Ziegelgold

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Samstag 16:18 Uhr

Nachdem Alex zum Leidwesen seiner Eltern eine halbe Stunde versucht hatte, mit seiner E-Gitarre das Intro von AC/DCs 'Thunderstruck' einzuüben, fuhr er zu dem vereinbarten Treffpunkt. Tim war noch nicht da und so hatte Alex Zeit, sich schon mal umzusehen. Die beiden großen Schornsteine waren zwar stark verwittert, aber sie standen noch kerzengerade und ragten stolz in den grauen Himmel, als wollten sie von den vergangenen Zeiten erzählen, als die gesamte Gegend von den Ziegeleien noch gut leben konnte. Heute arbeiteten viele in der großen Müller-Werft oder waren weggezogen. Die Schornsteine waren seit über dreißig Jahren nicht mehr im Gebrauch und sind vom Einsturz bedroht. Das Gelände war weiträumig eingezäunt und an jeder Ecke stand das Schild 'BETRETEN VERBOTEN. ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KINDER'.

Wie jedes Kind in Kleiborg kannte Alex natürlich die Schlupflöcher im Zaun. Er war schon öfter auf dem Gelände gewesen, weil er hier in den alten Tongruben sein Mountainbike mal richtig ausfahren konnte. In die alten Gemäuer ging er aber nur ungern. Zum einen, weil seine Eltern ihn immer wieder gewarnt hatten, dass das alte Dach beim erstbesten Sturm zusammenbrechen könnte, und zum anderen traf sich hier gerne die Clique der 17-Jährigen in den Resten der alten Villa, um ungestört ihr billiges Bier zu trinken. Da sie noch keinen Führerschein hatten und es im Dorf keinen Jugendtreff gab, hatten sie den verlassenen Ort für ihre Treffen ausgesucht. Die Erwachsenen waren davon zwar wenig begeistert, tolerierten dies jedoch stillschweigend.

Alex wollte sich gerade mit seinem Rad durch den Zaun zwängen, als er hörte, wie sich Tim näherte. „Tut mir leid, auf dem Kopfsteinpflaster hat sich der Lenker wohl ein wenig gelöst...“, rief er schon von weitem. Ein Blick auf Tims Klamotten reichte Alex aus, um sich den Sturz mit dem steuerlosen Gefährt vorzustellen. Die tiefgrüne Farbe, die sich von Tims Jeans bis zu seiner Jacke hinaufzog, ließ auf einen mittelgroßen Kuhfladen schließen. „Keine Details bitte“, unterbrach er seinen Freund und rümpfte die Nase. Dann schob er sein Fahrrad durch die schmale Lücke, die hinter einer alten Weide kaum zu sehen war. Etwas angesäuert stellte Tim sein Rad an das alte, stark verrostete Werkstor. Er nahm sich viel Zeit, um es mit einem auffällig neu aussehenden Kryptonit-Schloss anzuschließen. Dann folgte er Alex durch die Lücke im Zaun. Der sah ihn nur mitleidig an. „Hast du Angst, dass jemand das alte Tor klaut oder warum schließt du deinen Schrotthaufen daran fest?“ Tim, der keine Lust mehr hatte, auf die dummen Sprüche seines Freundes einzugehen, ging wortlos an ihm vorbei in Richtung Ziegelei. Alex zuckte die Achseln und trottete langsam hinterher. Ein verschlammter Weg führte direkt auf die beiden großen Schornsteine zu.

Die riesige Ruine sah in der beginnenden Dämmerung trostlos und unheimlich aus. Die großflächigen roten Dächer waren an vielen Stellen unter dem Druck der schweren Dachziegel eingefallen, so dass man zum Teil die morsche Dachkonstruktion sehen konnte, die nun schutzlos Wind und Wetter ausgeliefert war. Die großen Fenster waren fast alle zerschlagen. Alex wusste aus Zeitungsberichten, dass einige seltene Fledermausarten in dem alten Gemäuer Zuflucht gefunden hatten. Die Freunde liefen weiter auf ein altes Transformatorenhäuschen zu, das mit zahlreichen Graffiti verziert war. Die großen Isolatoren standen bedrohlich aussehend von dem kleinen Backsteinturm ab. Überall wucherten Brennnesseln, meterhohe Disteln und wild wachsende Birken. Das ganze Gelände war übersät mit Glasscherben und alten Ziegeln in den unterschiedlichsten Formen.

