Veyron Swift und der Schattenkönig

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Z serii: Veyron Swift #3
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»Der Schlüssel zum Lift …« Seiner Stimme waren Unruhe und Sorge anzumerken. »Er ist doch nicht etwa in die Hände des Schattenkönigs gefallen, oder?«

Tom war schockiert, wie gleichgültig dem Schatzkanzler das Schicksal des armen Kevin Uxbridge zu sein schien. Immerhin war der Mann ein treuer Diener Königs Floyds und glühender Verehrer Talassairs. Ein wenig mehr Loyalität und Anteilnahme hätte er durchaus verdient.

»Nein. Den hatte Mr. Uxbridge an sich genommen. Er ist ihm aus der Hand gefallen, als er auf den Unhold losgegangen ist. Ich habe ihn aufgehoben«, erklärte Danny, zog den kleinen, goldenen Schlüssel aus der Hosentasche und legte ihn Farin in die gierig ausgestreckte Hand.

»Der Altzwerg sei gepriesen! Damit ist der Zugang zu Talassair geschützt. Leider lässt sich der Lift auch ohne Schlüssel zurück nach oben fahren; lediglich der Halt am Tunnel muss entsperrt werden«, sagte Farin und steckte den Schlüssel weg.

»Schade. Sonst wäre der Schattenkönig unterirdisch gefangen. Ich hätte nicht darauf hoffen dürfen«, sagte Veyron.

Der Kanzler verkündete: »Ich lasse sogleich einen Trupp nach Fernwelt reisen und nach Mr. Uxbridge sehen. Er ist einer unserer treuesten Mitarbeiter, und das soll belohnt werden – falls er den Angriff des Schattenkönigs überlebt hat.«

Tom fragte sich, ob Farin seinen vorwurfsvollen Blick bemerkt hatte oder das auch so gesagt hätte. Jedenfalls war er etwas mit dem Zwerg versöhnt.

Hunter rieb sich die Arme, als ließe allein der Gedanke an den Schattenkönig sie frösteln, und wandte sich an Farin. »Kann dieser Dämon denn nicht durch dasselbe Tor wie wir hierher gelangen? Ihre Männer sollten auf der Hut sein.«

Der Kanzler bellte ein Lachen. »Junge Dame, ich versichere Euch, dass dies unmöglich ist. Durch die Tore der Illauri vermag nur derjenige zu reisen, der sich im Besitz eines Erlaubnissteins besitzt. Der Zauber, der auf diesen Durchgängen liegt, lässt sich weder täuschen noch umgehen. Ein Erlaubnisstein kann nur von der Person benutzt werden, der er anvertraut wurde. Es würde diesem Schurken also nicht einmal helfen, einen zu stehlen«, versicherte er ihr.

»Und wie kamen wir dann hindurch? Mr. Uxbridge hat uns keinen Erlaubnisstein gegeben«, hielt sie dagegen.

»Brauchte er auch nicht. Wir besitzen bereits einen. Tom hat ihn in seinem Geldbeutel«, mischte sich Veyron ein.

Alle mit Ausnahme Veyrons warfen Tom einen überraschten Blick zu, den er nur ratlos erwidern konnte. Dann dämmerte es ihm, und er klatschte sich die Hand an die Stirn. »Oh Mann! Königin Girian hat ihn mir nach unserem ersten Abenteuer in Elderwelt geschenkt. Ich hab ihn ja immer bei mir. Wie konnte ich das nur vergessen? Na, angesichts dieses Schattenmonsters auch kein Wunder, oder?«, rief er aus und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Er öffnete es und holte einen kleinen, blauen Kieselstein heraus.

Farin trat näher und bat darum, sich den Stein genauer ansehen zu dürfen. Tom hatte nichts dagegen.

Der Zwerg hielt ihn gegen das Licht und rief aus: »Tatsächlich, ein Fluss-Beryll Fabrillians. Eine wahre Kostbarkeit, die Ihr da in Eurer Hosentasche herumtragt, Meister Packard. Ihr müsst bei der Elbenkönigin in hoher Gunst stehen, wenn sie solche Geschenke macht. Hier, da habt Ihr ihn wieder. Verwahrt ihn gut! Er ist mehr wert als halb London, das versichere ich Euch«, sagte Farin und gab ihm den Kiesel zurück.

Mit ganz neuer Ehrfurcht steckte Tom ihn zurück in seinen Geldbeutel. Die Vorstellung vom Wert dieses winzigen Stücks Steins sprengte den Rahmen seiner Fantasie. Auf einmal wurde ihm heiß und kalt zur gleichen Zeit.

