Mara und der Feuerbringer

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel 5


Am Montag in der Schule war es zunächst so wie immer. Langweilig bis nervtötend. Und regnerisch. Also mal wieder typisch.

Doch in der Pause fand Larissa zur Abwechslung ein neues Opfer, das sie auslachen konnte: einen kleinen blonden, dicklichen Jungen, vermutlich aus der Fünften, den Mara bisher noch nie bemerkt hatte. Sie fragte sich, wie er wohl Larissas Aufmerksamkeit erregt hatte. Ganz offensichtlich hatte der Junge nämlich nichts gemacht, außer verloren herumzustehen. Aber vielleicht war er einfach nur zwei Dinge gewesen: da. Und dick.

Mehr brauchte es ja gar nicht für Larissa, und schon schallte ihr meckerndes Gelächter mal wieder quer über den Pausenhof. Dabei zeigte sie auf die zugegebenermaßen nicht besonders zeitgemäße Bommelmütze, die der Junge wahrscheinlich von einer fürsorglichen Mutter aufgesetzt bekommen hatte. Sofort stimmten auch die ganzen Schleimhilden rund um Larissa in das Gelächter mit ein.

Der Junge wurde immer kleiner, traute sich aber auch nicht wegzugehen. Mara kannte das Gefühl. Wenn man sich so vorkam, als wären die Beine mit dem Boden verwachsen. Und jede Bewegung, die man machte, fühlte sich so schwer an, als wäre man gefangen in einem Schwimmbecken voller Götterspeise.

Doch als Larissa dann auch noch anfing, den Jungen an seinem Schal zu ziehen und ihn sich unter dem Gelächter der Zickenclique hin- und herdrehen ließ wie auf einem Präsentierteller im Home Order TV, kam ihr plötzlich ein völlig irrsinniger Gedanke: Musste sie nicht dazwischengehen und dem Jungen helfen? War es nicht sogar ihre Pflicht? Wie sollte sie denn die Welt retten, wenn sie nicht einmal den Mut hatte, einen kleinen Jungen von Larissa und ihren Hohlbirnen wegzuziehen?

Irgendwie kam ihr im Vergleich die Sache mit der Weltrettung gerade deutlich einfacher vor. Trotzdem, sie konnte nicht länger zusehen, wie Larissa den Jungen an seinem Schal hin- und herzerrte wie einen Tanzbären am Nasenring! Wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung. Sie stapfte wild entschlossen direkt auf Larissa und die anderen zu …

… und hätte auch innerhalb der nächsten 30 Sekunden zwischen dem Jungen und Larissa gestanden, wenn nicht in dem Moment der Gong das Ende der Pause signalisiert hätte.

Aus Hunderten von Schülerkehlen löste sich das übliche frustrierte Aufstöhnen. Sofort blockierten mehrere hundert Schülerkörper Maras Weg zu Larissa und dem Jungen und trotteten zurück in ihre Klassen.

Nur der kleine Junge stand immer noch alleine mit hängendem Kopf an der Stelle, wo Larissa und ihre Clique ihn stehen gelassen hatten. Mara versuchte, sich einen Weg zu ihm zu bahnen. Sie wollte ihm wenigstens erklären, dass er sich das nicht so sehr zu Herzen nehmen sollte. Doch dann wurde auch sie vom Gewusel erfasst und zurückgespült in das Schulgebäude …

Kaum ertönte der erlösende letzte Gong des Tages, war Mara auch schon unterwegs zur U-Bahn. Von dort würde sie mit der U2 zum Sendlinger Tor fahren und dann umsteigen in die U6 oder U3 zur Universität.

Für die Fahrt musste sie stempeln, denn hier galt ihre Monatskarte nicht. Aber Gott sei Dank hatte sie noch eine Streifenkarte mit zwei übrigen Streifen in ihrer Jacke. Die Fahrt ging für Mara überraschenderweise schneller vorbei als der tägliche Schulweg, obwohl es mehr Stationen waren und sie sogar einmal umsteigen musste.

An der Haltestelle Universität folgte Mara einfach der Beschilderung, bis sie auf dem Geschwister-Scholl-Platz direkt vor dem Haupteingang der Ludwig-Maximilians-Universität stand.

