem Land mit echter Bierkultur. Und Sie, Georg, als kräftiger Bauernbursche aus den wilden Kärntner Bergen, werden die Früchte Gottes in Windeseile von ihrer Schale befreien.« Ich folgte dem Kaplan. Georg hasste uns.

Die ersten Gäste trudelten ein. Darunter auch Herbert mit Helm und Luise mit Klorolle und Pudel. Hasil sollte auch bald hier auftauchen. Herbert winkte mir zu.

»Lieber Herr Sonnenburg, die Weingläser müssen gewaschen werden. Dann würde ich Sie bitten, die ersten Gäste zu bewirten und Bestellungen entgegenzunehmen. Hier sind Block und Stift. Ich werde derweil Georg zur Hand gehen.«

Berlusconi wollte mit Georg allein sein. Der Arme. Ich versuchte, mir einen groben Überblick über das Areal zu verschaffen. Insgesamt rannten über zehn Kellner von Gast zu Gast, um Bestellungen aufzunehmen und Getränke und Schmankerl zu verteilen. Es war Frühschoppen-Zeit.

Mein erster Weg führte in die Kirche. Kirchen verursachten bei mir ein ungutes Gefühl. Wenn man bedachte, wie viel Geld in diesen Hokuspokus floss und dass für uns arme Piefkes nur Piefke 5 blieb, dann kam mir die Galle hoch.

Vorn rechts befand sich der Beichtstuhl: ein hölzernes Ungetüm mit zwei kleinen Fenstern, die von dunklen Vorhängen bedeckt wurden. Ich schaute hinein. Hier konnte man also seine Sünden loswerden. Nicht schlecht. Hinter dem Beichtstuhl führte ein Weg in die Sakristei. In diesem Raum wurde alles aufbewahrt, was für den Gottesdienst notwendig war. Ich sah einen kleinen Kühlschrank und öffnete ihn, schließlich hatte ich noch nicht gefrühstückt.

Da standen mehrere Behälter mit dünnen runden Oblaten und einige Flaschen des hauseigenen Rotweins.

Doch das war Gott sei Dank nicht alles. Ich schnappte mir zwei Hühnerschenkel und ein kleines Pils. Der Pater hatte offenbar Geschmack und wurde mit allen kulinarischen Feinheiten versorgt. An einem Ständer hingen ein paar Klamotten. Feiner Pinkel, dieser Ambrosius.

Zurück in der Kirche suchte ich nach weiteren Ausgängen. Nachdem Hasil den Koffer entgegengenommen hatte, musste er möglichst durch den Hinterausgang verschwinden. Es sollte alles ohne großes Aufsehen ablaufen. Soweit ich die Lage überblicken konnte, blieb der Jungfrau Maria nur der Weg durch das Haupttor oder durch den Nebeneingang in der Sakristei. Hasil hatte nicht die geringste Möglichkeit, mit der Kohle abzuhauen. Seldschuk konnte stolz auf uns sein.

Ich trat aus der Kirche und mischte mich unter die Gäste. Von Berlusconi keine Spur, aber von Franz. Er stand in einer Schlange und wartete auf seine Brettljause. Der musste auch überall dabei sein. Ich traf erneut auf Herbert und Luise.

»Herbert, alter Waldviertler, genießt du den freien Tag? Wer leitet jetzt die Soko und passt auf unser Zimmer auf?« Ich kraulte den Pudel am Hals.

Luise betrachtete uns argwöhnisch.

»Ich habe Josef den Auftrag gegeben aufzupassen.«

»Josef? Da hast du aber den Bock zum Gärtner gemacht. Keine gute Idee. Hast du nicht gestern gesagt, dass Reinhold und Josef unter einer Decke stecken?« Ich kraulte fester. Der Köter winselte ein wenig.

Luise ergriff meine Hand. »Juri, lass meinen Hund in Ruhe. Er hat dir nichts getan.«

»Passt mal auf, meine beiden Hübschen. Der Hasil wird gleich hier auftauchen. An eurer Stelle würde ich verschwinden. Habt ihr verstanden?«

Herbert grinste. Wie heute Morgen. Ein Kellner reichte den beiden eine große Platte mit Wurst, Käse und Brot. Luise holte ein Küchenmesser aus ihrer Handtasche.

Mein Küchenmesser, zumindest sah es so aus.

 

»Alles klar, Juri. Eine Hand wäscht die andere. Der Paradeiser ist übrigens völlig ausgezuckt. Sie konnten die Hälfte der Heimbewohner bisher nicht befragen. Hast du schon mit ihm geredet?« Herbert zeigte auf das Messer.

Mein Hals schnürte sich zu. Ein Wink mit dem Zaunpfahl! Wollte er mir was anhängen? Ich war doch unschuldig!

