Der Zauberberg. Volume 2

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Der Italiener, schon vorüber, wandte den Kopf zurück und artikulierte: "Götter und Sterbliche haben zuweilen das Schat-tenreich besucht und den Rückweg gefunden. Aber die Unterir-dischen wissen, daß, wer von den Früchten ihres Reiches kostet, ihnen verfallen bleibt."

Und er ging weiter, in seinen ewig hell gewürfelten Hosen, und ließ im Rücken Hans Castorp, der "durchbohrt" sein sollte von so viel Bedeutung und es gewissermaßen auch war, ob-gleich er, ärgerlich erheitert über die Zumutung, es zu sein, vor sich hin murmelte:

"Latini, Carducci, Ratzi-Mausi-Falli, laß mich in Frieden!"

Gleichwohl war er sehr glücklich bewegt über diese erste Anrede; denn trotz der Trophäe, dem makabren Angebinde, das er auf dem Herzen trug, hing er an Herrn Settembrini, legte großes Gewicht auf sein Dasein, und der Gedanke, gänzlich und auf immer von ihm verworfen und aufgegeben zu sein, wäre denn doch beschwerender und schrecklicher für seine Seele ge-wesen, als das Gefühl des Knaben, der in der Schule nicht mehr in Betracht gekommen war und die Vorteile der Schande ge-nossen hatte, wie Herr Albin … Doch wagte er nicht, von seiner Seite das Wort an den Mentor zu richten, und dieser ließ abermals Wochen vergehen, bis er sich dem Sorgenzögling wieder einmal näherte.

Das geschah, als auf den in ewig eintönigem Rhythmus an-rollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf "Berghof" begangen wurde, wie man alle Etappen und Umschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Ei-nerlei zu vermeiden. Beim ersten Frühstück fand jeder Gast ne-ben seinem Gedecke ein Veilchensträußchen, beim zweiten Frühstück erhielt jedermann ein gefärbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Häschen geschmückt aus Zucker und Scho-kolade.

"Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?" fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern her-antrat … Wie die Mehrzahl der Gäste kürzten sie heute den Hauptliegedienst um eine Viertelstunde, indem sie sich hier zu einem Kaffee mit Kognak niedergelassen hatten. "Ich bin erin-nert durch diese Häschen, diese gefärbten Eier an das Leben auf so einem großen Dampfer, bei leerem Horizont seit Wochen, in salziger Wüstenei, unter Umständen, deren vollkommene Be-quemlichkeit ihre Ungeheuerlichkeit nur oberflächlich verges-sen läßt, während in den tieferen Gegenden des Gemütes das Bewußtsein davon als ein geheimes Grauen leise fortnagt… Ich erkenne den Geist wieder, in dem man an Bord einer sol-chen Arche die Feste der terra ferma pietätvoll andeutet. Es ist das Gedenken von Außerweltlichen, empfindsame Erinnerung nach dem Kalender … Auf dem Festlande wäre heut Ostern, nicht wahr? Auf dem Festlande begeht man heut Königs Ge-burtstag, – und wir tun es auch, so gut wir können, wir sind auch Menschen … Ist es nicht so?"

Die Vettern stimmten zu. Wahrhaftig, so sei es. Hans Castorp, gerührt von der Anrede und vom schlechten Gewissen gespornt, lobte die Äußerung in hohen Tönen, fand sie geist-reich, vorzüglich und schriftstellerisch und redete Herrn Set-tembrini aus allen Kräften nach dem Munde. Gewiß, nur ober-flächlich, ganz wie Herr Settembrini es so plastisch gesagt habe, lasse der Komfort auf dem Ozean-Steamer die Umstände und ihre Gewagtheit vergessen, und es liege, wenn er auf eigene Hand das hinzufügen dürfe, sogar eine gewisse Frivolität und Herausforderung in diesem vollendeten Komfort, etwas dem Ähnliches, was die Alten Hybris genannt hätten (sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht), oder dergleichen, wie "Ich bin der König von Babylon!", kurz Frevelhaftes. Auf der anderen Seite aber involviere ("involviere"!) der Luxus an Bord doch auch ei-nen großen Triumph des Menschengeistes und der Menschen-ehre, – indem er diesen Luxus und Komfort auf die salzigen Schäume hinaustrage und dort kühnlich aufrecht erhalte, setze der Mensch gleichsam den Elementen den Fuß auf den Nacken, den wilden Gewalten, und das involviere den Sieg der mensch-lichen Zivilisation über das Chaos, wenn er auf eigene Hand diesen Ausdruck gebrauchen dürfe …

Herr Settembrini hörte ihm aufmerksam zu, die Füße ge-kreuzt und die Arme ebenfalls, wobei er sich auf zierliche Art mit dem Zahnstocher den geschwungenen Schnurrbart strich.