Mara sah sich um. Mitten auf dem Platz befand sich ein großer Brunnen, auf dessen Rand mehrere Studenten saßen. Dahinter erstreckte sich ein ausladendes u-förmiges Gebäude, das genauso aussah, wie sich Mara eine Universität immer vorgestellt hatte: ein riesiges, irgendwie schlossartiges Gebäude mit vielen Fenstern und einem großen Eingang, das von außen düster wirkte. So als wäre innen alles voller dunklem Holz und mit alten Ölbildern toter Professoren an den Wänden, außerdem voll mit unzähligen Treppen und noch mehr Gängen mit Hunderten von Schildern, auf denen sinnlose Abkürzungen standen und Pfeile in alle Richtungen zeigten.

Mara atmete einmal durch und ging dann wie auf Autopilot zwischen den Studenten hindurch, direkt auf den Eingang zu.

Dabei bemerkte sie, dass ein paar Meter vor dem Eingang eine Art Denkmal flach in die Pflastersteine auf dem Boden eingearbeitet war. Sie wollte erst drum herumlaufen, aber genau in dem Moment flog ihr ein ziemlich großer schwarzer Vogel laut krähend direkt entgegen. Und dieser Vogel machte keinerlei Anstalten, ihr aus dem Weg zu fliegen!

Mara ging einen Schritt zur Seite und der Vogel flatterte tatsächlich genau dort an ihr vorbei, wo sich gerade noch Maras Kopf befunden hatte. Aber dadurch tappte sie nun doch auf das eingelassene Kunstwerk …

Kaum hatte die Sohle ihres Schuhs das polierte Metall im Boden berührt, explodierte ein Bild so urplötzlich in ihrem Kopf, dass sie fast in die Knie gegangen wäre.

Trotz der Überraschung unterdrückte Mara einen ersten Impuls, das Bild sofort zu vertreiben. Sie dachte daran, was der Zweig ihr gesagt hatte. Sie war nun mal eine Spákona und sie musste wohl oder übel lernen, mit ihrer Gabe umzugehen. Also zwang sich Mara zu ignorieren, dass sie auf einem Platz voller Studenten stand, die sie jetzt womöglich alle verwundert anstarrten, und als sie die Augen schloss, war ihr, als würde sich dafür ein inneres Auge öffnen …

Direkt vor ihr stand eine junge Frau mit schulterlangen dunklen Haaren. Sie blickte von einer Art Balkon oder Balustrade hinunter in eine große Halle mit vielen Menschen. Die Frau hielt einen Stapel eng beschriebener Blätter mit beiden Händen an die Brust gedrückt. Sie presste die Lippen zusammen, ihre Finger gruben sich tief in die Blätter … und mit einem Mal warf sie den ganzen Stapel hoch in die Luft … wie in Zeitlupe fächerten sich die Blätter auf, und für einen Moment wirkte es, als würden sie sich entschließen einfach in der Luft stehen zu bleiben … bis sie dann doch tänzelnd und leise raschelnd in die Tiefe taumelten … Der Anblick war wunderschön und auf eine seltsame Weise erhebend.

Obwohl Mara nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte, war ihr klar, dass dieser Moment etwas ganz Besonderes sein musste.

Doch in derselben Sekunde erstarrte sie: Das Bild hatte sich plötzlich verändert. Mara blickte auf eine Konstruktion aus Holz, an deren oberem Ende etwas metallisch glänzte. Bevor sie Gelegenheit hatte zu erkennen, worum es sich handelte, raste das glänzende Etwas an ihr vorbei und schlug mit einem Geräusch auf, das Mara das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie schreckte hoch …

Als sie die Augen öffnete, standen mehrere Leute um sie herum. Sie spürte tastende Finger an ihrem Handgelenk.

»Kannst du mich hören? Hallo?«, fragte eine tiefe Stimme und jemand hielt ihr Wasser aus einer Plastikflasche entgegen.

Zitternd griff Mara nach der Flasche und nahm einen Schluck. Schließlich fand sie auch ihre Stimme wieder.

»Was … was ist denn passiert?«, stammelte sie und blickte den Mann an, der offensichtlich ihren Puls fühlte.

»Du bist umgekippt, junge Frau«, sagte er und wendete sich dann zu den Umstehenden. »Bitte geht doch ein Stück zurück, ihr zerdrückt die Kleine ja fast.«

Sofort folgten alle seiner Bitte.

