Veyron Swift und der Orden der Medusa

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Z serii: Veyron Swift #2
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Ich erkannte, dass sie alles bereits geplant und vorbereitet hatte. Darum willigte ich in ihre Anweisungen ein. Eigentlich mag ich keine Abenteuer und ihre Maßnahmen erschienen mir übertrieben verrückt. Doch die Aussicht, den Simanui zu begegnen, machte mich dennoch neugierig. Nur wenige Maresier hatten bislang die Ehre, diese edlen Zauberer zu sehen oder gar mit ihnen zu sprechen.

›Wie gelange ich zu den Simanui? Es heißt, sie leben auf einer fernen Insel im Meer, nicht im Norden‹, warf ich ein. Ennia nickte eifrig und erklärte, dass es in den Wäldern auf dem Mons Coronus ein Tor gäbe, durch das man sofort im Land der Simanui landen würde.

›Vor langer Zeit wurde es von einem uralten Zaubervolk geschaffen, den Illauri. Noch niemand aus Maresia ist jemals dort hindurch gegangen, aber ich habe lange Zeit Nachforschungen angestellt und bin überzeugt, dass dies der richtige Weg zu den Simanui ist. Meister Daring kam jedenfalls immer vom Mons Coronus herunter, wenn er unser Reich besuchte, auch wenn das jetzt siebzehn Jahre zurückliegt.‹

Ich war noch immer skeptisch, aber einverstanden. Es war ja nur eine Reise von drei Tagen. Zudem lag unser Ziel innerhalb sicherer Grenzen, was sollte da schon passieren?«

Während sich Veyron alle Details durch den Kopf gehen ließ, nippte Iulia ein weiteres Mal am Wasserglas. Felton und Moore saßen wie zwei brave Schuljungen auf der gegenüberliegenden Couch, während Tom neben der Prinzessin Platz genommen hatte und ihr gebannt zuhörte.

Die Pause dauerte Veyron offenbar zu lange. Darum machte er eine ungeduldige Geste mit der Hand.

Iulia fuhr fort.

»Zwei Tage später brachen wir auf, mitten in der Nacht und nur zu dritt: die Sklaven Titus und Ursus und ich selbst. Die Stadt ließen wir rasch hinter uns. Titus schlug den geraden Weg nach Norden ein. Zunächst folgten wir dem Lauf der Via Imperia, der großen Hauptstraße, doch sobald die Stadtmauern Gloria Maresias außer Sicht gerieten, wichen wir von der Straße ab und ritten querfeldein in Richtung Osten. Niemand schien uns bemerkt zu haben. Zur gleichen Zeit verließ meine Freundin Lucretia Bassia in meiner persönlichen Kutsche die Hauptstadt. Alle Welt sollte glauben, ich wäre es, die nach Neavenna reiste.

Wir schliefen nur wenig, und Titus gab den Rhythmus vor: alle drei Stunden eine Stunde Schlaf. Die beiden Sklaven waren hart im Nehmen, ihnen schien das zu reichen. Ich dagegen schlief mehrmals auf dem Pferd ein. Nicht nur einmal wäre ich beinahe aus dem Sattel gefallen.

Auch am darauffolgenden Morgen blieben wir auf unserer Reise unerkannt. Das lange Reiten war ich nicht gewohnt und mein Gesäß schmerzte bereits. Darum marschierten wir viele Stunden neben den Pferden. Erst später setzten wir unseren Ritt fort. Wir kamen auf diese Weise gut voran und schafften annähernd achtzig Meilen an unserem ersten Tag.

In der nächsten Nacht entdeckte Titus einen Reiter, der uns folgte. Gegen das Licht des Mondes konnten wir seine schlanke Statur erkennen. Es war eine Frau, daran bestand kein Zweifel, vielleicht nur eine Reisende wie wir. Als wir anhielten, um die Reiterin nach ihrem Weg zu fragen, stoppte sie ebenfalls und blieb in sicherer Entfernung. Titus kam dies sofort verdächtig vor, auch Ursus war vorsichtig. Wir beschlossen, diese Nacht durchzureiten und erst bei Tagesanbruch ein Lager aufzuschlagen. Wer war die Unbekannte, warum blieb sie auf Abstand? Fürchtete sie uns, oder sollten wir uns besser vor ihr fürchten?