"Es ist bemerkenswert", sagte er. "Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So ist es Ihnen soeben ergangen, In-genieur. Was Sie da sagten, kam in der Tat aus dem Grunde Ihrer Persönlichkeit, und auch den zeitlichen Zustand dieser Per-sönlichkeit drückte es auf dichterische Weise aus: es ist immer noch der Zustand des Experimentes …"

"Placet experiri!" sagte Hans Castorp nickend und lachend, mit italienischem c.

"Sicuro, – wenn es sich dabei um die respektable Leidenschaft der Welterprobung handelt und nicht um Liederlichkeit. Sie sprachen von 'Hybris', Sie bedienten sich dieses Ausdrucks. Aber die Hybris der Vernunft gegen die dunklen Gewalten ist höchste Menschlichkeit, und beschwört sie die Rache neidischer Götter herauf, per esempio, indem die Luxusarche scheitert und senkrecht in die Tiefe geht, so ist das ein Untergang in Ehren. Auch die Tat des Prometheus war Hybris, und seine Qual am skythischen Felsen gilt uns als heiligstes Martyrium. Wie steht es dagegen um jene andere Hybris, um den Untergang im buh-lerischen Experiment mit den Mächten der Widervernunft und der Feindschaft gegen das Menschengeschlecht? Hat das Ehre? Kann das Ehre haben? Si o no!"

Hans Castorp rührte in seinem Täßchen, obgleich nichts mehr darin war.

"Ingenieur, Ingenieur", sagte der Italiener mit dem Kopfe nickend, und seine schwarzen Augen hatten sich sinnend "fest-gesehen", "fürchten Sie nicht den Wirbelsturm des zweiten Höllenkreises, der die Fleischessünder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten? Gran Dio, wenn ich mir einbilde, wie Sie kopfüber, kopfunter um-hergepustet flattern werden, so möchte ich vor Kummer umfal-len wie eine Leiche fällt …"

Sie lachten, froh, daß er scherzte und Poetisches redete. Aber Settembrini setzte hinzu:

"Am Faschingsabend beim Wein, Sie erinnern sich, Ingenieur, nahmen Sie gewissermaßen Abschied von mir, doch, es war etwas dem Ähnliches. Nun, heute bin ich an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus."

Beide verwunderten sich aufs höchste.

"Nicht möglich! Das ist nur Scherz!" rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast eben-so erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte: "Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und übrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklärt, daß in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können, als unhaltbar erweisen werde, ich hier meine Zelte abzubrechen und irgendwo im Orte mich für die Dauer einzurichten entschlossen sei. Was wollen Sie nun, – dieser Augenblick ist ein-getreten. Ich kann nicht genesen, es ist ausgemacht. Ich kann mein Leben fristen, aber nur hier. Das Urteil, das endgültige Urteil, lautet auf lebenslänglich, – mit der ihm eigenen Aufge-räumtheit hat Hofrat Behrens es mir verkündet. Gut denn, ich ziehe die Folgerungen. Ein Logis ist gemietet, ich bin im Be-griffe, meine geringe irdische Habe, mein literarisches Hand-werkszeug dorthin zu schaffen … Es ist nicht einmal weit von hier, in 'Dorf', wir werden einander begegnen, gewiß, ich wer-de Sie nicht aus den Augen verlieren, als Hausgenosse aber habe ich die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden."