Mara sah den Mann neben sich verwundert an. Er war älter als ihre Mutter, aber noch nicht so alt wie ihr Opa. Er trug eine Art Sakko aus grobem, bräunlichem Stoff, ein helles Hemd und eine bequem wirkende Cordhose mit ausgebeulten Knien und einem dicken Schlüsselbund am Gürtel. Neben ihm stand eine ehemals vermutlich schwarze Ledertasche mit einem abgegriffenen Henkel, der so dünn und spröde wirkte, als würde er bei der nächsten Berührung zu Staub zerfallen.

Obwohl der Mann einen dichten weißen Vollbart trug und eine altmodische Brille auf der Nase hatte, wirkte er doch irgendwie jung. Das mochte vielleicht an seinen auffallend grünen Augen mit den kleinen Lachfältchen drum herum liegen. Mit einer seltsamen Mischung aus jungenhafter Neugier und erfahrenem Wissen funkelten sie Mara an.

»Da hast du dir ja einen geschichtsträchtigen Platz für deine Ohnmacht ausgesucht«, brummte der Mann unter seinem Bart hervor. Irgendwie hatte seine Stimme eine beruhigende Wirkung auf Mara. Sie sah sich um und stellte fest, dass sie direkt auf dem eingelassenen Denkmal saß, auf das sie getreten war. Der Mann schien zu bemerken, wohin sie blickte, und sagte: »Ja, deswegen heißt das hier Geschwister-Scholl-Platz. Habt ihr wohl noch nicht in der Schule durchgenommen, oder?«

Mara schüttelte den Kopf. In dem Moment schien sich der Mann daran zu erinnern, dass er immer noch Maras Handgelenk hielt.

»Oh, entschuldige. Puls ist da. Ich würde mal sagen, du lebst noch, oder was meinst du?« Er lächelte. Dann streckte er ihr die Hand entgegen und half ihr aufzustehen.

Wortlos ließ sich Mara von ihm hochziehen.

»Na also, geht doch schon wieder ganz gut«, sagte der Mann. »Willst du noch einen Schluck Wasser?«

»Nein, danke«, antwortete Mara. »Und danke für … die Hilfe.«

»Aber das ist doch selbstverständlich, junge Dame. Oh, entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Weissinger mein Name. Reinhold Weissinger. Ich bin hier an der Uni Professor für …«

»Germanische Mythologie«, vollendete Mara freudig seinen Satz. Sie konnte ihr Glück gar nicht fassen! Am liebsten hätte Mara dem Kamikaze-Vogel gedankt, ließ es aber aus mehreren Gründen sein. Einer davon war, dass der Vogel weit und breit nicht mehr zu sehen war …

 

Der Professor blickte sie mit einer belustigten Mischung aus Neugier und gespieltem Stolz an.

»Hoppla! Nun denn, wenngleich ich mich natürlich geehrt fühle, dass mein Name bis über die Universitätsmauern hinausgedrungen zu sein scheint, muss ich doch gestehen, dass ich neugierig bin, woher du meinen Namen kennst, junges Fräulein.«

»Aus dem Internet!«, antwortete Mara aufgeregt. »Ich war auf der Suche nach jemandem, der sich mit … mit …« Sie verzichtete darauf, das Wort Spákona in den Mund zu nehmen, und sagte stattdessen: »… der sich mit germanischen Göttern auskennt und noch lebt.«

Im selben Moment erkannte sie, dass das wohl nicht sonderlich charmant ausgedrückt war, aber der Professor schien es ihr nicht übel zu nehmen – ganz im Gegenteil.

Er grinste, als er sagte: »Nun ja, ein bisschen Zeit hab ich wohl noch. Nicht so viel wie du vielleicht – aber ich hoffe, es genügt, um deine Fragen zu beantworten. Bitte folgen Sie mir in mein Besprechungszimmer, junge Dame.«

Er machte ein schalkhaftes Zuhörergesicht und setzte sich auf den breiten Rand des großen Brunnens. Dann schlug er mit einer überraschend gelenkigen Bewegung die Beine übereinander, schob sich mit dem Zeigefinger die Brille etwas zu tief auf die Nasenspitze und blickte Mara über die Gläser hinweg mit dem übertriebensten Professorenblick an, den sie jemals gesehen hatte.

Mara konnte nicht anders: Sie musste lachen. Es tat ihr richtig gut! Sie setzte sich neben den Professor und überlegte kurz, was genau sie eigentlich fragen wollte.