»Wir haben unser eigenes. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.« Dann nahm er das Messer, schnitt die Wurst in kleine Teile und reichte es Luise. Er grinste noch immer.

Ich schluckte schwer.

Luise stocherte mit dem Messer zwischen ihren Zähnen herum.

Hatte er es aus der Kommode genommen? Ich traute dem braven Waldviertler das nicht zu. Eigentlich konnte es mir ja völlig egal sein. Es war hoffentlich nur mein Blut am Messer. Eine DNA-Untersuchung würde das sicher bestätigen. »Lasst es euch schmecken. Wenn ihr was braucht, ruft mich einfach. Es geht alles aufs Haus.«

»Danke, Juri«, blubberte Herbert mit vollem Mund.

Plötzlich sah ich Georg aus dem Keller kommen, dahinter Berlusconi mit blutiger Nase.

Während der Kaplan in der Kirche verschwand, kam Georg direkt auf mich zu. »Juri, jetzt gehst du in den Keller und lässt dich von diesem Irren beim Schälen betatschen. Von wegen ›unter die Arme greifen‹.«

»Was hast du gemacht?«

»Er hat an meinem Ohrläppchen geleckt, und bevor er seine Zunge ganz ins Ohr stecken konnte, hab ich ihm die Nase zertrümmert. Jetzt geht er beim Pater oder Papst petzen.«

»Soll er doch. In zwei Stunden sind wir hier weg. Pass mal auf, ein ganz anderes Problem: unser Freund mit dem Helm da drüben.«

»Was macht Herbert hier?«

»Lass mich ausreden. Luise hat mein Küchenmesser. Glaubst du, Herbert hat in meinen Unterhosen gewühlt? Er hat gesehen, wie du es in die Schublade geworfen hast.«

»Keine Ahnung. Hast du ihn gefragt?«

»Was heißt hier ›gefragt‹? Was soll ich fragen? Bist du bescheuert?«

»Juri, wir werden sie zur Rede stellen und das Messer mitnehmen. Außerdem bist du unschuldig. Das Blut am Messer war doch von dir, oder?« Georg zwinkerte. »Jetzt brauch ich ein Bier. Mach dich nicht verrückt.«

Georg ging zum Würstlstand. Langsam füllte sich der Platz. Für die Kinder hatte Pater Ambrosius extra etwas organisiert: den sogenannten Spielnachmittag. Zuständig dafür war der Kaplan. Mit geschwollener Nase tanzte er Hand in Hand mit den Kleinen einen Ringeltanz. Ein älterer Herr sorgte mit seiner Steirischen für die Musik und neben der Würstlbude stand eine große Leinwand, wo später ein Wanderkino den Kindern die berühmte Geschichte vom kleinen Cocker Spaniel zeigte, der sich in einem Wiener Kleingarten in eine Wald- und Wiesenmischung verliebte.

Mit einem Paar Frankfurter in der Hand und einem großen Stück Wurst im Mund spuckte Georg mir ein paar Sätze ins Gesicht. »Juri, mir geht das Video von Kovac nicht aus dem Kopf. Wir sollten es uns anschauen. Morgen sind wir in Frohsinn. Wer weiß, was uns da erwartet.«

Ich überlegte kurz. »Wir könnten in die Sakristei gehen? Dort steht eine DVD-Anlage.«

Auf einem kleinen Schrank neben dem Kühlschrank befanden sich ein Fernseher mit einem DVD-Player und diverse andere Geräte, die einen fürchterlichen Kabelsalat verursachten. Wir schoben die DVD hinein und Georg drückte wie wild auf einer Fernbedienung herum.

»Hör auf! Lass mal einen Fachmann ran.« Ich drückte und drückte, aber auf dem Bildschirm war nichts zu sehen.

Plötzlich riss Berlusconi die Tür zur Sakristei auf. »Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Kann man euch keinen Augenblick allein lassen? Auf der Leinwand im Hof werden Pornos gezeigt! Einige Gäste sind äußerst empört. Was macht ihr hier?« Anscheinend hatte das Wanderkino alles so verkabelt, dass der Cocker-Spaniel-Film über diese Anlage abgespielt werden sollte.