Vorsichtig gingen die Freunde auf das größte Gebäude der alten Ziegelei zu. Die nur etwa zwei Meter hohen Seitenwände waren zum Teil eingebrochen, so dass man relativ einfach hineinklettern konnte, denn die großen Tore an der Stirnseite waren mit dicken Vorhängeschlössern gesichert. Die Freunde sprachen kein Wort und schlichen etwas geduckt auf das dunkle Loch in der Wand zu, als Alex plötzlich im Halbdunkel gegen einen harten Gegenstand stieß. Blitzartig breitete sich ein stechender Schmerz von seinem linken Fuß aus, der Alex stöhnend in die Knie zwang. Tim, der etwa zwei Meter vor ihm war, drehte sich um und sah seinen Freund mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegen. Sofort eilte er ihm zur Hilfe.

„Das sieht gar nicht gut aus“, sagte Tim leise, als er einen Blick auf den verletzten Fuß warf. „Der muss sofort gekühlt werden, sonst hast du morgen eine Mordsschwellung und kannst das Spiel gegen die Bremer vergessen.“ Alex krümmte sich bei der Berührung vor Schmerzen und biss sich auf die Unterlippe, während Tim nach der Ursache der Verletzung suchte. Im Gestrüpp verbarg sich ein altes Gleis, das kaum zu erkennen war. Die alten Schienen dienten früher dem Transport des Tons und führten zu den großen Stahltoren, die stellenweise vom Rost zerfressen waren. Man konnte die hellblaue Farbe nur noch erahnen, die sie in den Glanzzeiten der Ziegelei einmal hatten. Tim wollte Alex gerade auf die Beine helfen, als sie den trüben Schein einer Taschenlampe wahrnahmen. Er kam direkt aus dem Loch in der Wand.

Die Freunde ließen sich wie auf ein Kommando in das lange Gras fallen und hielten den Atem an. Keiner sagte ein Wort. Der Lichtkegel wurde langsam größer und bewegte sich direkt auf sie zu. Alex versuchte zurückzukriechen. Er brach den Versuch aber sofort ab, als ihn ein höllischer Schmerz in seinem linken Fuß stoppte. Er stöhnte leise. Im gleichen Augenblick blieb der Lichtkegel stehen und drehte sich langsam in ihre Richtung. „Scheiße“, dachte Alex und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Er hörte langsame und schwere Schritte auf sie zukommen. Alex und Tim verharrten völlig ruhig und bewegungslos. Alex fühlte, wie die Feuchtigkeit langsam seine Kleidung durchdrang. Er hoffte noch, dass der Fremde sie nicht entdecken möge, als ihm plötzlich das grelle Licht direkt ins Gesicht schien. Es war unmöglich, irgendetwas zu erkennen.

„Was macht ihr hier?“, hörte er eine tiefe, bedrohlich laut klingende Stimme. An Weglaufen war nicht zu denken, schon allein aufgrund seines lädierten Fußes. Alex blickte langsam hoch. Direkt vor ihm sah er zwei schwere geschnürte Lederstiefel. Er blickte weiter zu dem Mann hoch. Er trug eine schwarze Cargohose und eine dunkelgrüne Wachsjacke. Der Fremde hielt Alex die Taschenlampe direkt ins Gesicht: „He, habt ihr was mit den Ohren? Was macht ihr hier? Hier ist der Zutritt streng verboten!“ Tim stand langsam auf und half seinem Freund hoch. „Entschuldigung, wir suchen meinen Hund. Der ist heute Nachmittag weggelaufen. Ein brauner Mischling. Er hört auf den Namen Henk“, sagte Tim und klopfte seine Kleidung ab. Respekt, dachte Alex lächelnd. So eine Unverfrorenheit hatte er Tim gar nicht zugetraut. „Grins nicht so dämlich“, herrschte ihn der Mann an. „Und warum liegt ihr dann auf dem Boden?“ „Mein Freund hat sich den Fuß verletzt und kann nicht mehr gehen“, entgegnete Tim. Die Gesichtszüge des Mannes wurden etwas freundlicher. „Seht ihr? Darum habt ihr hier auch nichts zu suchen. Lass mal sehen.“

Der Mann beugte sich zu Alex herunter, streifte seinen Schuh ab und untersuchte den Fuß. „Damit solltest du zum Arzt gehen. Das könnte ein Bruch sein. Ich fahre dich hin. Euer Hund findet sicher auch so zurück.“ Alex traute sich nicht zu widersprechen. „Was machen Sie hier eigentlich?“ fragte Tim, der seinen Freund beim Gehen stützte. Zum ersten Mal lächelte der Fremde.