Dann atmete sie ein Mal tief durch und sprach: »Also, mein Name ist Mara Lorbeer, ich wohne in der Au, in der Edlingerstraße und … und …«

Eigentlich war es völlig unerheblich, wo sie wohnte, aber irgendwie fühlte sich Mara jetzt besser. Sie hatte das Gefühl, dass sie wieder im Hier und Jetzt angelangt war.

Allerdings war sie immer noch nicht bereit, dem Professor wirklich alles zu erzählen. Und so stellte sie stattdessen erst einmal eine andere Frage: »Also, ich wüsste gerne, wie man … Loki wieder fesseln könnte, wenn er … falls er sich … befreien könnte. Eventuell.«

Wenn ein Gespräch von einem Augenblick auf den nächsten völlig zum Erliegen kommt und keiner mehr ein Wort sagt, hört man plötzlich viele Geräusche, die einem vorher nicht aufgefallen wären.

Mara hörte ein Taxi, das eine nahegelegene Straße entlangfuhr. Sie hörte eine Frau, die schrill und künstlich lachte. Direkt vor Maras Füßen pickte gurrend eine Taube an den Resten einer Gurkenscheibe, wie man sie gerne mal aus dem Hamburger pult. Immer wieder schlug der Schnabel auf die Pflastersteine.

Pok pok. Pok pok. Pokpokpok.

Professor Weissinger schien währenddessen immer noch damit beschäftigt zu sein, eine Antwort zu finden. Allerdings nicht unbedingt eine Antwort auf Maras Frage, sondern wohl eher eine Antwort darauf, wie ein vierzehnjähriges Mädchen ausgerechnet auf die Idee kommt, so eine Frage zu stellen! Oder überhaupt irgendwer.

Maras Gedanken rasten. Sie hatte doch nichts Falsches gesagt, oder? Ihn vielleicht beleidigt, ohne es zu bemerken? Aber sie hatte doch nur gefragt, ob …

In diesem Moment hörte Mara jemanden sprechen: »Ach ja, und wer ist die traurige Frau, die neben ihm steht, und was will sie mit der Holzschale?«, und fast gleichzeitig stellte sie fest, dass sie das wohl gerade selbst gesagt hatte.

Stimmt, dachte sie, das wollte ich ja auch noch fragen. Na ja, hab ich jetzt wohl.

Professor Weissinger sah Mara jetzt mit einem Blick an, der sie eindeutig an ein Sofakissen erinnerte. Ohne dass sie jetzt hätte sagen können, was genau ihr an diesem Vergleich so passend erschien, fand Mara, dass es für den Ausdruck im Gesicht des Professors tatsächlich keine bessere Beschreibung gab.

Als hätte er selbst gemerkt, dass es sich für einen Universitätsprofessor nicht geziemte, mit dem Gesichtsausdruck eines Sofakissens auf ein junges Mädchen zu starren, fand der Professor schließlich seine Stimme wieder und befahl dieser, sich gefälligst zurück in seinen Hals zu scheren! Mit einem metallischen Räuspern, das klang, als hätte er ein Loch im Auspuff, rasteten seine Stimmbänder ein und nahmen ihre Arbeit wieder auf.

»Was hältst du davon, wenn wir das doch in meinem Büro besprechen, junge Dame? Es ist gleich da oben im zweiten Stock.«

Kapitel 6


Hinter dem Professor betrat Mara durch die große Glastür zwischen den Säulen die Universität. Instinktiv duckte sie sich vor der zu erwartenden Düsternis! Gleich würden sie auch unzählige längst verstorbene Professoren aus düsteren Bildern mit strengem Blick anstarren, als würden sie fragen: »Was machst du denn hier, kleines Mädchen? Weißt du denn nicht, dass diese Universität nur für Studenten ist und für bärtige Professoren in Cordhosen, die Papierstapel durch die Gänge tragen und dabei laufend lose Blätter verlieren?«

Umso überraschter war sie über das helle grellweiße Licht, das die große Halle erfüllte, in der sie nun stand. Als sie nach oben sah, musste sie sogar die Augen zusammenkneifen. Das Licht fiel gleißend hell durch eine Art gläserne Kuppel hoch über ihren Köpfen und wurde noch verstärkt vom weißen Stuck an der hohen Decke.

Dem Professor schien erst jetzt bewusst zu werden, dass Mara dieses Gebäude wohl zum ersten Mal betrat. Er kam die paar Schritte zurück, die er die große Freitreppe bereits hinaufgestiegen war.