So Settembrinis Eröffnung am Ostersonntag. Die Vettern hatten sich außerordentlich bewegt darüber gezeigt. Des längeren noch, und wiederholt, hatten sie mit dem Literaten über sei-nen Entschluß gesprochen: darüber, wie er auch privatim den Kurdienst weiter werde ausüben können, über die Mitnahme und Fortführung ferner der weitläufigen enzyklopädischen Arbeit, die er auf sich genommen, jener Übersicht aller schöngei-stigen Meisterwerke, unter dem Gesichtspunkt der Leidenskon-flikte und ihrer Ausmerzung; endlich auch über sein zukünfti-ges Quartier im Hause eines "Gewürzkrämers", wie Herr Set-tembrini sich ausdrückte. Der Gewürzkrämer, berichtete er, habe den oberen Teil seines Eigentums an einen böhmischen Da-menschneider vermietet, der seinerseits Aftermieter aufneh-me … Diese Gespräche also lagen zurück. Die Zeit schritt fort, und mehr als eine Veränderung hatte sie bereits gezeitigt. Set-tembrini wohnte wirklich nicht mehr im internationalen Sanatorium "Berghof", sondern bei Lukaçek, dem Damenschneider, – schon seit einigen Wochen. Nicht in Form einer Schlittenab-reise hatte sein Auszug sich abgespielt, sondern zu Fuß, in kur-zem, gelbem Paletot, der am Kragen und an den Ärmeln ein wenig mit Pelz besetzt war, und begleitet von einem Mann, der auf einem Schubkarren das literarische und das irdische Hand-gepäck des Schriftstellers beförderte, hatte man ihn stock-schwingend davongehen sehen, nachdem er noch unterm Portal eine Saaltochter mit den Rücken zweier Finger in die Wange gezwickt … Der April, wie wir sagten, lag schon zu einem gu-ten Teil, zu drei Vierteln, im Schatten der Vergangenheit, noch war es tiefer Winter, gewiß, im Zimmer hatte man knappe sechs Wärmegrade am Morgen, draußen war neungradige Kälte, die Tinte im Glase, wenn man es in der Loggia ließ, gefror über Nacht noch immer zu einem Eisklumpen, einem Stück Stein-kohle. Aber der Frühling nahte, das wußte man; am Tage, wenn die Sonne schien, spürte man hie und da bereits eine ganz leise, ganz zarte Ahnung von ihm in der Luft; die Periode der Schneeschmelze stand in naher Aussicht, und damit hingen die Veränderungen zusammen, die sich auf "Berghof" unaufhaltsam vollzogen, – nicht aufzuhalten selbst durch die Autorität, das le-bendige Wort des Hofrats, der in Zimmer und Saal, bei jeder Untersuchung, jeder Visite, jeder Mahlzeit das populäre Vorur-teil gegen die Schneeschmelze bekämpfte.

 

Ob es Wintersportsleute seien, fragte er, mit denen er es zu tun habe, oder Kranke, Patienten? Wozu in aller Welt sie denn Schnee, gefrorenen Schnee brauchten? Eine ungünstige Zeit, – die Schneeschmelze? Die allergünstigste sei es! Nachweislich gäbe es im ganzen Tal um diese Zeit verhältnismäßig weniger Bettlägrige, als irgendwann sonst im Jahre! Überall in der wei-ten Welt seien die Wetterbedingungen für Lungenkranke zu dieser Frist schlechter als gerade hier! Wer einen Funken Ver-stand habe, der harre aus und nutze die abhärtende Wirkung der hiesigen Witterungsverhältnisse. Danach dann sei er fest gegen Hieb und Stich, gefeit gegen jedes Klima der Welt, vorausge-setzt nur, daß der volle Eintritt der Heilung abgewartet worden sei – und so fort. Aber der Hofrat hatte gut reden, – die Vorein-genommenheit gegen die Schneeschmelze saß fest in den Köp-fen, der Kurort leerte sich; wohl möglich, daß es der sich nä-hernde Frühling war, der den Leuten im Leibe rumorte und seßhafte Leute unruhig und veränderungssüchtig machte, – je-denfalls mehrten die "wilden" und "falschen" Abreisen sich auch im Hause Berghof bis zur Bedenklichkeit. Frau Salomon aus Amsterdam zum Beispiel, trotz dem Vergnügen, das die Untersuchungen und das damit verbundene Zurschaustellen feinster Spitzenwäsche ihr bereiteten, reiste vollständig wilder-und falscherweise ab, ohne jede Erlaubnis und nicht, weil es ihr besser, sondern weil es ihr immer schlechter ging. Ihr Aufent-halt hier oben verlor sich weit zurück hinter Hans Castorps An-kunft; länger als ein Jahr war es her, daß sie eingetroffen war, – mit einer ganz leichten Affektion, für die ihr drei Monate zu-diktiert worden waren. Nach vier Monaten hatte sie "in vier Wochen sicher gesund" sein sollen, aber sechs Wochen später hatte von Heilung überhaupt nicht die Rede sein können: sie müsse, hatte es geheißen, mindestens noch vier Monate bleiben. So war es fortgegangen, und es war ja kein Bagno und kein si-birisches Bergwerk hier, – Frau Salomon war geblieben und hatte feinstes Unterzeug an den Tag gelegt. Da sie nun aber nach der letzten Untersuchung, im Angesicht der Schnee-schmelze, eine neue Zulage von fünf Monaten erhalten hatte, wegen Pfeifens links oben und unverkennbarer Mißtöne unter der linken Achsel, war ihr die Geduld gerissen, und mit Protest, unter Schmähungen auf "Dorf" und "Platz", auf die berühmte Luft, das internationale Haus Berghof und die Ärzte reiste sie ab, nach Hause, nach Amsterdam, einer zugigen Wasserstadt.