Farin lachte, als er seine Reaktion bemerkte, sowie die großen Augen, die Danny und Hunter machten.

Einzig Veyron schien diese Enthüllung vollkommen kalt zu lassen. »Schatzkanzler, wir sind hier, um das Horn des Triton aufzuspüren, und zwar, bevor das dem Schattenkönig gelingt. Ich bin sicher, dass dieser Schurke auf der richtigen Spur ist und uns allein deshalb so hart attackiert hat. Er will um jeden Preis verhindern, dass wir seine Absichten durchkreuzen. Das Horn könnte, wenn es in die falschen Hände gelangte, unermesslichen Schaden anrichten. Aus diesem Grund müssen wir es vor dem Schattenkönig und seinen Handlangern finden. Ich wäre Euch also sehr verbunden, wenn Ihr uns ein weiteres Mal die Silberschwan zur Verfügung stellen würdet. Dieses Flugschiff hat sich bei unseren letzten Abenteuern als ungemein nützlich erwiesen«, bat er den Zwerg.

Doch Farin schüttelte sofort den Kopf. »Das ist unmöglich. Der König ist mit der Silberschwan zu einem Treffen der Simanui geflogen. Wir erwarten ihn zwar heute Nachmittag zurück, doch danach braucht das Flugschiff erst einmal eine Wartung und muss aufgetankt werden«, lehnte er Veyrons Ersuchen ab.

In Tom regte sich Protest. Nach allem, was sie inzwischen für das Wohl Elderwelts getan hatten, durfte sie Farin nicht einfach so abkanzeln.

Doch bevor er seinem Unmut Luft machen konnte, fuhr Farin fort: »Aber ich kann Euch etwas anderes anbieten, und vielleicht können wir uns auf diese Weise gegenseitig helfen. Eine andere Mitfahrgelegenheit nämlich. Wir haben uns dazu entschlossen, das alte Projekt der Binnenmeer-Allianz wiederzubeleben. Palast Nr. 4 wurde speziell zu diesem Zweck in der Werft wieder seetüchtig gemacht. Ein ganzes Jahr haben die Vorbereitungsarbeiten gedauert, jetzt können wir endlich loslegen.«

Veyron hob interessiert die Augenbrauen, und auch Toms Neugierde war geweckt.

»Bitte erklärt das etwas näher, Schatzkanzler«, sagte Veyron.

Farin nickte und deutete auf die freien Stühle im Balkonzimmer. Er wartete, bis alle Platz genommen hatten, dann schloss er noch schnell die Balkontüren. Offenbar fürchtete er unerwünschte Lauscher. Tom fiel ein, dass Veyron unter Vögeln und Ratten Spione des Schattenkönigs vermutete, und so war das vielleicht gar keine so dumme Maßnahme.

»Im Jahr 1931 hatte die Piratenaktivität auf dem Binnenmeer Elderwelts zugenommen. Das Piratenvolk, müsst Ihr wissen, neigt zu tollkühnen Unternehmungen, und diese Halunken zögern nicht, mit ihren Booten selbst die größeren und schwerer bewaffneten Schiffe Talassairs anzugreifen. Sie störten nicht nur den Handel, sondern plünderten und brandschatzten zudem Hafenstädte an allen Küsten, wenn auch nicht unseren. Auch wenn Talassair noch nicht die Stärke von heute besaß, wäre es dem Gesindel doch technisch überlegen gewesen. Aber sie wussten, dass es Talassair aufgrund des Vertrages mit den Simanui verboten ist, seine überlegene Technologie im Krieg einzusetzen – außer im Verteidigungsfall, und den provozierten sie nie. Daher brauchten wir eine andere Strategie.

Unser König Julian kam auf die Idee der Binnenmeer-Allianz, in der sich die Küstenländer zu einem Verteidigungsbund zusammenschließen und gemeinsam gegen das Piratenvolk vorgehen sollten. Julian schickte seinen jüngsten Sohn, Prinz Francis, mit einem schnellen Dampfer aus, um bei den Küstenstaaten für die Allianz zu werben. Doch dann kam es zu einer Katastrophe. Das Schiff sank mit Mann und Maus. Niemand überlebte. Zusammen mit Prinz Francis starb auch die Idee der Binnenmeer-Allianz.