„Mein Name ist Dr. Eyken. Ich bin Historiker an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg und untersuche im Auftrag der Landesregierung die Geschichte der Ziegeleien zwischen Bremen und der holländischen Grenze.“ Die Freunde nickten anerkennend. Auf dem Rückweg hing Alex förmlich zwischen Tim und dem Historiker, da er kaum auftreten konnte. Jeder noch so vorsichtige Schritt verursachte einen stechenden Schmerz. Als sie an der Straße angekommen waren, waren alle drei vor Anstrengung atemlos. Nach einer kurzen Verschnaufpause packte Dr. Eyken die zwei Räder der Freunde in den Kofferraum seines Volvo Kombis. Dann stiegen sie ein und Alex nannte dem Doktor seine Adresse.

Nachdem sie ohne ein Wort zu wechseln eine Weile gefahren waren, drehte sich der Mann zu Tim um. „Warum hast du deinen Hund Henk genannt? Das ist ein recht seltener Name.“ Tim schluckte. Die Notlüge mit dem entlaufenen Hund war ihm spontan eingefallen. Dass er dabei den Vornamen des ehemaligen Ziegeleibesitzer Deependaal genannt hatte, war ihm so schnell gar nicht bewusst geworden. „Äh, also, der Hund, also Henk...“, stotterte Tim hilflos. Alex kam ihm zur Hilfe: „Tim hat den Hund aus dem Tierheim, und die hatten ihm dort den Namen gegeben.“ „Genau“, ergänzte Tim erleichtert. Der Mann sah skeptisch von einem zum anderen, sagte aber nichts.

Zwanzig Minuten später waren sie bei Alex' Eltern. Seine besorgte Mutter nahm ihren verletzten Sohn erschrocken in den Arm und machte dem verdutzten Tim Vorwürfe, wie er den Ausflug auf das alte Ziegeleigelände überhaupt hatte zulassen können. Inzwischen nahm Alex' Vater die Räder aus dem Kombi und bedankte sich per Handschlag bei Dr. Eyken. Als Alex kurze Zeit später mit ihm auf dem Weg zum Arzt war, konnte er sich erst einmal eine ordentliche Standpauke anhören. „Tausendmal gesagt“ und „viel zu gefährlich“ waren die einzigen Gesprächsfetzen, die Alex mitbekam.

„Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“ Der scharfe Ton der Frage seines Vaters riss Alex aus seinen Gedanken, die sich immer noch um die Geschehnisse auf dem Ziegeleigelände drehten. „Klar, Paps, immer doch“, antwortete er mit einem zuckersüßen Lächeln. Die Zornesfalten seines Vaters verschwanden und er musste lächeln. „Was war das eigentlich für ein Vogel, der euch nach Hause gebracht hat?“ Alex sah seinen Vater an. „Das war Dr. Eyken. Er ist Historiker in Oldenburg und schreibt eine wissenschaftliche Arbeit über Ziegeleien.“ Alex' Vater sah ihn aufmerksam an. „Historiker? Der hatte eine Lange & Söhne Saxonia am Handgelenk. Die kostet gut und gerne 20 000 Euro. Ich glaube, der hat euch ganz schön verschaukelt.“ Alex starrte seinen Vater an.

 

5

Sonntag 9:58 Uhr

Zum Glück war Alex' Fuß nicht gebrochen. Die gestrige Untersuchung bei seinem Hausarzt Dr. Behrends hatte ergeben, dass Alex sich nur drei Zehen verstaucht hatte. Nun saß er völlig frustriert am Beckenrand und durfte verfolgen, wie seine Mannschaft gegen die Bremer nach drei Vierteln mit 7:9 zurücklag. Falke wollte Alex partout nicht spielen lassen, nachdem er seinen Fuß gesehen hatte. Alle guten Worte, ihm ginge es doch gut, brachten nichts. Auf Tims an Logik kaum zu überbietendes Argument, Alex müsse doch nur schwimmen und nicht laufen, ging er erst gar nicht ein.