Mit den ersten Sonnenstrahlen verschwand unsere Verfolgerin plötzlich. Wir gönnten uns etwas Ruhe, glaubten sie abgehängt zu haben. Mittags war sie jedoch wieder da, immer in Sichtweite, doch weit genug entfernt, um nicht mehr von ihr erkennen zu können. Sie trug einen weiten schwarzen Kapuzenmantel, darunter ein schwarzes, ledernes Gewand. Ihr Gesicht war durch einen dunklen Schleier verborgen. Das beflügelte unsere Ängste noch mehr. War es etwa die schreckliche Gorgone? Der ganze Plan Ennias war dahin, alle Heimlichkeit umsonst. Jetzt gab es nur noch eines: Wir mussten den Mons Coronus so schnell als möglich erreichen.«

Iulia legte eine weitere kurze Pause ein und rieb sich die Oberarme, als würde es sie frieren.

Veyron hörte ihr konzentriert und mit geschlossenen Augen zu. Tom konnte jedoch erkennen, wie sie hinter den Lidern hin und her sprangen und die rasenden Gedanken seines Paten verrieten.

»Bitte erzählt Eure Geschichte weiter, Hoheit«, forderte Veyron Iulia auf.

Die Prinzessin blinzelte erschrocken, als hätte er sie aus einem Traum geweckt.

»Verzeiht, Meister Swift. Aber mich erfüllt diese Verfolgerin noch immer mit Schaudern. Nun gut … Inzwischen hatten wir weitere zweihundert Meilen zurückgelegt, die Grünen Hügel lagen direkt vor uns. Es ist eine Kette von Hügeln, keiner sonderlich hoch, aber es sind annähernd fünfhundert, die sich, einem grünen Meer gleich, wie Wellen aneinanderreihen. Dahinter beginnen die ruhigen Gegenden Maresias, wo es kaum Städte gibt, dafür aber viel Ackerbau und Viehzucht. Selbst hier durchzieht die Via Imperia das Reich und riesige Aquädukte leiten Wasser in die wichtigsten Städte des Imperiums. Hinter diesen einfachen Ländereien liegt das Hochland. Dank unserer Verfolgerin wurden wir immer schneller, selbst die kurzen Schlafpausen ließen wir bald aus.

Als wir in der zweiten Nacht ein Lager aufschlugen, verzichteten wir auf ein Feuer und aßen unseren Proviant roh. Das hatte ich noch nie zuvor getan und ich hoffe, ich muss es auch niemals wieder. Eine Reise dieser Art ist nur etwas für Legionäre, aber nichts für jemanden aus dem Senatsadel – und für Frauen erst recht nicht. Mehr als einmal bedauerte ich jetzt, auf Ennias verrückten Plan eingegangen zu sein. Allein die Angst, unserer Verfolgerin in die Arme zu laufen, hielt mich von einer Umkehr ab.

Es war Titus, der schließlich den Plan ersann, unsere Verfolgerin anzugreifen. Er wollte unbedingt herausfinden, wer sie war und warum sie uns verfolgte. Von uns dreien glaubte er am wenigsten, dass es sich tatsächlich um die Medusa handelte, sondern er hielt sie für eine Dirne, die uns im Auftrag Consilians hinterher spionierte. Ursus war ganz seiner Meinung. Ich hatte deshalb keine andere Wahl, als den beiden Sklaven nachzugeben. Was hätte ich auch tun sollen? Meinen Widerworten wollten die beiden nicht Folge leisten. Sie beriefen sich auf Ennias Befehle, nur ihr allein schuldeten sie Gehorsam.

Also stellten wir unserer Verfolgerin eine Falle. Ich ritt allein mit den drei Pferden weiter, während sich Ursus und Titus im Unterholz versteckten, mit Zweigen und Laub getarnt. Wie erwartet zeigte sich unsere Gegnerin in sicherer Entfernung – und tatsächlich: Sie schluckte den Köder! Ursus und Titus warteten, bis sie auf ihrer Höhe vorbeiritt, dann sprangen die beiden aus ihrem Versteck und fielen über sie her. Ursus, ein Riese von einem Mann, packte ihr Pferd am Zaumzeug und hielt es fest, während Titus die Frau aus dem Sattel zerrte. Ich wendete und ritt so schnell ich konnte, um unsere Verfolgerin zu verhören, ehe die beiden Sklaven sie erschlugen.