Durch das Eingreifen Maresias flaute das Piratenproblem ab – bis vor etwa drei Jahren. Seither ist kaum eine Schifffahrtsroute vor Überfällen sicher. Das Imperium Maresium, lange Zeit ein Garant für Frieden auf dem Meer, hat in jüngster Zeit mehr mit sich selbst zu tun. In den Ländern südlich der Piratenküste sind Rebellionen ausgebrochen. Dem Imperium Maresium gegenüber treue Fürsten wurden gestürzt, Bürgerkriege legten die Zentralgewalt dieser Länder in Schutt und Asche. Es gibt also niemanden mehr, der die Piraten vom Hinterland aus in Schach halten kann. Erneut hat sich Gesindel in Scharen an der Piratenküste angesiedelt und die alten Verstecke wieder aufgebaut. Der Abschaum Elderwelts nistet sich erneut an den unzähligen Fjorden der zerklüfteten Küste ein. Es ist schier unmöglich, sie dort zu belagern oder ihnen die Zufahrt zum Meer zu versperren, nicht einmal mit tausend Schiffen wäre das zu schaffen. Es gibt ungezählte Fluchtwege und geheime Kanäle, die hinein- und hinausführen. Das Imperium ist machtlos, und die Piraten werden immer frecher. Inzwischen haben sie sogar wahrhaftige Flotten aufgestellt, gegen die einzelne Patrouillenschiffe Maresias nichts mehr ausrichten können. Nicht wenige ihrer Besatzungen schlossen sich deshalb lieber den Piraten an, als auf verlorenem Posten zu kämpfen. Wir hören auch von Meutereien, in denen sich Mannschaft und Sklaven gegen ihre Kommandanten erheben. Geenterte Schiffe werden in die Piratenflotte integriert und die gefangenen Besatzungen entweder versklavt oder selbst zum Piratentum gezwungen. Es winkt reiche Beute. Viele der neuen Piratenfürsten schwimmen in Gold und Edelsteinen und können immer mehr Söldner und Abenteurer anheuern. Die Piraten sind dabei, eine neue Macht zu werden. Sie plündern, brandschatzen und erpressen, wo sie nur können; Lösegelder fließen in unvorstellbaren Summen. Inzwischen ist der ganze Seehandel auf dem Binnenmeer in Gefahr. Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, sind es künftig die Piraten, welche die Handelsrouten auf dem Binnenmeer kontrollieren, nicht mehr das Imperium oder wir.

Leider sind diese Banditen schlau genug, sich nicht zu nahe an unsere Küsten heranzuwagen, sodass wir unsere Flotte nicht einsetzen dürfen. Seit Taracil Großmeister der Simanui ist, werden die alten Verträge besonders streng ausgelegt. Aus dem Grund habe ich den König überredet, persönlich bei dem Zaubererorden vorstellig zu werden. Er soll für unser Vorhaben werben und zugleich ein paar Lockerungen des Vertrags erreichen. Wir müssen jetzt aktiv werden. Es steht fünf vor zwölf, was die Piratengefahr betrifft«, erzählte Farin.

 

Veyron nickte, als hätte er soeben eine Bestätigung erhalten. »Das ist das Werk des Schattenkönigs. Erst hat er die Staaten geschwächt, die den Piraten unmittelbar gefährlich werden könnten, wohl wissend, dass der Einfluss des Imperiums auf sie zu gering war, als dass es etwas dagegen hätte unternehmen können. Und nun braucht er das Horn des Triton, um die Gefahr, die Talassair für seine Pläne darstellt, auszuschalten. Das ist der Grund, warum er gerade jetzt danach suchen lässt.«

Farin nickte ernst. »Absolut möglich. Mit dem Horn des Triton könnte der Schattenkönig die Gezeiten kontrollieren, Stürme heraufbeschwören oder Küstenregionen mit riesigen Flutwellen vernichten. Er könnte jedes nicht unter seiner Kontrolle stehende Schiff versenken, während er für seine Schiffe beste Bedingungen schafft.«

Ein paar Augenblicke herrschte ratloses Schweigen im Balkonzimmer. Schließlich war es Danny, der aufsprang und mit der Faust in die offene Hand schlug. »Dann legen wir besser gleich los! Ich würde sagen, wir gehen sofort zu Ihrem schwimmenden Palast und machen uns auf die Socken. Je eher wir diesem schattenhaften Strauchdieb das Handwerk legen, umso besser«, entschied er.

Farin wirkte ob der Einsatzfreude seines Besuchers hoch erfreut. »Aber natürlich«, sagte er. »Sehen wir uns den Palast einmal an. Sowie der König eintrifft, legen wir ab und sind auf Mission. Ihr, Meister Swift, und Eure tapferen Begleiter seid allesamt eingeladen.«

Dann nahm der Schatzkanzler ein kleines Glöckchen und bimmelte ein paar Mal. Die Türen zum Balkonzimmer wurden geöffnet, und zwei menschliche Diener erschienen und verbeugten sich kurz.