Wie üblich bei einem Rückstand hatte Falke einen hochroten Kopf und versuchte brüllend und wild gestikulierend seine junge Mannschaft anzutreiben. Aber mit Alex fehlte nun mal der Mannschaftskapitän, und das merkte man dem Spiel an. Jeder der sieben Jungen gab sein Bestes, aber es war kein System im Spielaufbau zu erkennen. Die Bremer witterten ihre Chance. Sie wurden immer stärker und trugen einen Angriff nach dem anderen auf das Tor von Welle vor. Welle war der Torwart und hieß eigentlich Jan. Da er der Schwerste der Mannschaft war und immer mit einer Arschbombe ins Wasser sprang, nannten ihn alle nur Welle. Er hielt heute fast jeden Ball und schwamm den Bremer Angreifern immer wieder furchtlos entgegen. Es waren noch drei Minuten zu spielen und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Hansestädter einen Vorsprung von drei Toren herausspielten. Der Bremer Trainer stand breitbeinig mit verschränkten Armen hinter dem Tor von Welle und griente herablassend, als hätte er den Sieg schon in der Tasche. Mit seiner Brille im Haar sah er total affig aus, fand Alex.

Plötzlich sprangen die Zuschauer auf. Tim hatte halblinks von Leo den Ball bekommen und schwamm nun direkt auf das Tor des Gegners zu. Ein Bremer Spieler kraulte ihm entgegen. Tim hatte sich den Ball bereits vorgelegt, als er plötzlich den Ellenbogen seines Gegners ins Gesicht bekam und laut aufschrie. Kein Pfiff. Die Schiedsrichterin ließ ungerührt weiterspielen. Alex sprang erregt auf, so dass sich sofort sein schmerzender Fuß meldete und ihn zwang, sich wieder zu setzen. Wasserball war zwar kein Sport für kleine Mädchen, aber das war ein klares Foul.

Sein Freund schwamm mit einer blutigen Nase an den Beckenrand. Wutentbrannt zog Falke ihn aus dem Wasser und schrie der Schiedsrichterin Worte zu, die Alex kaum verstand, so überschlug sich die Stimme seines Trainers vor Erregung. Fuchsteufelswild machte Falke einen angedeuteten Tritt in Richtung Unparteiische, mit dem ungewollten Ergebnis, dass seine rechte Badeschlappe im hohen Bogen über das Becken flog und 30 Zentimeter am Kopf der Schiedsrichterin vorbeischoss. Diese unterbrach das Spiel sofort und zeigte Paul Falkenstein die rote Karte. Kochend stampfte der aus der Halle. Der Bremer Trainer klatschte unverhohlen Beifall.

Alex witterte seine Chance. „Kann ich rein, Trainer?“, fragte er seinen Coach im Vorbeigehen. Falke warf ihm nur ein kurzen Blick zu. „Mach, was du willst. Hier macht ja sowieso jeder, was er will“, schüttelte er resigniert den Kopf und verließ die Halle. Mit einem kühnen Kopfsprung war Alex im Wasser. Der Schmerz im Fuß war vergessen.

Alex schwamm mit langen Kraulzügen in die Abwehrreihe und gab kurze Anweisungen: „Leo, vorne rechts. Welle, Spielaufbau über die rechte Seite. Lange Pässe auf Luca. Tom nimmt die 9 in Manndeckung. Los Männer, das packen wir noch.“ Er klatschte laut in die Hände. Das Spiel wurde wieder angepfiffen. Im Augenwinkel sah er das schmierige Grinsen des Gästetrainers. Freu' dich nicht zu früh, dachte Alex verbissen.

„Attacke!“, brüllte er so laut er konnte. Sein Gegenüber ließ vor Schreck den Ball los. Mit einer geschickten Armbewegung schnappte Alex sich den Ball und spielte einen langen Pass auf Luca. Der gab sofort weiter auf Leo, der kraulend den Ball bis vor das gegnerische Tor trug und aus knapp fünf Metern abzog. Krachend knallte die Kugel gegen die Latte. Alex war ebenfalls nach vorne geschwommen und holte sich mit einem kurzen Sprint den Abpraller. Zwei Bremer stürzten sich sofort auf ihn. Alex gab schnell an Leo ab. „Los, nochmal!“, rief er ihm zu. Diesmal machte Leo es besser. Wie ein Strich schoss der Ball in die obere rechte Ecke. Tor! Der Bremer Torwart war chancenlos. 8 : 9. Die Zuschauer sprangen auf. Sie fühlten, dass hier noch was ging.