War das klug gehandelt? Hofrat Behrens hob Schultern und Arme auf und ließ die letzteren geräuschvoll gegen die Schen-kel zurückfallen. Spätestens im Herbst, sagte er, werde Frau Salomon wieder da sein, – dann aber auf immer. Würde er recht behalten? Wir werden sehen, wir sind noch auf längere Erden-zeit an diesen Lustort gebunden. Aber der Fall Salomon war also durchaus nicht der einzige seiner Art. Die Zeit zeitigte Ver-änderungen, – sie hatte das ja immer getan, aber allmählicher, nicht so auffallend. Der Speisesaal wies Lücken auf, Lücken an allen sieben Tischen, am Guten Russentisch wie am Schlechten, an den längs – wie an den querstehenden. Nicht gerade, daß dies von der Frequenz des Hauses ein zuverlässiges Bild gegeben hätte; auch Ankünfte, wie jederzeit, hatten stattgefunden; die Zimmer mochten besetzt sein, aber da handelte es sich eben um Gäste, die durch finalen Zustand in ihrer Freizügigkeit einge-schränkt waren. Im Speisesaal, wie wir sagten, fehlte manch einer dank noch bestehender Freizügigkeit; manch einer aber tat es sogar auf eine besonders tiefe und hohle Weise, wie Dr. Blumenkohl, der tot war. Immer stärker hatte sein Gesicht den Ausdruck angenommen, als habe er etwas schlecht Schmecken-des im Munde; dann war er dauernd bettlägrig geworden und dann gestorben, – niemand wußte genau zu sagen, wann; mit aller gewohnten Rücksicht und Diskretion war die Sache behandelt worden. Eine Lücke. Frau Stöhr saß neben der Lücke, und sie graute sich vor ihr. Darum siedelte sie an des jungen Ziemßen andere Seite über, an den Platz Miß Robinsons, die als geheilt entlassen worden, gegenüber der Lehrerin, Hans Ca-storps linksseitiger Nachbarin, die fest auf ihrem Posten geblieben war. Ganz allein saß sie derzeit an dieser Tischseite, die üb-rigen drei Plätze waren frei. Student Rasmussen, der täglich dünner und schlaffer geworden, war bettlägrig und galt für moribund; und die Großtante war mit ihrer Nichte und der hoch-brüstigen Marusja verreist, – wir sagen "verreist", wie alle es sagten, weil ihre Rückkehr in naher Zeit eine ausgemachte Sache war. Zum Herbst schon würden sie wieder eintreffen, – war das eine Abreise zu nennen? Wie nah war nicht Sommerson-nenwende, wenn erst einmal Pfingsten gewesen war, das vor der Türe stand; und kam der längste Tag, so gings ja rapide bergab, auf den Winter zu, – kurzum, die Großtante und Marusja waren beinahe schon wieder da, und das war gut, denn die lachlustige Marusja war keineswegs ausgeheilt und entgiftet; die Lehrerin wußte etwas von tuberkulösen Geschwüren, die die braunäugige Marusja an ihrer üppigen Brust haben sollte, und die schon mehrmals hatten operiert werden müssen. Hans Ca-storp hatte, als die Lehrerin davon sprach, hastig auf Joachim ge-blickt, der sein fleckig gewordenes Gesicht über seinen Teller geneigt hatte.