»Lasst den Rolls Royce vorfahren. Wir statten Palast Nr. 4 einen Besuch ab«, verkündete Farin, worauf sich die beiden Diener sofort wieder zurückzogen.

Tom rieb sich unwillkürlich die Hände. Sie waren mittendrin in einem neuen Abenteuer! Und sie hatten mit Talassair den mächtigsten Verbündeten an der Seite, den sie in Elderwelt finden konnten.

Mit zwei großen, fabrikneuen Rolls Royce Phantom ging es hinunter zum Hafengelände. Schließlich kamen sie bei Dock Nr. 4 an, dem größten auf ganz Talassair. Dort herrschte reger Betrieb. Von den Ladeflächen altertümlicher Laster wurden Fässer und Kisten gehievt; Menschen und Zwerge transportierten diese mittels Kränen und Förderbändern weiter. Eine Menge an Schaulustigen hatte sich hinter einem weißen Absperrzaun versammelt. Sie schossen Erinnerungsfotos oder starrten fasziniert auf Palast Nr. 4. Tom erging es nicht anders. Schon auf der Fahrt hatte er hin und wieder einen Blick erhaschen und kaum fassen können, was sich seinen Augen bot. Danny und Hunter erging es nicht anders, nur Veyron blieb völlig unbewegt.

An der Hafenmauer lag ein riesiges Schiff. Sein Rumpf mochte von Bug bis Heck um die 300 Meter messen. Der steile, schmale Bug ragte fast senkrecht aus dem Wasser und machte den Eindruck, als könnte er die Wogen regelrecht zerschneiden. Das Heck lief dagegen flach aus und besaß einen großen, abgerundeten Überhang, der ihm ein fast balkonartiges Aussehen verlieh. An Bug und Heck ragten hölzerne, getakelte Masten schräg in den Himmel, als hätten sie sich der Gewalt des Fahrtwinds gebeugt. Die schneeweiß gestrichenen Deckaufbauten wurden von vier beigefarbenen Kaminen gekrönt, von denen die vorderen drei Dampf ausstießen. Der Rumpf war komplett in Schwarz gehalten, mit einem schmalen, goldfarbenen Band als oberem Abschluss.

»Das … das … das ist die Titanic«, entfuhr es Tom. »Floyd hat die Titanic nachbauen lassen?«

Hunter neben ihm stieß ein lautes Kichern aus. Danny pfiff leise durch die Zähne. »Da können unsere Multimilliardäre und Ölscheichs mit ihren Nussschalen nicht mithalten. Das nenn ich mal ’ne Luxusjacht! Die Titanic, das ist ja stark, echt stark! Nein, wirklich: absoluter Wahnsinn!«, rief er.

Veyron schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich muss eure Euphorie etwas bremsen. Werft einen Blick auf den Bug. Da steht ganz deutlich Olympic drauf. Das ist nicht die Titanic, sondern ihr Schwesterschiff«, widersprach er vollkommen ungerührt von dem Anblick.

Falls diese Korrektur sie auf den Teppich zurückbringen sollte, so erwies sich das als Fehlschlag. Tom staunte nur noch mehr. »Sie meinen, das ist gar kein Nachbau, sondern das Original. Das echte, wirkliche Schwesterschiff der Titanic

Veyron blickte so irritiert drein, als vermutete er irgendeine Falle hinter Toms Frage. »Das habe ich doch eben gesagt, nicht wahr? Du weißt doch, dass die Ramer-Könige seit jeher Schiffe, Panzer und Flugzeuge aus unserer Welt kaufen, die eigentlich verschrottet werden sollen«, erklärte er halblaut.

Farin neben ihm gluckste. »Genau so ist es. Das ist die echte RMS Olympic. Als sie 1939 in Inverkeithing abgewrackt worden ist, hat König Spencer die Einzelteile gekauft und hier auf Talassair wieder zusammensetzen lassen. Das hat ganze drei Jahre gedauert, und seitdem dient sie den Königen als Sommerpalast. Heute werden die Kessel zum ersten Mal seit siebzig Jahren wieder befeuert. Und sie laufen hervorragend. Kommt, wir gehen an Bord!«, sagte er und führte seine Besucher durch die Menschenmenge.