Wiederanpfiff. Die Bremer waren im Ballbesitz. Ein langer Pass ging auf die Nummer Neun des Gegners, der schon drei Tore auf seinem Konto hatte. Sofort war Tom bei ihm und versuchte, ihm den Ball aus der Hand zu schlagen. Die Nummer Neun war von dem beherzten Angriff so irritiert, dass er direkt auf das Tor warf, anstatt auf seinen besser postierten Mitspieler zu passen. Welle hielt den Ball lässig mit einer Hand und grinste. „Ab!“, schrie er dann. Sein gewaltiger Abwurf fiel fünf Meter vor dem gegnerischen Tor ins Wasser. Mit zwei Zügen war Alex beim Ball. Er täuschte seinen Wurf nur an, und als der Bremer Torwart daraufhin in die rechte Ecke sprang, lupfte er den Ball ganz cool und lässig in die linke Torhälfte. Tor! 9 : 9. Die Halle kochte.

Der Bremer Trainer forderte wild mit den Armen rudernd bei der Schiedsrichterin eine Auszeit. Er versammelte seine Mannschaft am Beckenrand und machte seine Mannschaft noch mal heiß für die Endphase des Spiels. Dabei zeigte er öfter auf Alex. Nach Ablauf der Auszeit waren noch 21 Sekunden zu spielen.

Wiederanpfiff. Welle hatte den Ball und spielte auf Tom. Der schwamm auf der rechten Seite in die Bremer Hälfte. Alle Gegenspieler versammelten sich vor ihrem Tor. Noch 12 Sekunden. Tom passte auf Luca, der den Ball sofort an Alex weitergab. Alex fing ihn mit der rechten Hand, sprintete auf das gegnerische Tor und drehte sich blitzschnell um. Er erkannte, dass der Bremer Torwart zu weit vor dem Tor stand. Kraftvoll zog er den rechten Arm zurück und visierte die linke Ecke des Tores an. „Vorsicht Alex!“, schrie Tim mit einem blutigen Taschentuch vor der Nase vom Beckenrand. Zu spät. Der Bremer Verteidiger griff Alex brutal von hinten in den Wurfarm. Alex schrie auf vor Schmerz. Der Pfiff kam diesmal sofort. Die Schiedsrichterin zeigte unmissverständlich die Herausstellung des Verteidigers und einen Strafwurf an. Der Bremer Trainer rastete nun völlig aus und warf seine Sonnenbrille auf den Boden. Die Zuschauer sprangen auf. Die Uhr zeigte 4 Sekunden Restspielzeit.

Alex griff sich schmerzverzerrt an die rechte Schulter. An einen Strafwurf war nicht zu denken. „Welle wirft“, sagte er bestimmt. Kein Mitspieler wagte zu widersprechen. Welle nahm den Ball und schwamm zur Fünf-Meter-Linie. In der Halle war kein Laut zu hören. Welle holte kraftvoll aus. Tim biss am Beckenrand vor Aufregung in sein Taschentuch. Welles kräftiger Arm schnellte wie eine Stahlfeder nach vorne. Der Ball verließ seine Hand. Im gleichen Augenblick schoss der gegnerische Torwart torpedoartig aus dem Wasser. Er ahnte die richtige Ecke. Mit Brachialgewalt hämmerte Welle die Kugel aufs Tor. Um Zentimeter verfehlten die Fingerspitzen des Torwarts den Ball, dann schlug der Keeper laut aufs Wasser auf. Tor! 10 : 9! Die Zuschauer sprangen jubelnd von ihren Sitzen. Den Schlusspfiff der Schiedsrichterin bekam in der Halle kaum noch jemand mit.

Alle wollten Alex auf die Schulter klopfen, als er aus dem Wasser kam. Er hatte das Spiel noch mal herumgerissen. Tims Vater hatte Falke angerufen, der sofort wieder in die Halle kam. „Na, so wie das aussieht, braucht ihr mich ja gar nicht“, sagte er lachend und schickte seine Jungs unter die Dusche.