Die muntere Großtante hatte den Tischgenossen, also den Vettern, der Lehrerin und Frau Stöhr ein Abschiedssouper im Restaurant gegeben, eine Schmauserei mit Kaviar, Champagner und Likören, bei der Joachim sich sehr still verhalten, ja, nur einzelnes mit fast tonloser Stimme gesprochen hatte, so daß die Großtante in ihrer Menschenfreundlichkeit ihm Mut zugespro-chen und ihn dabei, unter Ausschaltung zivilisierter Sittengeset-ze, sogar geduzt hatte. "Hat nichts auf sich, Väterchen, mach' dir nichts draus, sondern trink, iß und sprich, wir kommen bald wieder!" hatte sie gesagt. "Wollen wir alle essen, trinken und schwatzen und den Gram – Gram sein lassen, Gott läßt Herbst werden, eh wir's gedacht, urteile selbst, ob Grund ist zum Kum-mer!" Am nächsten Morgen hatte sie zur Erinnerung bunte Schachteln mit "Konfäktchen" an fast alle Besucher des Speise-saales verteilt und war dann mit ihren beiden jungen Mädchen etwas verreist.

Und Joachim, wie stand es um ihn? War er befreit und er-leichtert seitdem, oder litt seine Seele schwere Entbehrung an-gesichts der leeren Tischseite? Hing seine ungewohnte und em-pörerische Ungeduld, seine Drohung, wilde Abreise halten zu wollen, wenn man ihn länger an der Nase führe, mit der Abreise Marusjas zusammen? Oder war vielmehr die Tatsache, daß er vorderhand eben doch noch nicht reiste, sondern der hofrätli-chen Verherrlichung der Schneeschmelze sein Ohr lieh, auf jene andere zurückzuführen, daß die hochbusige Marusja nicht ernst-lich abgereist, sondern nur etwas verreist war und in fünf klein-sten Teileinheiten hiesiger Zeit wieder eintreffen würde? Ach, das war wohl alles auf einmal der Fall, alles in gleichem Maße; Hans Castorp konnte es sich denken, auch ohne je mit Joachim über die Sache zu sprechen. Denn dessen enthielt er sich ebenso streng, wie Joachim es vermied, den Namen einer anderen etwas Verreisten zu nennen.

Unterdessen aber, an Settembrinis Tisch, an des Italieners Platz, – wer saß dort seit kurzem, in Gesellschaft holländischer Gäste, deren Appetit so ungeheuer war, daß jeder von ihnen sich zu Anfang des täglichen Fünf-Gänge-Diners, noch vor der Suppe, drei Spiegeleier servieren ließ? Es war Anton Karlo-witsch Ferge, er, der das höllische Abenteuer des Pleurachoks erprobt hatte! Ja, Herr Ferge war außer Bett; auch ohne Pneumothorax hatte sein Zustand sich so gebessert, daß er den größ-ten Teil des Tages mobil und angekleidet verbrachte und mit seinem gutmütig-bauschigen Schnurrbart und seinem ebenfalls gutmütig wirkenden großen Kehlkopf an den Mahlzeiten teil-nahm. Die Vettern plauderten manchmal mit ihm in Saal und Halle, und auch für die Dienstpromenaden taten sie sich dann und wann, wenn es sich eben so traf, mit ihm zusammen, Nei-gung im Herzen für den schlichten Dulder, der von hohen Din-gen gar nichts zu verstehen erklärte und, dies vorausgesandt, überaus behaglich von Gummischuhfabrikation und fernen Ge-bieten des russischen Reiches, Samara, Georgien, erzählte, wäh-rend sie im Nebel durch den Schneewasserbrei stapften.