Meine Sorgen verwandelten sich bald in schreckliche Furcht, denn unsere Verfolgerin war nicht einfach eine billige Dirne, die auf Geld und Abenteuer aus war. Sie war so stark wie Ursus und schneller als Titus. Mit bloßer Hand schmetterte sie die beiden zu Boden. Ich hielt im Galopp auf sie zu und wollte sie niederreiten. Doch die Fremde wirbelte blitzschnell herum und hob ihre Arme. Zwei schwarze Schlangen schossen aus ihren Ärmeln, giftige Vipern mit glühenden Augen. Die Pferde bäumten sich auf, wieherten voller Panik, ich konnte mich gerade noch festhalten. Fast wären die Gäule durchgegangen, aber Titus war sofort wieder auf den Beinen, fing die Leinen ein und beruhigte die Tiere. Ursus zog sein Schwert und erschlug die Vipern. Unsere Verfolgerin dagegen entkam in die Finsternis.

Nun hatten wir Gewissheit: niemand anderes als Medusa selbst war uns auf den Fersen. Wer sonst könnte Vipern nach einem schleudern? Ursus und Titus hatten sogar noch Glück, dass die Gorgone sie nicht versteinerte, sondern den Rückzug bevorzugte.

Titus war unglücklich wegen des Zeitverlusts, darum ritten wir den ganzen nächsten Tag so schnell wie es die Gesundheit unserer Pferde zuließ. Wir schafften an die hundert Meilen bis zum Sonnenuntergang und erreichten das Hochland, dort, wo nur noch vereinzelt Menschen lebten. Der Mons Coronus türmte sich vor uns auf.

Es wurde bereits finsterste Nacht, als wir die Hänge hinauftrabten. Der Weg schlängelte sich an der Seite des Berges hoch, überwuchert mit Gras und kleinen Sträuchern. Aber da wir eine sternenklare Nacht und obendrein Vollmond hatten, konnten wir genug erkennen und den Aufstieg wagen. Doch nun suchte uns das Unglück endgültig heim.

Auf einmal hörten wir lautes Heulen in der Ferne, wie Wolfsgeheul, nur dunkler und bösartiger. Es kam von unten aus dem Tal. Was wir zu sehen bekamen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren.

Acht gewaltige Bestien hielten von Norden her auf uns zu, jedes der Monster größer als ein Pferd. Es waren Fenriswölfe, schreckliche Ungeheuer. Ich kannte sie aus den alten Geschichten, die sich in den Tagen des Dunklen Meisters zugetragen hatten. Sie haben lange Schnauzen voller Reißzähne, runde, kleine Ohren und einen dicken, fleischigen Schwanz. Es heißt, dass die Barbaren im hohen Norden diese Kreaturen noch heute fürchten. Die Pferde bäumten sich auf. Wir bekamen ihre Angst zu spüren. Darum schlugen wir ihnen die Fersen in die Flanken und jagten weiter den Berg hinauf. Der dichte Wald weiter oben war der einzige Schutz vor diesen Bestien, auf den wir hoffen konnten.

Die Fenrisse kamen jedoch nicht allein, sondern trugen Reiter, jeder drei von ihnen. Einmal blickte ich mich um und erkannte, was sie waren: Schrate! Diese krummbeinigen, schiefgesichtigen Unholde mit ihrer krank aussehenden Haut, den fettigen Haaren und Rüstungen aus Stahl, Leder und Fell. Die geheimnisvolle Reiterin war verschwunden – von ihr war weit und breit nichts mehr zu sehen. Vielleicht hatte auch sie vor den angreifenden Fenrissen Reißaus genommen, oder sie hatte die Schrate überhaupt erst alarmiert und auf unsere Fährte geführt.

 

Die Fenrisse mochten nicht so schnell wie ein Pferd sein, aber sie waren ausdauernder und unsere Tiere waren ob der langen Reise erschöpft. Sie begannen bereits zu stolpern. Die Ungeheuer holten immer weiter auf. Da wendete Ursus plötzlich sein Pferd und stürmte den Schraten mit Gebrüll entgegen.

Titus fluchte und folgte ihm.

›In den Wald, Prinzessin, in den Wald! Findet das Tor der Simanui‹, rief er mir noch zu.

Ich erkannte, dass mir die beiden Zeit verschaffen wollten. Also ritt ich so schnell ich konnte, denn die Angst hatte mich bis tief in die Knochen erfüllt. Noch nie in meinem Leben habe ich mich sosehr gefürchtet. Hinter mir vernahm ich das Kampfgeschrei meiner beiden Begleiter, ihre entsetzten Ausrufe, das mörderische Knurren und Bellen der Fenrisse und das begeisterte, mordgierige Gejohle der Schrate. Die Schlacht war kurz, Reiter samt Pferden wurden vermutlich niedergemacht, erschlagen und zerfetzt. Ich sah sie niemals wieder. Jetzt waren die Schrate hinter mir her.