Im Foyer der Halle standen bereits die begeisterten Eltern und warteten auf die erfolgreichen Sportler. Tims Opa war auch dabei und lud Tim und Alex zur Belohnung zu „Apfelkuchen mit Schlagsahne satt“ ein. „Aber erst“, mischte sich Falke ein, „gehen wir alle zu Paolo. Los Jungs. Ich geb `ne Pizza aus.“ Unter großem Jubel verließ die Mannschaft die Schwimmhalle.

6

Sonntag 15:28 Uhr

„Mensch Opa, dein Apfelkuchen ist Weltklasse“, schmatzte Tim und nahm noch einen großen Löffel Schlagsahne. „Toll“, nuschelte Alex mit vollem Mund, „dass Sie für unseren Sieg extra einen Kuchen gebacken haben.“ Tims Großvater schmunzelte. „Na, so ganz stimmt das ja nicht. Ich hatte gestern Besuch und dafür hatte ich den Kuchen gebacken. Jetzt im Herbst weiß ich ja gar nicht, wohin mit den vielen Äpfeln. Leider hat Herr Dr. Eyken nur ein Stück gegessen.“

Alex ließ vor Schreck die Kuchengabel fallen. „Dr. Eyken?“, stammelte er ungläubig. „Mensch Alex, der freundliche Mann, der uns gestern nach Hause gefahren hat. Du hast vielleicht ein Gedächtnis“ sagte Tim vorwurfsvoll. Alex war noch gar nicht dazu gekommen, Tim von der teuren Armbanduhr zu erzählen. „Ja, ja, schon klar. Was wollte der denn?“, fragte er betont beiläufig, als er unter dem Küchentisch seine Gabel suchte. „Dr. Eyken sucht Nachkommen von ehemaligen Arbeitern und Angestellten der Ziegelei. Er schreibt wohl irgendeine wissenschaftliche Arbeit darüber. Er fragte, ob ich noch Aufzeichnungen von meinem Vater, also deinem Uropa habe“, lautete die Antwort oberhalb des Tisches. „Und, haben Sie?“, kam prompt die nächste Frage unterm Küchentisch hervor. Alex fiel es zunehmend schwerer, möglichst unauffällig zu fragen. Tims Opa beugte sich unter den Tisch und nahm die Tischdecke zur Seite, um Alex sehen zu können. „Jo, habe ich.“ war seine kurze Antwort.

Alex knallte wuchtig an die Tischkante, als er den Kopf hochriss. Super, dachte er, nach drei verstauchten Zehen und einer Schulterzerrung kommt jetzt auch noch eine Gehirnerschütterung dazu. „Alles klar?“, fragte Tim besorgt, als Alex mühsam wieder zum Vorschein kam und sich den Kopf hielt, um die Größe der sich ankündigenden Beule abzuschätzen. „Junge, Junge. Ihr seid ja genauso neugierig wie der Doktor. Irgendwo im Stall muss noch ein alter Lederkoffer stehen. Dr. Eyken wollte morgen früh vorbeikommen, um zu sehen, ob er für ihn brauchbare Unterlagen enthält.“ Alex und Tim sahen sich stumm an.

Nachdem die drei noch über das Wasserballspiel am Vormittag diskutiert hatten, drängte Alex zum Aufbruch und zog Tim förmlich vom Sofa. „So, wir müssen jetzt weiter. Wir haben in 20 Minuten eine Mannschaftsbesprechung. Vielen Dank für den leckeren Kuchen.“ Tim sah seinen Freund irritiert an. Falke hatte heute morgen nichts von einer Mannschaftsbesprechung gesagt. Doch bevor er fragen konnte, war Alex schon mit ihm draußen.

Vor der Haustür riss Alex Tim zur Seite, damit sie nicht vom Küchenfenster aus gesehen werden konnten. Bevor Tim fragen konnte, was denn los sei, zog Alex sein Handy aus der Jacke. „Warte, ich erzähl dir gleich alles!“, sagte er und tippte eine Nummer ein. Während er auf die Verbindung wartete, sah er Tim verschwörerisch an.