Denn die Wege waren wirklich kaum gangbar jetzt, sie be-fanden sich in voller Auflösung, und die Nebel brauten. Der Hofrat sagte zwar, es seien keine Nebel, es seien Wolken; aber das war Wortfuchserei nach Hans Castorps Urteil. Der Frühling focht einen schweren Kampf, der sich, unter hundert Rückfällen ins Bitter-Winterliche, durch Monate, bis in den Juni hinein, erstreckte. Schon im März, wenn die Sonne schien, war es auf dem Balkon und im Liegestuhl, trotz leichtester Kleidung und Sonnenschirm vor Hitze kaum auszuhalten gewesen, und es gab Damen, die schon damals Sommer gemacht und bereits beim ersten Frühstück Musselinkleider vorgeführt hatten. Sie waren in einem Grade entschuldigt durch die Eigenart des Klimas hier oben, das Verwirrung begünstigte, indem es die Jahreszeiten meteorologisch durcheinander warf; aber es war auch bei ihrem Vorwitz viel Kurzsicht und Phantasielosigkeit im Spiel, jene Dummheit von Augenblickswesen, die nicht zu denken vermag, daß es noch wieder anders kommen kann, sowie vor allem Gier nach Abwechslung und zeitverschlingende Ungeduld: man schrieb März, das war Frühling, das war so gut wie Sommer, und man zog die Musselinkleider hervor, um sich darin zu zei-gen, ehe der Herbst einfiel. Und das tat er, gewissermaßen. Im April fielen trübe, naßkalte Tage ein, deren Dauerregen in Schnee, in wirbelnden Neuschnee überging. Die Finger erstarr-ten in der Loggia, die beiden Kamelhaardecken traten ihren Dienst wieder an, es fehlte nicht viel, daß man zum Pelzsack gegriffen hätte, die Verwaltung entschloß sich, zu heizen, und je-dermann klagte, man werde um seinen Frühling betrogen. Alles war dick verschneit gegen Ende des Monats; aber dann kam Föhn auf, vorausgesagt, vorausgewittert von erfahrenen und empfindlichen Gästen: Frau Stöhr sowohl, wie die elfenbeinfarbene Lewi, wie nicht minder die Witwe Hessenfeld spürten ihn einstimmig schon, bevor noch das kleinste Wölkchen über dem Gipfel des Granitbergs im Süden sich zeigte. Frau Hessenfeld neigte alsbald zu Weinkrämpfen, die Lewi wurde bettlägrig, und Frau Stöhr, die Hasenzähne störrisch entblößt, bekundete stündlich die abergläubische Befürchtung, ein Blutsturz möchte sie ereilen; denn die Rede ging, daß Föhnwind dergleichen be-fördere und bewirke. Unglaubliche Wärme herrschte, die Hei-zung erlosch, man ließ über Nacht die Balkontür offen und hatte trotzdem morgens elf Grad im Zimmer; der Schnee schmolz gewaltig, er wurde eisfarben, porös und löcherig, sackte zusammen, wo er zu Hauf lag, schien sich in die Erde zu verkriechen. Ein Sickern, Sintern und Rieseln war überall, ein Tropfen und Stürzen im Walde, und die geschaufelten Schranken an den Straßen, die bleichen Teppiche der Wiesen verschwanden, wenn auch die Massen allzu reichlich gelegen hatten, um rasch zu ver-schwinden. Da gab es wundersame Erscheinungen, Frühlings-überraschungen auf Dienstwegen im Tal, märchenhaft, nie gese-hen. Ein Wiesengebreite lag da, – im Hintergrunde ragte der Schwarzhornkegel, noch ganz im Schnee, mit dem ebenfalls noch tief verschneiten Scalettagletscher rechts in der Nähe, und auch das Gelände mit seinem Heuschober irgendwo lag noch im Schnee, wenn auch die Decke schon dünn und schütter war, von rauhen und dunklen Bodenerhebungen da und dort unter-brochen, von trockenem Grase überall durchstochen. Das war jedoch, wie die Wanderer fanden, eine unregelmäßige Art von Verschneitheit, die diese Wiese da aufwies, – in der Ferne, ge-gen die waldigen Lehnen hin, war sie dichter, im Vordergrund aber, vor den Augen der Prüfenden, war das noch winterlich dürre und mißfarbene Gras mit Schnee nur noch gesprenkelt, betupft, beblümt … Sie sahen es näher an, sie beugten sich staunend darüber, – das war kein Schnee, es waren Blumen, Schneeblumen, Blumenschnee, kurzstielige kleine Kelche, weiß und weißbläulich, es war Krokus, bei ihrer Ehre, millionenweise dem sickernden Wiesengrunde entsprossen, so dicht, daß man ihn gut und gern hatte für Schnee halten können, in den er wei-terhin denn auch ununterscheidbar überging.

Sie lachten über ihren Irrtum, lachten vor Freude über das Wunder vor ihren Augen, diese lieblich zaghafte und nachahmende Anpassung des zuerst sich wieder hervorgetrauenden or-ganischen Lebens. Sie pflückten davon, betrachteten und unter-suchten die zarten Bechergebilde, schmückten ihre Knopflöcher damit, trugen sie heim, stellten sie in die Wassergläser auf ihren Zimmern; denn die unorganische Starre des Tales war lang ge-wesen, – lang, wenn auch kurzweilig.