Mein Tier wurde immer müder, verlor rasch an Geschwindigkeit. Die Fenriswölfe holten auf. Ich trieb mein Pferd weiter an, zwang es die Flanke des Berges hinauf, bis der Wald endlich dichter wurde. Doch so leicht wollten die Schrate nicht aufgeben. Einige waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet und schossen wütend hinter mir her. Zum Glück waren sie keine begnadeten Schützen, aber ein einziger glücklicher Treffer würde reichen, um mir den Tod zu bringen. Und tatsächlich: ein Pfeil erwischte mein Ross. Es bäumte sich vor Schmerz auf, verlor das Gleichgewicht, stürzte und warf mich aus dem Sattel. Schnell war mein verwundetes Tier wieder auf den Beinen, stürmte davon und ließ mich zurück. Mein Knöchel war verstaucht, aber die Angst vermag alle Schmerzen zu verdrängen. So humpelte ich in den Wald. Äste peitschten mir entgegen, Wurzeln ließen mich immer wieder stolpern. Es war so dunkel, dass ich nichts mehr sehen konnte. Nur als schwarze Schatten nahm ich Bäume und Strauchwerk wahr. Hinter mir brüllten und lachten die Schrate, die Fenrisse bellten und fauchten. Zweige brachen laut knackend, als die Ungeheuer ins Unterholz vordrangen.«

Iulia zitterte am ganzen Körper.

Inspektor Moore fühlte sich genötigt, aufzustehen und sein Jackett um ihre Schultern zu legen. Sie schenkte dem Polizisten ein dankbares Lächeln. Tom war entrüstet, dass Veyron einfach nur dasaß und nichts weiter für das Wohlbefinden der armen Frau tat.

»Bitte keine Unterbrechungen, Prinzessin. Erzählt den Rest Eures Abenteuers«, sagte er so kalt und herzlos, als wäre er nur eine Maschine.

»Der Wald wurde immer dichter, ständig verfing sich mein Haar im Geäst, und Dornen zerfetzten meine Tunika. Die Schrate hatten ihre Bestien zurückgelassen, jagten jetzt zu Fuß hinter mir her. Sie machten dabei einen furchtbaren Lärm, fluchten derb und drohten mir mit allerhand Grausamkeiten, wenn ich nicht sofort aus meinem Versteck herauskäme.

Meine Kräfte gingen zu Ende, ich brauchte eine Pause. Meine Beine zitterten, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich gelangte schließlich auf ein flaches Plateau, das an der Westflanke des Berges lag. In der Mitte stand ein großer, steinerner Bogen, weder gemauert noch gemeißelt, sondern von Wind und Regenwasser in seine erstaunliche Form geschliffen, von oben bis unten verwittert. Drumherum war der Wald immer noch sehr dicht. Die Chancen standen nicht schlecht, dass die Schrate mich hier gar nicht fanden. Wo sollte ich auch sonst hin? Ich konnte mich ja kaum mehr auf den Beinen halten. Also schleppte ich mich zum Torbogen und stieg hindurch, wollte mich hinter den Felsen verstecken, nur für einen kurzen Moment.

Dann geschah etwas Seltsames: genau in diesem Moment veränderte sich die Landschaft. Ich war noch immer in einem dunklen Wald, doch der Berg war verschwunden, das Land ringsum flach. Hinter mir stand der steinerne Torbogen, alles andere schien mir jedoch fremd. Selbst von den Schraten konnte ich nichts mehr hören. Diese Unholde sind allerdings für ihre Gerissenheit bekannt. Vielleicht lauerten sie mir in der Nähe auf.

Die unerwartete Wendung der Ereignisse verlieh mir jedenfalls neue Kräfte. Ich kämpfte mich weiter durchs Unterholz, bis der Wald lichter wurde und ich mehr von der Landschaft erkennen konnte. Tatsächlich befand ich mich jetzt in einem flachen Tal, doch es war nicht das Land, welches den Mons Coronus umgab.

Ich war nicht länger in Maresia. Allmählich wurde mir bewusst, dass ich es geschafft hatte. Der Felsbogen musste das Tor der Simanui sein! Ohne Ziel oder Orientierung marschierte ich weiter. Nirgendwo fand ich ein Anzeichen, dass ich auch tatsächlich bei den Simanui gelandet war. Die Nachforschungen der alten Ennia hatten sich als trügerisch erwiesen. Doch schon im nächsten Moment verwarf ich diese Zweifel wieder.