Man ließ sie durch die hölzerne Absperrung und wies sie an, zu einem hohen, gemauerten Turm zu gehen. Er reichte bis zur Hauptschleuse des D-Decks auf der Steuerbordflanke der Olympic, wo eine ausfahrbare Rampe Turm und Schiff miteinander verband. Im Gewusel des Docks fielen Tom bisweilen Zwerge und Menschen in vornehmen Gewändern auf. Ob die wohl ebenfalls an Bord des schwimmenden Palastes gehen wollten? »Wer sind die?«, fragte er Farin und deutete auf einen Zwerg in schillerndem Samtrock.

»Die Elite von Talassair, mein Junge. Die reichsten Menschen und Zwerge der ganzen Insel: Stahlmagnaten, Industrielle und Kaufleute. Dazu kommen berühmte Künstler und Millionäre, die sich des Königs Freunde nennen und zum erlesenen Kreis seines Hofstaats gehören. Alles in allem zwanzig Personen, bei Weitem weniger als sonst«, erklärte er.

Sie waren beim Turm angelangt, und Tom trat hinter Hunter durch die Tür. Innen befand sich nichts als eine Wendeltreppe, die bis zur Rampe führte. Tom erklomm Stufe um Stufe, bis ihm leicht schwindlig wurde.

Oben standen zwei mit Musketen bewaffnete Zwerge, die sie grimmig anschauten. »Die da«, brummte der eine und zeigte auf Tom, Hunter und Danny, »gehören weder zum Dienstpersonal noch zur Besatzung. Wer sind diese Personen, und was wünschen sie an Bord von Palast Nr. 4?«

Farin stemmte empört die Fäuste in die Hüften. »Freunde des Königs, du Maulwurf! Glaubst du etwa, der Schatzkanzler bringt irgendwelche unerwünschten Personen mit? Nun tretet zur Seite und lasst uns an Bord gehen!«, blaffte er die Wachen an.

Die beiden salutierten und traten dann zur Seite – sichtlich widerwillig. »Wir dienen allein dem König und nicht seinen Hofschranzen«, brummte der eine, worauf ihm Farin einen giftigen Blick zuwarf.

Als sie an den Wachen vorbeimarschiert waren und die Rampe betraten, erklärte Farin mit hörbarer Verlegenheit: »Ihr müsst die beiden entschuldigen. Sie gehören zur Leibwache des Königs, und die nimmt ihre Aufgabe sehr ernst. Die Männer fühlen sich niemand anderem verpflichtet als den Königen der Ramer-Dynastie.«

»Eine gute Wahl. Ein Zwerg kann weder bestochen noch durch Gewalt oder Drogen korrumpiert werden«, erkannte Veyron und wandte sich an Hunter und Danny. »Darum bildet das Volk der Zwerge auch das Gros der Ingenieure und Wachen auf der Insel. Sie sind die Geheimnisbewahrer, die dafür sorgen, dass Talassairs Technologie auf Elderwelt keine Verbreitung erfährt.«

Doch Hunter hörte ihm offenbar gar nicht zu. Zögerlich, Schritt für Schritt, näherte sie sich der Reling der Olympic, ungläubig staunend.

Danny, der neben ihr ging, begann breit zu grinsen. »Ja, da werden Mädchenträume wieder lebendig, was? Und ich dachte schon, man hätte dich aus einem Block Eis herausgemeißelt«, meinte er mit einer deutlichen Spur Sarkasmus in der Stimme.

Hunters Miene verschloss sich augenblicklich. Ohne Kommentar boxte sie sich an Danny vorbei und beeilte sich, an Bord zu gelangen.

Danny biss sich verärgert auf die Lippe. »Ach Mist«, grummelte er. »Das war wohl ein Wort zu viel.«

Im Empfangsraum der Olympic glaubte Tom, dass er heute aus dem Staunen nicht mehr herauskommen würde. Sämtliche Wände und die Decken waren mit edlem Holz vertäfelt. Von hinten angestrahlte Milchglasornamente spendeten weiches Licht. Glitzernde Lüster hingen von der Decke, dicke Teppiche dämpften die Schritte auf dem Boden, und die Wartestühle waren aus Edelholz, bezogen mit sanft schimmernden Seidenbezügen.

Links und rechts des Eingangs hatte ein Teil der Mannschaft Aufstellung genommen. Ein blau uniformierter Matrose blies eine kleine Seemannspfeife.

»Der Schatzkanzler ist an Deck!«, rief ein menschlicher Offizier mit Schirmmütze und drei goldenen Streifen an den Ärmeln.

Die angetretenen Matrosen, Offiziere und weiß uniformierten Stewards nahmen augenblicklich Haltung an.

»Rühren«, sagte Farin, und die Männer und Frauen entspannten sich. »Commander McMaster, wo finde ich den Kapitän?«, fragte Farin einen der Offiziere.