 

Aber der Blumenschnee wurde mit wirklichem zugedeckt, und auch den blauen Soldanellen, den gelben und roten Pri-meln erging es so, die ihm folgten. Ja, wie schwer der Frühling es hatte, sich durchzuringen und den hiesigen Winter zu über-wältigen! Zehnmal ward er zurückgeworfen, bevor er Fuß fas-sen konnte hier oben, – bis zum nächsten Einbruch des Winters, mit weißem Gestöber, Eiswind und Heizungsbetrieb. Anfang Mai (denn nun ist es gar schon Mai geworden, während wir von den Schneeblumen erzählten), Anfang Mai war es schlecht-hin eine Qual, in der Loggia nur eine Postkarte ins Flachland zu schreiben, so schmerzten die Finger vor rauher Novembernässe; und die fünfeinhalb Laubbäume der Gegend waren kahl wie die Bäume der Ebene im Januar. Tagelang währte der Regen, eine Woche lang stürzte er nieder, und ohne die versöhnenden Ei-genschaften des hiesigen Liegestuhltyps wäre es überaus hart gewesen, im Wolkenqualm, mit nassem, starrem Gesicht, so viele Ruhestunden im Freien zu verbringen. Insgeheim aber war es ein Frühlingsregen, um den es sich handelte, und mehr und mehr, je länger er dauerte, gab er als solcher sich auch zu erken-nen. Fast aller Schnee schmolz unter ihm weg; es gab kein Weiß mehr, nur hie und da noch ein schmutziges Eisgrau, und nun begannen wahrhaftig die Wiesen zu grünen!

Welch milde Wohltat fürs Auge, das Wiesengrün, nach dem unendlichen Weiß! Und noch ein anderes Grün war da, an Zartheit und lieblicher Weiche das Grün des neuen Grases noch weit übertreffend. Das waren die jungen Nadelbüschel der Lär-chen, – Hans Castorp konnte auf Dienstwegen selten umhin, sie mit der Hand zu liebkosen und sich die Wange damit zu strei-cheln, so unwiderstehlich lieblich waren sie in ihrer Weichheit und Frische. "Man könnte zum Botaniker werden", sagte der junge Mann zu seinem Begleiter, "man könnte wahr und wahrhaftig Lust bekommen zu dieser Wissenschaft vor lauter Spaß an dem Wiedererwachen der Natur nach einem Winter bei uns hier oben! Das ist ja Enzian, Mensch, was du da am Abhange siehst, und dies hier ist eine gewisse Sorte von kleinen gelben Veilchen, mir unbekannt. Aber hier haben wir Ranunkeln, sie sehen unten ja auch nicht anders aus, aus der Familie der Ranunkulazeen, gefüllt, wie mir auffällt, eine besonders reizende Pflanze, zwittrig übrigens, du siehst da eine Menge Staubgefäße und eine Anzahl Fruchtknoten, ein Andrözeum und ein Gynä-zeum, soviel ich behalten habe. Ich glaube bestimmt, ich werde mir einen oder den anderen botanischen Schmöker zulegen, um mich etwas besser zu informieren auf diesem Lebens – und Wissensgebiet. Ja, wie es nun bunt wird auf der Welt!"

"Das kommt noch besser im Juni", sagte Joachim. "Die Wie-senblüte hier ist ja berühmt. Aber ich glaube doch nicht, daß ich sie abwarte. – Das hast du wohl von Krokowski, daß du Botanik studieren willst?"