»Ja, das ist der sogenannte Lichthof, der seinen Namen ganz offensichtlich zu Recht trägt. Dort hinten ist der Aufgang zu unserem Auditorium maximum, dem größten Hörsaal in der Uni. Aber wir gehen jetzt hier hinauf in den zweiten Stock und dann rüber in den anderen Trakt.«

»Ich dachte, Ihr Büro ist gleich hier oben?«, fragte Mara.

»Das ist es auch«, antwortete der Professor. »Zumindest im Vergleich zu so manch anderem Büro hier. Die Universität München ist riesengroß. Sie erstreckt sich über mehrere Straßen und dies hier ist nur eines von über zwanzig Gebäuden. Allein in diesem Teil der Universität gibt es den Adalbertstrakt, den Dekanatstrakt, den Senatstrakt, den Amalientrakt und den Bibliothekstrakt. Wir gehen jetzt in das sogenannte Gartengebäude. Und bevor du dir nun einen Schreibtisch in einer Gartenlaube vorstellst, solltest du wissen, dass dieses Gebäude wiederum über drei Geschosse plus drei Zwischengeschosse und drei Innenhöfe verfügt.«

Mara malte sich kurz aus, wie sie auf der tagelangen Suche nach Professor Weissinger irgendwo in den endlosen Hallen und Gängen elend verdurstet wäre. Doch sie erlaubte sich, diese Vision aus ihrem Geist zu vertreiben.

Visionen. Na wunderbar, ich hab wieder dieses Wort benutzt, dachte Mara, als sie dem Professor durch die vielen Gänge, Doppeltüren und Treppenhäuser folgte. Visionen war eins von Mamas Lieblingswörtern. Dauernd hatte irgendeine von ihren Wicca-Frauen irgendwelche Visionen – meistens davon, dass irgendeine Stimme ihnen einflüsterte, dass sie doch »endlich mal an sich selbst denken« sollten oder »sich auch mal was gönnen« dürften. Praktische Sache, so eine Vision, wenn sie immer genau das aussprach, was man gerade am liebsten hören wollte. Auch Mama hatte schon oft Visionen gehabt: zum Beispiel davon, dass Papa zurückkommen würde, weil er eingesehen hatte, dass sie immer schon recht gehabt hatte und es ein großer Fehler gewesen war, sie zu verlassen.

Vor allem im ersten Jahr nach der Trennung hatte sie Mara sehr oft davon erzählt.

Als Mara noch jünger gewesen war, hatte sie sogar daran geglaubt und gehofft, dass Mama diesmal die Wahrheit vorausgesehen hatte.

Doch dann verging das Jahr, schließlich zwei, drei … und Papa war immer noch nicht wieder da. Und das, obwohl Mama inzwischen schon unzählige weitere Visionen, Zeichen und Orakeldeutungen angeführt hatte, die letztlich alle das Gleiche aussagten: Papa kommt zurück. Ganz sicher. Diesmal wirklich. Demnächst. Bald.

Mittlerweile wusste Mara nur eines ganz sicher: Wenn sie selbst irgendwann mal eine Tochter hätte, dann würde sie ihr nur Dinge versprechen, die sie auch halten konnte.

Was ihre Mutter wohl denken würde, wenn Mara ihr erzählte, dass sie sich neuerdings mit Pflanzen unterhielt und Visionen hatte? Na ja, eigentlich hatte sie die ja immer schon gehabt. Nur haben wollen hatte sie die Visionen eben nicht.

Und jetzt das.

Spákona.

Was sollte sie dem Professor eigentlich erzählen? Alles? Nein, auf keinen Fall. Wer glaubte schon einem vierzehnjähriges Mädchen? Und dann auch noch so etwas Unglaubliches. Andererseits war sie doch genau deswegen hergekommen, oder?

Nein, sie würde den Professor jetzt einfach ausfragen über alles, was sie wissen musste, und dabei möglichst wenig über sich erzählen. Oder gar nichts. Und auch nichts über Mama. Genau, das war ein toller Plan!

Zufrieden nickte Mara und stellte im selben Moment fest, dass sie damit wohl gerade irgendetwas bejaht haben musste, denn der Professor sagte: »Na, dann hol ich dir mal einen, bin gleich wieder da!«

Mara blieb allein zurück, vor irgendeiner Tür in irgendeinem Gang in irgendeinem Stockwerk in irgendeinem Gebäude.