Der Angesprochene sagte zackig: »Auf der Kommandobrücke, Schatzkanzler. Wir bereiten das Auslaufen vor.« McMaster machte mit seinem sauber gestutzten Schnurrbart, dem geölten Scheitel und der passgenauen Uniform einen sehr professionellen, fast schon arroganten Eindruck.

Wir laufen aus?« Farin kniff die Augen zusammen. »Wer hat das angeordnet?«

»Der König selbst, Schatzkanzler. Er befindet sich auf direktem Wege hierher. So lautete seine letzte Order.«

Farin atmete tief durch. »Bringt uns auf dem schnellsten Weg zur Kommandobrücke, McMaster!«, ordnete er an.

Tom, Veyron, Danny und Hunter folgten ihnen kurzerhand.

Über das Große Treppenhaus, eine wahre Prachteinrichtung mit weißen Bodenfliesen, Holzvertäfelungen an den Wänden und einem Geländer aus feinstem filigranem Messingzierrat, erreichten sie das Bootsdeck, das, wie Commander McMaster erklärte, den Offizieren und der Mannschaft vorbehalten war. Er führte sie an Reihen großer, weißer Rettungsboote vorbei Richtung Bug, bis sie bei der Kommandobrücke angekommen waren. Tom sah sich mit Begeisterung die Kompasssäule und die zahlreichen Maschinentelegrafen aus glänzendem Messing an. Und erst das große, hölzerne Steuerrad! Im Raum befanden sich der Kapitän und einige Offiziere. Jeweils einige der Männer standen an den beiden Brückennocks und beobachteten das Verladen der Güter und Gerätschaften, die auf dieser Reise mitgenommen werden sollten.

»Captain Haddock«, rief Farin den Kommandanten der Olympic an.

Ein Mann von beeindruckender Größe und Statur drehte sich herum. Obwohl der Älteste der Offiziere im Raum, sah man ihm die schiere Kraft seiner dicken Muskelpakete unter der schneeweißen Uniform sofort an. Ebenso beeindruckend war sein Schnauzer, der in einen breiten, gepflegten Backenbart überging. »Schatzkanzler«, brummte er mit einem kurzen Nicken, dann trat er zu Hunter und deutete mit einer zackigen Verbeugung einen Handkuss an. »Ma’am … Captain James Haddock, zu Ihren Diensten. Willkommen an Bord der Olympic, Palast Nr. 4 und Flaggschiff der königlichen Handelsflotte von Talassair.«

Farin schnitt eine etwas beleidigte Grimasse, als fühlte er sich durch die knappe Begrüßung übergangen oder gering geschätzt. Gerade wollte er zu einer Erwiderung ansetzen, als ihn Haddocks tiefe Stimme auch schon wieder abwürgte. »Darf ich Ihnen meine Crew vorstellen? Mein Chefoffizier, Commander Tengli …«

Ein grauhaariger Zwerg, dessen Kopfhaar nahtlos in seinen sorgfältig gestutzten Bart überging, trat vor und verbeugte sich tief. »Zu Diensten«, sagte er und schwenkte in ausladender Geste seine Schirmmütze, die er sich danach unter den Arm klemmte.

Haddock fuhr fort: »Meinen Ersten Offizier, Mr. William McMaster kennen Sie bereits. Das da drüben ist mein Zweiter Offizier, Lieutenant-Commander Maim …« Ein junger Zwerg mit schwarzem Bart zog respektvoll seine Schirmmütze. »Die Lieutenants John Hervert und Berti Boxminster, Dritter und Vierter Offizier.«

Die angesprochenen Männer traten vor und deuteten eine höfliche Verbeugung an. Beide waren noch sehr jung, höchstens zehn Jahre älter als Tom.

Farin holte tief Luft und beeilte sich, die Gesprächspause des Kapitäns zu nutzen. »Entschuldigt meine Unhöflichkeit, Kapitän«, sagte er mit diplomatischer Freundlichkeit. »Ich hörte, Ihr habt den Auslaufbefehl gegeben?«

 

»Ganz recht. Der König hat es vorhin angeordnet«, erwiderte Haddock und reichte Farin einen kleinen Zettel, auf dem eine Reihe von Worten geschrieben stand. Ungläubig las sich der neben dem Hünen von Kapitän noch kleiner wirkende Schatzkanzler die Nachricht durch.

Derweil trat ein Matrose an Captain Haddock heran und überreichte ihm einen weiteren Zettel. »Das kam soeben aus dem Funkraum. Der König befindet sich im Landeanflug. Er will an Deck landen, aber … aber das geht doch gar nicht«, stammelte der junge Mann.