Krokowski? Wie meinte er das? Ach so, er kam darauf, weil Dr. Krokowski sich neulich botanisch gebärdet hatte bei einer seiner Konferenzen. Denn der ginge freilich fehl, der meinte, die durch die Zeit gezeitigten Veränderungen wären so weit ge-gangen, daß Dr. Krokowski keine Vorträge mehr gehalten hätte! Vierzehntägig hielt er sie, nach wie vor, im Gehrock, wenn auch nicht mehr in Sandalen, die er nur sommers trug und also nun bald wieder tragen würde – jeden zweiten Montag im Speise-saal, wie damals, als Hans Castorp, mit Blut beschmiert, zu spät gekommen war, in seinen ersten Tagen. Drei Vierteljahre lang hatte der Analytiker über Liebe und Krankheit gesprochen, – nie viel auf einmal, in kleinen Portionen, in halb – bis dreiviertel-stündigen Plaudereien, breitete er seine Wissens – und Gedankenschätze aus, und jedermann hatte den Eindruck, daß er nie werde aufzuhören brauchen, daß es immer und ewig so weitergehen könne. Das war eine Art von halbmonatlicher "Tausend-undeine Nacht", sich hinspinnend von Mal zu Mal ins Beliebi-ge und wohlgeeignet, wie die Märchen der Scheherezade, einen neugierigen Fürsten zu befriedigen und von Gewalttaten abzu-halten. In seiner Uferlosigkeit erinnerte Dr. Krokowskis Thema an das Unternehmen, dem Settembrini seine Mitarbeit ge-schenkt, die Enzyklopädie der Leiden, und als wie abwand-lungsfähig es sich erwies, möge man daraus ersehen, daß der Vortragende neulich sogar von Botanik gesprochen hatte, ge-nauer: von Pilzen … Übrigens hatte er den Gegenstand viel-leicht ein wenig gewechselt; es war jetzt eher die Rede von Liebe und Tod, was denn zu mancher Betrachtung teils zart poeti-schen, teils aber unerbittlich wissenschaftlichen Gepräges Anlaß gab. In diesem Zusammenhang also war der Gelehrte in seinem östlich schleppenden Tonfall und mit seinem nur einmal an-schlagenden Zungen-R auf Botanik gekommen, das heißt auf die Pilze, – diese üppigen und phantastischen Schattengeschöpfe des organischen Lebens, fleischlich von Natur, dem Tierreich sehr nahe stehend, – Produkte tierischen Stoffwechsels, Eiweiß, Glykogen, animalische Stärke also, fanden sich in ihrem Auf-bau. Und Dr. Krokowski hatte von einem Pilz gesprochen, der berühmt schon seit dem klassischen Altertum seiner Form und der ihm zugeschriebenen Kräfte wegen, – einer Morchel, in de-ren lateinischem Namen das Beiwort impudicus vorkam, und dessen Gestalt an die Liebe, dessen Geruch jedoch an den Tod erinnerte. Denn das war auffallenderweise Leichengeruch, den der Impudicus verbreitete, wenn von seinem glockenförmigen Hute der grünliche, zähe Schleim abtropfte, der ihn bedeckte, und der Träger der Sporen war. Aber bei Unbelehrten galt der Pilz noch heute als aphrodisisches Mittel.

Na, etwas stark war das ja gewesen für die Damen, hatte Staatsanwalt Paravant gefunden, der, moralisch gestützt durch des Hofrats Propaganda, die Schneeschmelze hier überdauerte. Und auch Frau Stöhr, die ebenfalls charaktervoll standhielt und jeder Versuchung zu wilder Abreise die Stirne bot, hatte bei Tisch geäußert, heute sei Krokowski denn aber doch "obskur" gewesen mit seinem klassischen Pilz. "Obskur", sagte die Unse-lige und schändete ihre Krankheit durch namenlose Bildungs-schnitzer. Worüber aber Hans Castorp sich wunderte, war, daß Joachim auf Dr. Krokowski und seine Botanik anspielte; denn eigentlich war zwischen ihnen von dem Analytiker ebensowe-nig die Rede, wie von der Person Clawdia Chauchats oder der Marusjas, – sie erwähnten ihn nicht, sie übergingen sein Wesen und Wirken lieber mit Stillschweigen. Jetzt aber also hatte Joachim den Assistenten genannt, – in mißlaunigem Tone, wie übrigens auch schon seine Bemerkung, daß er die volle Wiesen-blüte nicht abwarten wolle, recht mißlaunig geklungen hatte. Der gute Joachim, nachgerade schien er im Begriff, sein Gleich-gewicht einzubüßen; seine Stimme schwankte beim Sprechen vor Gereiztheit, er war an Sanftmut und Besonnenheit durchaus nicht mehr der alte. Entbehrte er das Apfelsinenparfüm? Brachte die Fopperei mit der Gaffky-Nummer ihn zur Verzweiflung? Konnte er nicht mit sich selber ins Reine darüber kommen, ob er den Herbst hier erwarten oder falsche Abreise halten sollte?