Ich stieß auf eine sonderbare Straße, schwarz und glatt, überhaupt nicht wie die gepflasterten Straßen des Imperiums. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich aus der Finsternis zwei Lichter auf, wie die Augen eines Drachen. Ich war vor Angst wie versteinert. War ich einem weiteren Ungeheuer in die Falle getappt? Am Ende vielleicht sogar Medusa persönlich? Tatsächlich schoss die Bestie genau auf mich zu und machte dabei einen furchtbaren Lärm. Ich vermochte nichts anderes zu tun, als die Hände vor die Augen zu halten und die Götter anzuflehen, dass es nur schnell vorbei sein möge.«

Sie stutzte und hob verwundert den Kopf.

»An alles, was danach geschah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich erwachte in diesem seltsamen, hellen Raum. Offenbar gehörte er zu einem Krankenhaus wie mir der freundliche Pater Felton versichert hat. Fernwelt ist bei uns in Elderwelt nur ein Mythos, gefüllt mit den tollsten Wundern. Die Wahrheit ist jedoch vielfach erstaunlicher und erschreckender, als ich je zu träumen wagte«, schloss sie ihre Erzählung.

Veyron öffnete die Augen. Mit einem plötzlichen Anfall von Hyperaktivität schnellte er aus seinem Ohrensessel hoch und marschierte mit hastigen Schritten im Wohnzimmer auf und ab.

»Ah ja, jetzt verstehe ich endlich die Zusammenhänge«, meinte er mit einer Begeisterung, die niemand sonst nachvollziehen konnte. Er lachte kurz auf, drehte sich zu seinen Klienten um und klatschte laut in die Hände.

»Hervorragend! Ich muss mich bei Euch bedanken, Prinzessin. Eure Geschichte erhellt einige meiner eigenen Rätsel der letzten Zeit. Ja, ich denke ich kann Euch helfen. Ich werde versuchen, Euch mit den Simanui in Kontakt zu bringen. Jedenfalls müssen wir Euch so schnell wie möglich wieder zurück nach Elderwelt bringen. Eure Mutter und die alte Ennia werden sich große Sorgen machen. Vorübergehend möchte ich Euch jedoch wieder der Obhut der beiden Gentlemen hier anvertrauen. Ich werde derweil Eure Rückkehr arrangieren und Inspektor Moore Bescheid geben, wohin er Euch bringen soll, wenn alles bereit ist«, erklärte Veyron, jetzt wieder sachlich und gelassen.

Die Prinzessin erhob sich, knickste vor Veyron und küsste seine Hand. Tom fand das erstaunlich, offenbar war das ein Dankbarkeitsritual in Maresia. Sie wandte sich an Inspektor Moore und Pater Felton. Letzterer war der Schnellere, sprang auf und reichte ihr die Hand. In Begleitung der beiden Constables führte er sie nach draußen.

Moore blieb sitzen und schüttelte den Kopf.

»Was für eine verrückte Story. Die Lady hat ja eine blühende Phantasie«, brummte er.

Veyron war anderer Meinung.

»Angesichts der Tatsache, dass sie mit jedem Wort die Wahrheit sagte, bleibt nur der Schluss übrig, dass Sie vielleicht doch ein Idiot sind, wenn Sie derartigen Unsinn von sich geben, Moore. Jetzt hören Sie mir mal gut zu! Sie sind für den Schutz dieser jungen Dame verantwortlich. Sie werden mit ihr nicht in dieses Hotel zurückkehren, sondern sie bringen sie auf die nächste Polizeiwache. Rufen Sie Gregson an und sagen Sie ihm, dass Sie von Veyron Swift geschickt werden und eine sichere Unterkunft brauchen. In genau drei Tagen brechen Sie zusammen mit der Prinzessin zu einem Ort namens Wisperton auf. Niemand außer Gregson oder Pater Felton darf Sie begleiten.

Ich wollte es vor der jungen Dame nicht erwähnen, aber sie ist auch in unserer Welt nicht sicher. Ich fürchte, sie ist da in eine Sache hineingeraten, an der weitaus größere und gefährlichere Mächte beteiligt sind, als sie sich vorstellt. Ihre Gegner haben auch hier, mitten in London, ihre willfährigen Handlager. Ich sage es ganz deutlich: Prinzessin Iulia schwebt in Lebensgefahr.«

Veyron beugte sich zu Moores Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Seine dunkle Stimme klang so finster und drängend, dass Tom ein mulmiges Gefühl bekam.