Haddock trat aus dem Brückenhaus in die Nock und suchte den Himmel ab. Nirgendwo war ein Flugzeug zu erkennen, schon gar kein chromsilbernes Flugschiff mit den Ausmaßen einer Luxusjacht.

»Aufs Achterdeck, da haben wir eine bessere Sicht über die Lagune. Nehmen Sie das tragbare Funkgerät mit, Matrose. Mal sehen, ob sich unser Souverän einen Scherz erlaubt. Tengli, die Brücke gehört Ihnen«, entschied Haddock.

Sofort machten er und McMaster sich auf den Weg nach achtern. Veyron, Farin, Tom, Danny und Hunter folgten ihnen unaufgefordert über das Bootsdeck, an den Rettungsbooten vorbei und in die Deckaufbauten treppauf, treppab und durch eine verwirrende Zahl von Gängen zum Achterdeck.

In der Luft konnten sie jetzt schon das typische tiefe Brummen eines sich im Anflug befindlichen Flugzeugs vernehmen. Doch Tom kam das Geräusch heller und auch weniger laut vor, als er es von der Silberschwan gewohnt war. Die wurde immerhin von zwölf Propellermotoren angetrieben, die einen schier infernalischen Lärm verursachten.

»Das ist nicht die Silberschwan«, behauptete er.

Haddock eilte die Leiter der Dockbrücke hinauf, die sich quer über das Achterschiff spannte und im wahrsten Sinne des Wortes einer Brücke glich. In der Mitte standen ein Steuerrad sowie einige in Messing gefasste Steuergeräte. Wie die anderen schaute Tom sich nach allen Seiten um, in der Hoffnung, das Flugzeug am Himmel zu entdecken.

Veyron war der schnellste von ihnen. »Da, von Nordwesten kommend, auf elf Uhr, tief über dem Wasser«, sagte er und deutete in die entsprechende Richtung. Alle drehten sich um und reckten die Köpfe, um etwas sehen zu können.

»Das ist kein Flugzeug«, erkannte Danny. In seiner Stimme schwang eine gehörige Portion Staunen, aber auch Verunsicherung mit.

Ein Ungeheuer wie aus einer anderen Welt jagte mit irrsinniger Geschwindigkeit über die Wellen. Ein gigantisches Insekt, von den vorstehenden Augen bis zum Stachel in etwa so lang wie ein alter Cadillac.

»Eine Giganthornisse«, rief Tom entgeistert. »Ich wusste gar nicht, dass es noch welche gibt!«

»Natürlich«, rief Veyron. »Wir hatten die überlebenden Exemplare damals dem Orden der Simanui überantwortet. Schön zu sehen, dass die Zauberer den Wert dieser Monster erkannt haben. Sieh nur, wie schön der schwarzgelbe Hinterleib glänzt; das Tier wird gut gepflegt.«

Die lastwagengroße Hornisse rauschte heran, stieg etwas höher und sauste mit lautem Brummen über die ersten Hafengebäude hinweg. Jetzt konnte Tom auch erkennen, dass unmittelbar hinter dem braunen Kopf zwischen den vier riesigen Flügelpaaren zwei menschliche Gestalten saßen, die vordere groß und hager, die hintere klein und gedrungen. In den Straßen der Stadt wurden panische Angstschreie laut. Tom sah die Hafenarbeiter alles stehen und liegen lassen und die Flucht ergreifen.

»Heiliges Kanonenrohr!«, schnappte Captain Haddock. »Ist das etwa König Floyd, der da auf diesem Monster sitzt? Was macht er denn da?«

»Er jagt seinen Untertanen einen gehörigen Schrecken ein, Sir«, kommentierte Commander McMaster das Offensichtliche.

Die Giganthornisse beschrieb eine Kurve und tauchte gleich noch einmal in die Straßenschluchten von Talassairs Hauptstadt ein. Reifen quietschten, es knallte und schepperte. Hier und da schrillten Polizeipfeifen, auf den Türmen sprangen heulende Alarmsirenen an.

»Nicht schon wieder«, seufzte Tom. »Gleich rücken die Panzer aus, und dann geht’s hier richtig rund. Jemand muss Floyd zur Vernunft bringen!«

»Zu spät«, rief Haddock.

Unten in den Straßen und auf den Docks am Hafen sammelten sich bereits mit Musketen bewaffnete Zwerge. Hervorragend gedrillt, bildeten sie eine geschlossene Gefechtslinie und legten auf Befehl gleichzeitig ihre Gewehre an. Jemand bellte: »Feuer!«, und sie drückten den Abzug durch. Paff, paff, paff! Pulverwolken stoben auf. Die Hornisse raste über ihre Köpfe hinweg.