Doch gerade als sie spürte, wie ihre Fingernägel sich anschickten in den Handballen bleibende Spuren zu hinterlassen, hörte sie vertraute Geräusche: klimpernde Geldstücke in einer Hosentasche, klickendes Einwerfen von Münzen und ein Tastendruck. Danach ein Summen und ein leises »Sch-Blunk«, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als würde jemand in einen Plastikbecher pinkeln.

Professor Weissinger kam mit einer heißen Schokolade auf Mara zu.

»Ich frage mich manchmal, warum diese Kästen immer Kaffeeautomat heißen, obwohl sie alle möglichen Arten von Heißgetränken ausspucken«, sagte er und grinste, als er ihr den Becher reichte.

»Vielleicht weil Schokolade-Kaffee-Tee-und-Rinderbrühe-Automat zu lang ist?«, antwortete Mara und meinte es gar nicht so witzig, wie es offensichtlich beim Professor ankam.

»Hahaha, ja, das kann sein. Und vielleicht weil Diverses-heißes-Gebräu-Automat nicht gerade appetitlich klingt.«

Der Professor trat an Mara vorbei an die Tür und steckte einen der Schlüssel von seinem dicken Schlüsselbund ins Schloss. Nachdem er den Schlüssel dreimal herumgedreht hatte, zückte er einen weiteren Schlüssel und steckte ihn in ein kleines Vorhängeschloss. Und als Mara dann endlich einen Blick in das Büro werfen konnte, wusste sie auch, wofür das zusätzliche Schloss war: Der Professor wollte die Putzfrau aussperren.

Dies war auf jeden Fall der kleinste Raum mit den meisten Büchern, Ordnern und Papierstapeln darin, den Mara jemals gesehen hatte.

»Jaja, ich weiß«, sagte Professor Weissinger, während er sich zwischen den Stapeln hindurchmanövrierte, ohne auch nur einen einzigen der Türme ins Wanken zu bringen. »Aber ich warte jetzt seit vier Monaten auf ein größeres Büro und sehe nicht ein, warum ich hier noch mal aufräumen soll, wenn ich vielleicht schon morgen alles wieder in Pappkartons packen muss. Bitte versuch so wenig wie möglich durcheinanderzubringen.«

Keine Sorge, dachte Mara. Dieses Zimmer kann man gar nicht noch mehr durcheinanderbringen. Trotzdem achtete sie sehr darauf, nichts zu berühren.

Andere Besucher waren dabei offensichtlich weniger erfolgreich gewesen. Ein paar Haufen zeigten deutlich, dass hier bereits die eine oder andere Papierlawine niedergegangen war und tiefer gelegene Notizblock-Dörfer und Post-it-Ortschaften unter sich begraben hatte.

Professor Weissinger umrundete einen der Papier-Gletscher und ließ sich dann mit einem leisen Seufzer in einem abgewetzten Ledersessel nieder. Gleichzeitig zeigte er Mara an, die Tür zu schließen. Dann seufzte er noch einmal und legte gemütlich die Beine auf einem der Bücherstapel ab, als wäre es ein Couchtisch.

»So«, sagte der Wissenschaftler und musterte Mara mit seinen wachen Augen. »Mach es dir bitte bequem.«

»Danke«, sagte Mara und setzte sich auf den Papierhaufen, unter dem sie den Besucherstuhl vermutete. »Oh, und danke für die Schokolade.«

»Hast du sie schon probiert?«, fragte der Professor und Mara schüttelte den Kopf.

 

»Dachte ich mir schon, denn sonst hättest du dich nicht bedankt. Aber jetzt zu dem Grund deines Besuchs. Du hast mir da vorhin ein paar sehr seltsame Fragen gestellt, Mara Lorbeer aus der Au. Und ich bin von meinen Studenten wirklich einiges gewöhnt.«

»Tut mir leid«, sagte Mara kleinlaut. »Ich wollte nicht …«

Doch der Professor winkte sofort ab: »Aber nein, du musst dich nicht entschuldigen! Es tut mir leid, wenn ich dich angestarrt haben sollte wie ein Gummistiefel.«

Auch schön, dachte Mara, aber ich fand das Sofakissen trotzdem besser.