„ - - - Äh. Hallo. Ich hätte gerne die Nummer der Universität in Oldenburg. - - - Ja. - - - Das Institut für Geschichte bitte. - - - Gerne - - - Danke. - - - Hallo. Ich hätte gerne Herrn Dr. Eyken gesprochen. - - - Ja, ich weiß, dass Sonntag ist. - - - Ja, ich warte. Danke. - - - Schönen guten Tag, Herr Professor Hagen, tut mir leid, Sie am Wochenende bei der Arbeit zu stören. Ich hätte gerne Herrn Dr. Eyken gesprochen. - - - Ja - - - Ja. - - - Oh, das wusste ich nicht. - - - Das tut mir leid. - - - Nein, nicht so wichtig - - - Danke! Auf Wiederhören!“

„Das ist echt der Hammer“, stammelte Alex, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Was denn? Mensch, nun mach es nicht so spannend.“ Tim hüpfte vor Ungeduld von einem Bein zum anderen. „Stell dir vor. Dr. Eyken ist letztes Jahr im September auf einer Studienreise in Florenz an einem Herzinfarkt gestorben.“ Tim sah ihn entgeistert an. „Wie, gestorben? Letztes Jahr? Und gestern...? “ „...hat uns jemand komplett verarscht“, beendete Alex den Satz.

Alex berichtete von der teuren Armbanduhr und dem Gespräch mit seinem Vater. „Wir müssen unbedingt den Koffer von deinem Uropa finden, bevor der falsche Doktor wiederkommt“, sagte er dann. Tim sah in empört an. „Frechheit, meinen Opa so zu verarschen. Warum gibt der Mann nicht seine richtige Identität an?“, fragte er etwas ratlos. „Na, liegt das nicht auf der Hand? Der hat irgend etwas zu verbergen. Ich nehme an, weil er vermutet, dass der Goldschatz von Deependaal noch irgendwo in der Ziegelei verborgen ist“, antwortete Alex. Tim pfiff durch die Zähne. „Okay, dann müssen wir den geheimnisvollen Koffer nur vor diesem Betrüger finden. Komm, lass uns mal in der Scheune nachsehen. Einen großen Lederkoffer sollten wir eigentlich finden“, sagte Tim nach einer kurzen Überlegung. Die Beiden schlichen vorsichtig zur grünen Holztür des ehemaligen Stalls. Sie hatten oft in der Scheune gespielt, als sie noch jünger waren. Die ehemaligen Boxen der Kühe waren immer noch voll gestellt mit allerhand Gerätschaften, Gartenmöbeln und alten Fahrrädern. Hier hat sich in den letzten Jahren nichts verändert, dachte Alex, als er sich im Halbdunkeln umsah.

 

„Wir sollten zuerst oben suchen. Wenn mein Opa nicht genau weiß, wo sich der Koffer befindet, liegt er sicher irgendwo oben herum. Da kommt er nur selten hin. Ich besorge uns nur noch schnell eine Taschenlampe“, flüsterte Tim und suchte in einer alten, mit Farbflecken überzogenen Kommode. Nach einem kurzen Funktionstest stieg er mit der Taschenlampe im Mund die alte Holzleiter am Ende des Stalls hoch. Jeder Tritt wurde dabei von einem lauten Knarzen begleitet. Ab und zu blieb Tim stehen, um sich fluchend die Spinnweben aus dem Gesicht zu wischen. Alex blickte nach oben und wartete, bis sein Freund angekommen war. Zwei Leute auf einmal traute er der altersschwachen Leiter nicht zu. Ein lautes Husten und eine große Staubwolke, die Tim aufgewirbelt hatte, waren für Alex das Zeichen nachzukommen. Mutig stieg er nach oben. Das er Höhenangst hatte, wussten nur er und seine Eltern. Und so sollte es auch bleiben.

Oben angekommen befanden sich die beiden Freunde in circa vier Meter Höhe über dem Stallboden. Alex lief ein Schauer über den Rücken, aber er ließ sich nichts anmerken. Beide bewegten sich vorsichtig nach vorne, bis sie sich oberhalb des Wohntraktes befanden, der direkt an den Stall grenzte und vom gleichen Dach bedeckt wurde. Gulfhof wurde diese Art von Bauernhäusern genannt, erinnerte Alex sich an den Sachkundeunterricht aus der Grundschulzeit. Es drang nur wenig Tageslicht in den alten Speicherraum. Sie fanden mehrere Kartons mit alten Schulbüchern, ein Paar Armeestiefel, ein Schaukelpferd aus Holz, mehrere Stühle, eine Stehlampe und weitere Dinge, die sie nicht weiter interessierten. „Was ist das da hinten, das große Ding?“ Tim leuchtete mit der Taschenlampe in eine dunkle Ecke. Die Freunde sahen sich kurz an und bewegten sich vorsichtig durch das herumstehende Gerümpel, um Tims Großvater nicht durch unnötigen Lärm auf sie aufmerksam zu machen. Sie erreichten eine, von einer dicken Staubschicht bedeckte, große braune Kiste. Sie sah aus, als wäre sie aus Leder und war mit einem altmodischen Schloss verriegelt.