»He! Die schießen ja auf uns«, drang König Floyds Stimme aus dem tragbaren Funkgerät des Matrosen, der soeben schnaufend herbeigeeilt kam.

»Sir, der König … konnte nicht eher … Bitte um Verzeihung, Sir!«

Haddock riss ihm das Gerät aus den Händen und brüllte: »Majestät, hier spricht Captain Haddock. Können Sie mich hören?«

»Warum schießen die auf mich? Sehe ich etwa aus wie ein Schrat? Ich bin’s doch nur, euer König!«, erklang Floyds Stimme.

Das Pfeifen von Querschlägern übersteuerte für einen Moment die Lautsprecher des Funkgeräts. McMaster und Farin waren aus Sorge um ihren Souverän leichenblass, Haddock schüttelte dagegen nur den Kopf.

Eine andere Stimme drang aus dem Funkgerät. »Bringt unsere Hintern endlich raus aufs Meer, verdammt!« Es war die brummige Stimme von Zwerg Toink, Chefmechaniker des Flugschiffs Silberschwan.

»Wie redest du denn mit deinem König?«, beschwerte sich Floyd.

»Ich schmeiß meinen König gleich nach unten, wenn er uns nicht endlich aus der Schusslinie bringt! Lasst mich ans Steuer, sofort!«, antwortete Toink aufgebracht.

Die Hornisse sauste jetzt im Tiefflug über die Docks und Lagerhallen. Das Tier bockte, warf sich unkontrolliert hin und her. Noch immer feuerten die Zwergenwachen auf das Monster, doch ihre altertümlichen Musketenkugeln konnten den Panzer des Gigantinsekts nicht durchschlagen. Dafür versetzten sie Floyd in helle Panik. »Ein Staatsstreich! Hilfe, Farin! Hilfe, man will mich ermorden!«

Haddock rief ins Funkgerät, dass Floyd sich beruhigen solle, doch der König wollte – oder konnte – nicht hören. Die Giganthornisse war vollkommen außer Kontrolle.

Es war wie immer Veyron, der den Grund dafür erkannte. Ohne ein Wort entwand er Haddock das Funkgerät. »Floyd, hier spricht Veyron Swift, bitte antworten Sie.«

»Veyron! Dich schickt der Himmel! Man will mich …«

»Nehmen Sie die Hände vom Kopf und greifen Sie der Hornisse in den Nackenpelz, so wie man es Ihnen bei den Simanui gezeigt hat«, befahl Veyron.

Tom sah, dass der Lenker der Hornisse dem Befehl nachkam. Augenblicklich beruhigte sich das riesige Tier und flog in gerader Linie weiter.

»Nun drehen Sie vorsichtig nach rechts und befehlen der Hornisse, langsamer zu fliegen. Nähern Sie sich Palast Nr. 4 von achtern. Das ist hinten am Schiff, falls Ihnen das mehr sagt als der Seemannsausdruck.«

In weitem Bogen drehte die Giganthornisse auf die Olympic zu und näherte sich. Ihre riesigen Flügel verursachten einen Wind, der Tom fast von den Beinen riss und den Offizieren die Schirmmützen vom Kopf blies. An Deck schrien nun die Matrosen auf und flohen in alle Richtungen.

Haddock wandte sich an McMaster. »Veranlassen Sie die Maßregelung dieser Männer. Feiglinge werden an Bord nicht toleriert«, befahl er grimmig.

Tom biss sich auf die Lippe. Eine solche Strenge hatte er Haddock zwar zugetraut, doch kam sie angesichts der Umstände ein wenig unerwartet. Dieser Mann war die Disziplin in Person.

Die Giganthornisse setzte zur Landung an; geschickt navigierte sie zwischen den Tauen des Hauptmasts hindurch und landete auf dem Achterdeck. Die Flügel kamen zum Stillstand und legten sich an den Körper. Gehorsam senkte das gigantische Insekt seinen Leib, und Floyd und Toink schnallten sich los. Der König im kostbar aussehenden perlmuttfarbenen Anzug rutschte vom Sattel und sprang auf das Deck. Er zog Fliegerhaube samt Schutzbrille vom Kopf und warf sie von sich. Dann breitete er feierlich die Arme aus. »He! Euer König ist an Deck!«, rief er den herbeieilenden Mannschaftsmitgliedern zu, unter denen sich auch Tom und die anderen Fernweltler befanden.