Ich beruhigte den Mann. »Herr Kaplan, das muss ein Missverständnis sein. Wir wollten den Hundefilm einlegen und haben die falsche DVD erwischt.«

Berlusconi schnappte sich unsere DVD und rannte wutentbrannt hinaus. Jetzt hatten wir ein Problem mehr am Hals. Die Übergabe des Päckchens stand uns noch bevor. Ich versuchte, mit klarem Blick unsere Situation zu analysieren. »Wir müssen jetzt eines nach dem anderen abarbeiten, Georg. Erst das Koks, dann die DVD, und danach holen wir uns das Küchenmesser zurück. Lass uns jetzt in die Kirche gehen und die Übergabe vorbereiten.«

In der Kirche fiel mir gleich der Pudelkönig auf. »Was tut denn der Hasil schon hier?« Er machte einen jämmerlichen Eindruck. »Hasil, alter Pudel. Bist schon gespannt auf die Jungfrau Maria? Magst einen Hühnerknochen haben?« Ich holte ein paar Knochen aus meiner Hosentasche, er schlug sie mir aus der Hand.

»Bringen wir’s hinter uns. Was soll ich machen?« Hasil hatte es anscheinend eilig.

Unser Plan war einfach. Georg versteckte sich in der Sakristei, ich blieb in Sichtweite zum Beichtstuhl in der dritten Sitzreihe. Der Rest würde sich von allein ergeben.

Berlusconi betrat die Kirche. Er steuerte direkt auf uns zu. »Herr Sonnenburg, was sitzen Sie hier herum? Georg, ab in den Keller. Husch, husch. Und wer sind Sie?«

Ich musste ihn beruhigen. »Aber Herr Kaplan, wir sind hier, um zu beten. Dafür, dass wir bald gute Österreicher werden. Wir möchten heute Nachmittag bei Ihnen beichten. Wäre das möglich?«

Berlusconi schaute uns an. Er traute Georg und mir nicht mehr über den Weg. »Von mir aus, aber ich muss Pater Ambrosius melden, was Sie hier so treiben.« Dann verschwand er in der Sakristei.

Hasil stand auf und wollte gehen. Ich stoppte ihn. »Warte. Warte. Nicht so schnell, mein Freund. Du bleibst hier. Ab in den Beichtstuhl.« Ich schob ihn in die rechte Kammer und gab ihm das Päckchen mit dem Kokain. Eine rote Lampe leuchtete. Jetzt fehlte nur noch die Jungfrau Maria.

Berlusconi kam aus der Sakristei. »Herr Sonnenburg, bitte kommen Sie. Hopp, hopp.«

»Gehen Sie bitte schon mal vor. Ich komme gleich nach.« Konnte er mich nicht in Ruhe lassen?

Er ging zum Haupttor hinaus und ich legte mich auf die dritte Bank. Georg nahm seinen Platz in der Sakristei ein. Es konnte losgehen.

Die Spannung war unerträglich. Es tat sich nichts. Alles war ruhig. Keine Jungfrau Maria. Plötzlich öffnete sich das Haupttor. Ich hob den Kopf. Verdammt. Reinhold. Was wollte der hier?

Er ging zum Weihwasser-Behälter und bekreuzigte sich. Dann kniete er nieder. Jetzt nur nicht nervös werden, dachte ich. Reinhold setzte sich in die zweite Reihe direkt vor meine Nase und betete. Dann öffnete sich das Tor erneut. Herbert und Luise. Ich hätte kotzen können. Warum versammelte sich jetzt das ganze Männerwohnheim in dieser Kirche? Der Helm und die Klorolle planschten ebenfalls im Becken, machten ein symbolisches Kreuz und setzten sich in die erste Reihe. Jetzt reichte es. Das konnte nicht gut gehen.

Der Pudel hing an einer Flexi-Leine. Damit hatte er 30 Meter Auslauf. Er schnüffelte, ging zum Beichtstuhl, hob ein Bein und pinkelte. Erst als es zu spät war, registrierte Luise seinen Ausflug. Sie drückte den Knopf an der Flexi-Leine und mit einem Satz landete der Pudel vor ihren Füßen. »Platz, mein Schatz. Jetzt bleib hier liegen.«

Sie fingen an zu beten.

Zehn nach zwölf. Eine Frau betrat die Kirche. Dunkle lockige Haare. Sie trug einen schwarzen langen Umhang und hielt einen Koffer in der Hand.

Die Sonne warf einen Strahl durch die bunten Fenster: die Erscheinung der Jungfrau Maria. Einfach unglaublich. Das war Isabel!

Mein Herz schlug wie wild. Wenn Hasil das arrangiert hatte, dann würde ich ihn einen Kopf kürzer machen. Ich zwickte mich, in der Hoffnung, eine Fata Morgana zu sehen. Es war eindeutig Isabel.

Georg schob den Kopf durch den Türspalt zur Sakristei. Reinhold, Herbert und Luise beobachteten Isabel. Nur die klappernden Schritte der Jungfrau Maria waren zu hören. Dem Pudel lief offenbar das Wasser im Maul zusammen, Tropfen fielen auf den Boden. Wunderbar.