»Und jetzt bin ich natürlich gespannt, wie du darauf gekommen bist«, fuhr der Professor fort. »Wie zum Beispiel auf die Frage nach der Frau mit Holzschale im Loki-Mythos. Das ist zugegebenermaßen schon recht ungewöhnlich, wenngleich auch einfach zu beantworten … Oh, entschuldige, vielleicht nimmst du erst mal auf dem Besucherstuhl Platz, denn du sitzt auf den Klausuren meiner Studis … ja, genau, der Stapel daneben, da ist er drunter oder war es zumindest mal … komisch, na ja, dann setz dich doch wieder auf die Klausuren, denn die erleben sicher noch Schlimmeres, wenn ich erst mal mit den Korrekturen anfange … So, und jetzt erzählst du mir erst mal, wie du auf diese Fragen gekommen bist.«

Oh nein!, dachte Mara panisch, bis eben ist es doch so gut gelaufen. Er hat schon von selbst angefangen, über Loki zu reden, und jetzt das! Ich soll was erzählen! Von mir! Was mach ich denn jetzt?

Sie blickte kurz auf. Der Professor wartete immer noch! Mann, hatte der eine Geduld! Mist!

Okay, ich muss ja nicht alles erzählen! Ich lass die seltsameren Momente weg und erzähle nur die weniger seltsamen!

Doch sofort fiel Mara auf, dass sie sich an keinen einzigen weniger seltsamen Moment erinnern konnte. Also tat sie weiter das, was sie eh schon tat: Sie schaute auf den Boden und schwieg.

Der Professor wartete noch weitere ewige fünfzehn Sekunden. Dann seufzte er.

»Darf ich dein Schweigen derart auslegen, dass du mir nichts über dich erzählen möchtest?«, sagte er und klang dabei nicht im Entferntesten vorwurfsvoll.

Mara nickte nur stumm.

»Hm, da kann man wohl vorerst nichts machen. Mal sehen, vielleicht erzählst du es mir ja ein andermal. Also widmen wir uns erst einmal dem Loki. Einen Moment bitte.«

Professor Weissinger wendete sich ab, um in dem Stapel neben sich nach etwas zu wühlen.

Mann, stell ich mich grad blöd an!, schimpfte Mara sich selbst in Gedanken. Trotzdem konnte sie einfach nicht anders, sagte weiterhin kein Wort und zog dabei ihren Mund zusammen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

Als der Professor mit einem abgegriffenen Buch in der Hand wieder auftauchte, blickte er verwundert in Maras verkniffenes Gesicht.

»Hast du jetzt doch den Kakao probiert?«, fragte er, während er in dem Buch blätterte und recht schnell fand, was er suchte. Der Professor hielt Mara das Buch aufgeklappt entgegen. »Kommt dir hier etwas bekannt vor?«, sagte er und versuchte dabei besonders beiläufig zu klingen, was ihm gerade deswegen nicht einmal ansatzweise gelang.

Mara sah eine Doppelseite mit einem Bild vor sich, auf dem die Zeichnung eines grinsenden Mannes zu sehen war.

Das Bild war in Braun und Rottönen gehalten und wirkte irgendwie sehr alt. In der linken oberen Ecke stand irgendetwas in einer seltsamen Schrift und in einer Sprache, die Mara nicht verstand. Um den Text war ein Rahmen gezogen. Der Mann auf dem Bild schien auf die Schrift zu blicken, denn obwohl sein Körper nach rechts gedreht wirkte, war der Kopf rückwärts gewandt. In der erhobenen Hand hielt er eine Art Seil mit einer Schleife oder einem Knoten am oberen Ende. Das Seil hing herab und endete an einem Gitter oder eher einem grobmaschigen Netz, das hinter dem Mann ausgebreitet war.


Mara betrachtete die Figur genauer. Der Kopf war nur von der Seite zu sehen. Mara erkannte einen hellen Bart, der zu mehreren Spitzen zusammengedreht war, und eine ziemlich lange Nase, die fast wirkte wie die einer Kasperlpuppe. Die Mütze, die weite Kleidung mit den gelb-roten Streifen, das Grinsen … alles irgendwie kasperlhaft. Doch da blickte sie dem Mann in das eine sichtbare und tiefschwarze Auge und wusste sofort, wen sie da vor sich hatte! Und bevor sie seinen Namen aussprechen konnte, verlor sich Mara auch schon in der äußerst unkasperlhaften Schwärze der Pupille …

Mara sah sich um und erschrak nicht, als sie das Wasser sah, das sich vor ihr im Nebel verlor. Sie wunderte sich auch nicht besonders über den hölzernen Steg, auf dem sie lag. Unter dem Steg zog ein Fluss vorbei und Mara hörte das Plätschern des Wassers, das die roh behauenen, dicken Pfähle umspülte, auf denen der Steg im Flussbett stand.