„Warte, das kriege ich schon auf“, sagte Tim großspurig und drückte Alex die Taschenlampe in die Hand. Umständlich holte er sein Schweizer Offiziersmesser aus der Tasche und versuchte das Schloss zu knacken. „Du hast zu viele James Bond Filme gesehen“ lästerte Alex, als Tim das Schloss nach einigen Minuten immer noch nicht geöffnet hatte. Ein leises Klicken und der triumphierende Blick seines besten Freundes ließen ihn aber schnell verstummen. Vorsichtig öffnete Tim die Kiste. Mit einem lauten Quietschen gaben die eingerosteten Scharniere nach. Atemlos leuchtete Alex in die dunkle Kiste. Dort lag etwas rundes, flaches Schwarzes, eingebettet auf cremefarbenen Stoff. „Was ist denn das?“, fragte Tim und nahm die merkwürdige Scheibe heraus. Er drehte sie vorsichtig herum. Auf der anderen Seite war die Scheibe nur am Rand schwarz und in der Mitte weiß. In der Mitte der weißen Fläche war ein Viereck aufgenäht. Tim nahm Alex die Lampe ab und leuchtete genau auf die Stelle, um die kleinen Buchstaben zu entziffern. Dann musste er laut lachen. Er gab Alex mit einem vielsagenden Grinsen die Taschenlampe zurück und schlug die schwarze Scheibe kräftig auf seinen linken Unterarm. Mit einem satten Plopp veränderte die Scheibe schlagartig ihre Form: Tim hatte einen Zylinder in der Hand. „Wir haben die Hochzeitskiste gefunden“, lachte er und setzte den Zylinder auf. Alex musste ebenfalls lachen und nahm den hellen Stoff aus der Kiste, der sich als altes Brautkleid herausstellte.

Das laute Zuschlagen der Stalltür ließ die Jungen schlagartig verstummen. Zwei bekannte Stimmen näherten sich langsam. „Können wir nicht morgen nachsehen, Herr Doktor?“ Es war die Stimme von Tims Großvater. „Tut mir leid. Ich muss morgen zu einem Kongress nach London, einen erkrankten Kollegen vertreten. Mir wäre sehr daran gelegen, die Dokumente heute noch einzusehen.“ Die Stimme des falschen Dr. Eyken klang kühl und ließ keinen Widerspruch zu. „Wo verwahren Sie denn ihre persönlichen Dinge?“ Alex und Tim konnten keine Antwort hören, aber als sie das Knarren der alten Leiter hörten, wussten sie, dass die Männer auf dem Weg nach oben waren. „Scheiße. Los, hier lang“, zischte Tim seinem Freund zu und zog ihn weiter ins Dunkel des Speichers. Ohne das Licht der Taschenlampe zogen sie sich zurück. Von dort beobachteten sie, wie die Männer verschiedene Gegenstände begutachteten.

Dr. Eyken wirkte unzufrieden: „Sie haben doch gesagt, dass sich der Koffer ihres Vaters hier auf dem Speicher befindet.“ Tims Opa blieb auffallend freundlich. Der vermeintliche Doktortitel seines Gegenübers flößte ihm anscheinend Respekt ein. „Ich hab' das alte Ding seit Jahren nicht gesehen, Herr Doktor. Aber irgendwo wird er schon stehen.“ Die Männer gingen weiter in den Speicher hinein. Dr. Eyken hatte eine große amerikanische Taschenlampe in der Hand, die den Jungen schon bei der alten Ziegelei aufgefallen war. Auf allen Vieren krochen die Freunde weiter, um nicht entdeckt zu werden. Sie hatten das Ende des Dachbodens fast erreicht. „Komm, wir haben noch eine letzte Chance“, flüsterte Tim und wies auf den Schornstein.