Moore nickte, sein Blick wild entschlossen. Was immer ihm Veyron auch zugeflüstert hatte, offenbar nahm er ihn jetzt endlich ernst.

»Ich werde alles genau befolgen, Mr. Swift. Ich dachte mir schon, dass da was nicht stimmt. Ich hoffe nur, Sie bringen rechtzeitig Licht ins Dunkel. Aber vergessen Sie nicht: Das ist eine Angelegenheit der Polizei. Wenn Sie einen Hinweis haben, dann müssen Sie …«

Veyron unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Sie brauchen mich nicht zu belehren, Moore! Ich kenne die Gesetze! Keine Sorge, Ihre Kollegen bekommen noch genug zu tun. Ich verlange nur eines: Befolgen Sie präzise meine Anweisungen. Der Erfolg wird für sich sprechen.«

Moore nickte, verabschiedete sich von Tom und Veyron.

»Ich versichere Ihnen, Ihrer Prinzessin wird nichts geschehen«, sagte er zuletzt und verschwand durch die Haustür.

Tom hatte plötzlich ein ganz mieses Gefühl. In was für eine Sache waren sie denn nun schon wieder reingeraten?

3. Kapitel: Flucht aus London

Die Haustür war kaum ins Schloss gefallen, als Veyron Swift regelrecht in hektischer Aktivität explodierte. Er sprang mit einem gewaltigen Satz über die Couch, nahm sich ein Buch aus dem nächsten Regal und blätterte es durch. Dabei huschte er mit rasenden Schritten von einem Ende des Wohnzimmers zum Anderen. Plötzlich stieß er einen lauten Jubelschrei aus und warf Tom das Buch zu.

»Ein perfektes Match, Tom! Absolut perfekt! Wir haben einen neuen Fall, mein Lieber. Endlich ist sie um, die Zeit der Lethargie und Langeweile.«

Tom fing das Buch überrascht auf, blickte auf den Einband. Tacitus – Annalen, klassische Literatur. Englisch/Latein. Eindeutig nicht sein Fall.

»Ich versteh nicht, was das mit diesem alten Wälzer zu tun hat«, gestand er mit einem Schulterzucken und legte das Buch auf den Tisch. Veyron machte eine flehende Geste zur Zimmerdecke.

»Weißt du denn gar nichts von der Welt? Tacitus ist der Schlüssel! Seine Geschichte über die frühen Cäsaren. Tiberius, Claudius und Nero. Wir haben ein perfektes Match. Jemand in Elderwelt benutzt Tacitus als Anleitung um die hiesige Cäsarenfamilie auszulöschen, verstehst du das denn nicht?«

»Nein.«

Veyron drückte sich mit einem Seufzen die Augenlider mit den Fingern zu, seine übliche Geste, wenn er sich über die scheinbare Begriffsstutzigkeit seiner Gesprächspartner ärgerte.

»Vergiss es wieder, glaub mir einfach, dass es genauso ist. Wir sind wieder im Spiel und haben einen neuen Fall! Das wird die herbe Enttäuschung unseres letzten Abenteuers aufwiegen«, sagte er.

Tom erinnerte sich sofort wieder an diese Tommerberry-Sache, ein richtiger Flop. Die Leiche eines Buchhändlers war spurlos verschwunden, vor den Augen der Polizei. Veyron konnte jedoch blitzschnell die Wahrheit herausfinden: Der alte Tommerberry hatte seinen Tod lediglich fingiert. Nicht Magisches, keine Zauberei, keine Unwesen. Veyron war so demoralisiert gewesen, dass er sich tagelang in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und nichts anderes getan hatte, als aus dem Fenster zu starren.

Nun schien diese depressive Phase endlich ein Ende zu haben. Lebendig wie eh und je, jagte Veyron hinauf in sein kleines Arbeitszimmer, begann in seinen Akten und Papierstapeln zu wühlen. Tom folgte ihm, denn er wollte natürlich wissen, was sein Pate als nächstes plante.