Es ist nur eine Vision, murmelte Mara sich selbst zu. Nur eine Vision. Ich bin nicht wirklich hier. Und gleich, wenn ich wieder die Augen aufschlage, werde ich im Büro des Professors sein. Wo ich die ganze Zeit war. Und immer noch bin. Das ist einfach wie im 3-D-Kino, nur ohne die doofe Brille!

Oje, vermutlich war sie inzwischen wieder umgekippt wie die beiden Male zuvor. Hoffentlich würde Professor Weissinger keinen Arzt rufen oder so etwas.

Wenigstens falle ich auf dem Papierkram weicher als vorhin auf den Pflastersteinen vor der Uni, dachte sich Mara und fand sich dabei sogar fast ein bisschen … na ja … cool.

Doch als sie plötzlich merkte, dass sie nicht allein war auf dem Steg, schmolz ihre Coolness dahin wie Scheibletten-Käse auf einem Toaster: Direkt vor ihr am Ende des Stegs stand ein Mann. Er hatte den Rücken zu ihr gedreht und raffte mit ausladenden Bewegungen ein Fischernetz zusammen. Mara hatte keine Zweifel, wer der Mann vor ihr war, und sofort ging ihr Atem schneller.

Er kann mich nicht sehen, auch wenn er sich umdreht. Die anderen Male hat mich auch keiner gesehen, oder? Also ganz ruhig, er kann mir nichts tun, weil er gar nicht weiß, dass ich da bin, dachte Mara. Trotzdem stand sie nicht auf, sondern blieb erst mal auf den Planken sitzen. Nur zur Sicherheit.

Der Mann trug eine Art Kleid aus grober Wolle oder vielleicht Leinen. Es war dunkelrot gefärbt, aber viel unregelmäßiger, als Mara es von ihren Klamotten kannte. Das eher schmucklose Kleidungsstück reichte ihm bis über die Knie und war über der Hüfte gerafft mit einem Gürtel, an dem ein auffallend verzierter Dolch in einer Scheide befestigt war. Seine Beine waren mit einem ähnlich groben Stoff umwickelt, der von Lederbändern an den Waden gehalten wurde.

Mara konnte nicht umhin, sich kurz vorzustellen, wie fürchterlich das jucken musste! Ihr selbst waren ja schon gestrickte Mützen unerträglich. Vor allem, wenn ihre Mutter sie gestrickt hatte, denn dann kratzten sie nicht nur – sie sahen auch noch doof aus.

Der Mann sah das vielleicht genauso, denn eine Mütze trug er nicht. Dafür war sein langes blondes Haar zu einem kunstvollen Knoten geformt. Seltsamerweise trug er ihn aber nicht am Hinterkopf, sondern an der Seite, knapp über dem rechten Ohr. Käme Mara mit einem solchen Haarknoten über dem Ohr in die Schule, wären sogar noch in Australien die Leute auf die Straße gelaufen, um nachzusehen, woher das Gelächter kam.

Der Mann warf nun sein riesiges Fischernetz hinaus in den nebligen Fluss. Mara runzelte die Stirn. Sie wusste zwar nicht genau, wie man als Fischer ein Netz auszuwerfen hatte, aber das sah irgendwie anders aus. Der Mann wirkte nämlich überhaupt nicht wie jemand, der diese Bewegungen schon Hunderte von Malen gemacht hatte, sondern eher wie … Mara überlegte. Irgendwo hatte sie dieses komische Gehabe doch schon mal gesehen …

Und da fiel es ihr plötzlich ein: Im Fernsehen! Genau, der Mann erinnerte sie an die aufgedonnerten Grinsebacken aus den Dauerwerbesendungen. Er wirkte, als wolle er sich selbst und der Welt besonders eindrucksvoll die Vorzüge dieses großartigen Profi-Fischernetzes demonstrieren, um dann zu verkünden, dass man dazu noch diese Hochleistungs-Präzisions-Angel und diesen titaniumverstärkten Power-Kescher mit Beschichtung aus der Raumfahrt umsonst bekommen würde – vorausgesetzt, man riefe sofort an!

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?