Über der Eingangstür hing das einzige Mitbringsel ihres ersten Besuchs in Elderwelt: das Daring-Schwert, festgehalten von ein paar krummen Nägeln. Tom staunte jedes Mal, wenn er die elegante Waffe sah. Es war ein Rapier, mit einem sehr kunstvoll gestalten Korb, die lange, schmale Klinge mit einem Muster aus blauen Juwelen beschlagen. Tom erinnerte sich noch genau, wie ihnen dieses Schwert einige Male wertvolle Dienste geleistet hatte. Es war eine Zauberwaffe, mit vielen erstaunlichen Fähigkeiten. Es konnte sich in Nichts auflösen, wenn man es nicht brauchte und rief man den Geist an, der in dieser Waffe steckte, so erschien sie ebenso wie aus dem Nichts. Zudem war sie federleicht und scharf wie geschliffene Diamanten. Er seufzte, als er daran dachte.

 

»Werden wir Elderwelt wieder besuchen? Ich würde gerne dorthin zurückkehren«, sagte er.

Veyron hielt inne. Er sah Tom für einen Moment streng an, nur um letztlich den Kopf zu schütteln.

»Im Moment wird das nicht notwendig sein. Meine Mission besteht eigentlich nur darin, diese Prinzessin heil nach Elderwelt zurückzuschicken, dafür muss ich nicht extra dorthin reisen. Iulia Livia ist ein Störfaktor und eine Schwachstelle, die ich abstellen muss, um mich dann dem wahren Problem ungestört widmen zu können«, erklärte er.

»Ein Störfaktor, eine Schwachstelle? Geht’s noch? Diese Frau hat ihr Leben riskiert um hierher zu kommen und Sie wollen sie einfach loswerden?«

Tom war entrüstet, stemmte sich die Fäuste in die Hüften. Beindrucken konnte er Veyron damit allerdings nicht.

»Kurz gesagt: ja. Das eigentliche Problem ist ganz ein anderes. Ich bin an einer gefährlichen Sache dran. Zunächst hielt ich sie für trivial, aber nun weiß ich, dass dem nicht so ist. Medusa-Morde, Tom! Versteinerte Mordopfer, das hat man nicht alle Tage. Auf so einen Fall warte ich schon seit neun Jahren.«

»Das ist ja wieder einmal typisch! Sie interessieren sich lieber für versteinerte Leichen, als für Menschen, die in Not geraten sind!«

Veyron schaute Tom voller Verständnislosigkeit an.

»Was sonst sollte mich an diesem Fall interessieren?«

»Die betroffenen Menschen zum Beispiel? Die arme Iulia, die von Fenrissen verfolgt wurde? Oder was ist mit den beiden Brüdern, die in diesem Gefängnis verhungern müssen? Aber Ihnen sind die Belange Ihrer Mitmenschen vollkommen egal. Ich erinnere Sie an Weihnachten, wo wir oben in Schottland im Schnee standen und irgendwelchen Trollen nachgespürt haben, Trolle die es gar nicht gab!«

Veyron verdrehte die Augen und winkte ab. »Das war in der Tat ein vollkommener Reinfall. Wenigstens haben wir was gelernt: Vertraue niemals deiner Urteilskraft wenn du verzweifelt einen Fall suchst.«

»Meinen Geburtstag haben Sie auch vergessen!«

Veyron zeigte sich nun regelrecht erstaunt, als er diesen Vorwurf an den Kopf geschleudert bekam. Er blinzelte überrascht und betrachtete Tom voller Skepsis.

»Wann hättest du Geburtstag gehabt?«

»Am Dritten Januar!«

Veyron zuckte mit den Schultern. »Na, so wichtig kann der nicht gewesen sein. Ansonsten hätte mich sicher jemand daran erinnert.«

Jetzt platzte Tom endgültig der Kragen. Er spürte wie sein Gesicht blutrot anlief, er musste die Fäuste ballen, um nicht einfach auf diesen Mann loszugehen.

»Nicht wichtig? Ich bin fünfzehn geworden! Und wissen Sie was? Sechzehn werde ich auch noch, aber bestimmt nicht in diesem Haus! Ich hau ab! Jetzt sofort! Sie sind ein Unmensch, hier bleib ich keine weitere Nacht!«

Er stampfte die Treppen hinauf in sein Dachbodenzimmer. Es war groß und geräumig. Das einzige, riesige Fenster bot einen Überblick über die halbe Nachbarschaft. Schnell stopfte er ein paar Sachen in seinen Rucksack und eilte wieder nach unten. Ohne sich zu verabschieden, nahm er den direktesten Weg zur Haustür. Veyron war weit und breit nicht zu sehen. Dafür erklang das angenehme Rauschen der Dusche. Sein Pate tat einfach so, als wäre alles ganz normal! Toms Wut steigerte sich noch weiter. Er ließ die Tür extra laut ins Schloss fallen, sprang die Stufen zum Gartentor hinunter und stürmte hinaus auf die Straße.

Sein Zorn war immer noch heiß, als er die Wisteria Road entlang eilte. Erst acht Straßenlaternen später gelang es ihm, sich halbwegs zu beruhigen.

Dieser elende, herzlose, grausame Mistkerl! Warum musste ich ausgerechnet bei ihm landen? Konnten meine Eltern nicht einen netteren Menschen als Paten aussuchen? Warum um alles in der Welt ausgerechnet er? ging es ihm durch den Kopf. Er war wild entschlossen diesmal nicht so schnell nachhause zurückzukehren, jedenfalls nicht mehr diese Woche. Nur: wo sollte er bis dahin unterkommen? Tom hatte ein paar Freunde an der Schule, aber deren Eltern würden es sicher nicht erlauben, dass er bei denen länger als eine Nacht untertauchte. Er konnte ja schlecht jeden Tag aufs Neue umziehen. Jane wäre dann noch eine Möglichkeit.

Jane Willkins war Polizistin, sie hatte sich um ihn gekümmert, nachdem ihn seine Tante damals allein zurückgelassen hatte. Jane war eine echte Freundin und das Beste: sie konnte Veyron auch nicht besonders gut leiden. Zu ihr war Veyron auch jedes Mal recht gemein, wenn sie miteinander zu tun hatten. Darum also zu Jane.

Tom ging bis zur nächsten Bushaltestelle und wartete. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der ganz in der Nähe an einem Laternenpfahl lehnte und telefonierte. Immer wieder schaute der Herr zu ihm herüber. Als Tom den Blick erwiderte, drehte sich der Mann um und sprach leise in sein Telefon. Das kam ihm seltsam vor, ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Mit diesem Kerl war irgendetwas nicht in Ordnung, das sagte ihm seine Intuition.

»Sei nicht albern«, ermahnte er sich, »was sollte irgendwer von dir wollen, Tom Packard? Wahrscheinlich ist es einfach nur ein Spinner.« Trotzdem wollte er die Augen offenhalten.

Mit einem typisch knallroten Londoner Stadtbus ging es zur nächsten Underground-Station. Einige Haltestellen später war er endlich in Ealing. Den komischen Kerl hatte er im Bus nicht abschütteln können und auch in der Tube nicht. Er stieg sogar in den nächsten Bus ein, der Tom in die Reigate Street brachte. Wurde er tatsächlich verfolgt? Das Verhalten dieses Mannes kam ihm jedenfalls sehr verdächtig vor. Die Geschichte der Prinzessin kam ihm wieder in den Sinn, wie sie tagelang von Medusa verfolgt wurde. Erging es ihm hier ähnlich? Hatten Iulias Feinde sie etwa auch bis nach London verfolgt? Vielleicht war es aber auch irgendein verrückter Stalker. Als sein neuer Schatten diesmal jedoch nicht ausstieg sondern weiterfuhr, verflüchtigten sich Toms Sorgen wieder.

»Offenbar werde ich langsam paranoid. Es leben acht Millionen Menschen in der Stadt und der Typ war ja nicht der Einzige, der mit dem gleichen Bus und der Tube gefahren ist«, sagte er sich.

Jane Willkins Wohnung lag im vierten Stock von 270b Reigate Street, einem schmucklosen Wohnturm aus den Siebzigern. Dort lebte sie mit ihrem aktuellen Freund, Alex Finchley. Tom kannte ihn nicht besonders gut, denn er arbeitete sehr viel, war nur wenig zu Hause. Die Wahrscheinlichkeit lag daher hoch, dass er Jane allein antraf. Sie würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn er übers Wochenende bei ihr blieb.

Er trat zur Eingangstür, klingelte. Es verging ungewöhnlich viel Zeit, ehe sich Janes helle Stimme an der Sprechanlage meldete.

»Ja?«

»Ich bin’s, Tom. Kann ich reinkommen?«

»Tom! Warum … ach, egal. Komm rauf.«

Die Haustür summte und Tom drückte sie auf. Das Treppenhaus war stockfinster, nur zögerlich sprangen die Bewegungsmelder an, eine Lampe nach der anderen begann zu glühen. Es roch nach Putzmittel und altem Schimmel.