Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 3

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Jetzt standen sie auf der anderen Seite der Himmelmauerberge. Zum ersten Mal konnten sie das Gebirge in seinem ganzen gewaltigen Ausmaß bestaunen. Wie ein Ring schien es das ganze Land zu umschließen, lediglich im Südwesten waren keine Berge zu sehen. Die Wälder wuchsen bis an die Schneegrenze, darüber die mächtig emporragenden Gipfel, überzogen von der weißen Pracht. Zu Füßen der titanischen Berge und ihrer großen Wälder lagen die Ländereien Fabrillians. Das ganze Land war eine hügelige Ebene, nur hier und da erhob sich eine Anhöhe oder unterbrach ein See die Hügellandschaft. Sie sahen Wiesen, die einem Teppich gleich über dem ganzen Land lagen. Weiter südlich ging das saftige Grün in ein regenbogenbuntes Blumenmeer über, während der ganze Norden des Landes nur aus Wäldern bestand.

Nachdem sie einen stundenlangen Abstieg zurücklegt hatten, kamen sie zu einem weiteren Fluss, diesmal groß und breit. Er führte in Schlangenlinien von den Bergen im Norden nach Süden, bis er mit dem Dunst des Horizonts verschmolz. Am Ufer des Flusses standen weitere Boote für sie parat, größer als die in der Höhle und auch von anderer Form, lang und schmal. Jedes Boot war mit sechs Rudern ausgestattet. Die Elben setzten sich an die Riemen, während Faeringel am Heck das Steuer übernahm. Als alle an Bord waren, legten die Boote ab, und sie ruderten den Fluss hinunter. Die Reise ging nun weitaus schneller voran, fast schon im Eiltempo.

Obwohl es bereits Mitte August war, standen in Fabrillian die Felder noch immer in voller Blütenpracht. Tausende Bienen und daumenlange Hummeln sowie Schmetterlinge, groß wie die Tatzen eines Bären, tanzten um die Boote, eilten von einem Blumenhain zum anderen. Nirgendwo fand sich in diesem wunderbaren Land ein Zeichen von Tod und Verderben. Veyron meinte zu Tom, dass hier eindeutig ein Zauber am Werk sei, der dieses Land jung und lebendig hielt. Tom dachte jedoch nicht an Zauberei, sondern daran, hier den Rest seines Lebens zu verbringen. Kein Land, von dem er wusste, konnte es mit der vielfältigen Schönheit Fabrillians aufnehmen.

Soweit das Auge reichte, zogen sich ausgedehnte Lavendelfelder über die abfallende Hügellandschaft, unterbrochen von einigen Flecken Rosa, Rot, Weiß, Gelb, Blau und Violett. Faeringel ließ ihn wissen, dass Fabrillian das elbische Wort für Blumenreich war. Tom fand, dass es keinen besseren Namen für dieses Land gab. Dies war das Paradies, von dem die Menschen seit jeher träumten, verborgen hinter einem unsichtbaren Vorhang, obendrein von einem unüberwindbaren Gebirge umzingelt und so von allen anderen Ländern Elderwelts abgeschirmt.

Am frühen Abend – sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatten sicher an die 300 Kilometer zurückgelegt – erreichten sie endlich Fanienna, die große Hauptstadt Fabrillians. Hinter ihren Mauern teilte eine gewaltige Klippe das ganze Land von Ost nach West und fiel fast dreihundert Meter senkrecht in Tiefe.

Als wären sie aus purem Gold, erhoben sich im hellen Sonnenschein die ersten Gebäude der Stadt aus dem Grün eines weiten Waldes. Das Boot hielt in einem kleinen Hafen, nur wenige hundert Meter außerhalb der Stadt. Hier wurde der Fluss breit und bildete einen See. Die Hafengebäude waren relativ einfach gehalten, aus weißem und silbrigem Holz gebaut, doch so schön und kunstvoll, wie es nur Elben verstanden. Das Boot wurde von einigen blau gekleideten Elben an die Kaimauer gezogen und vertäut.

»Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter«, verkündete Faeringel und sprang auf die Mauer. »Der Fluss verlässt diesen See in viele Richtungen, durch die Stadt können wir mit dem Boot nicht fahren. Aber der Weg ist nicht weit. Nun kommt, die Königin erwartet uns bereits.«

Eine breite, gepflasterte Straße führte nach Fanienna hinein, zunächst um den See herum und danach direkt in die Stadt, dem Lauf eines kleinen, flachen Flusses folgend, den die Talarin Lendafon nannten, Mittelfluss, da er die Stadt in zwei Hälften teilte. Weitere, kleinere Straßen mündeten von Osten und Westen auf die Hauptstraße. Üppige Gartenanlagen lockerten die Bebauung auf, außerdem unterteilten zahlreiche kleine Bäche und Nebenläufe des Lendafon die Stadt. Das Sonnenlicht brach sich in den Fensterscheiben der Häuser und ließ sie in allen Farben des Regenbogens schillern. Fast alle Gebäude bestanden aus hellem Sandstein. Mit mathematischer Präzision stieß Linie auf Linie, und Kante lag an Kante. Die Fassaden vieler Häuser waren kunstvoll verziert, besonders die Ecken. Aus manchen hatten Steinmetze Statuen herausgemeißelt, andere waren rund geschliffen oder zum Dach hin abgeschrägt. Giebelspitzen entfalteten sich wie Lilienblüten, Windbretter bildeten das verschnörkelte Astwerk von Wein und Efeu nach. Die meisterhaft geschnitzten Balkonbrüstungen waren schwer beladen mit Kästen voller Blumen. Kübelgeranie in allen Farben erreichten beachtliche Größen. Ihre vielen Verzweigungen und Blütendolden hingen stockwerktief nach unten. Nicht wenige Häuser waren sogar ganz und gar von Heckenrosen, Blauregen oder Wein eingesponnen, nur die Fenster blieben frei. Zu fast jedem Grundstück gehörte auch ein Garten, großflächig und bestanden mit großen Bäumen, Sträuchern und noch mehr Blütenpflanzen. Weigelie, Rhododendron und Bougainvillea standen in Fanienna noch immer in voller Blüte. Viele der kleineren Häuser hatten die Elben einfach um die großen Bäume herumgebaut. Nichts liebte das Volk der Talarin mehr als die Natur, und man brachte ihr die höchste Ehrerbietung entgegen. Niemals fällten sie einen stolzen Baum zugunsten eines Bauplatzes. Ähnlich verhielt es sich mit der Straßenführung. Nichts folgte in Fanienna einem geraden Lauf, sondern die Wege wanden sich hierhin und dorthin, das Pflaster war unregelmäßig und bucklig, von dicken Wurzeln zerfurcht. Die Elben geboten dem Wachstum in ihrer Stadt keinen Einhalt.

»Das ist die Stadt aus meinen Träumen. Hier bin ich schon einmal gewesen, in der ersten Nacht nach der Bruchlandung«, rief Tom begeistert.

Alle schenkten ihm einen verwirrten Blick. Allein Nagamoto grinste breit und meinte halb im Scherz: »Du musst eine außerordentlich starke Bindung zu Elderwelt besitzen, wenn du bereits von Fanienna träumtest, ehe du von dieser Stadt wusstest.«

Zahlreiche gemauerte Brücken führten über die sieben Nebenläufe des Lendafon, welche die Stadt in ebensoviele Bezirke aufteilten, die wiederum nach den Flussarmen benannt waren: Ennananth, Meliananth, Huidinanth, Talasadur, Giurinanth, Throminhuindh und Isgarinant, frei übersetzt: Klippenbach, Mühlbach, Entenbach, Waldwasser, Heckenbach, Brücklauf und Splitterbach. Alle fließenden Gewässer liefen am südwestlichen Ende der Stadt wieder zu zwei größeren Armen zusammen und stürzten in Form gigantischer Wasserfälle über die Klippen, die den schlichten Namen »der Bruch« trugen. Und dort, auf der äußersten Klippe des Bruchs stand der Palast der Königin Fabrillians.

Das Palastareal war riesig, im Grunde nichts anderes als ein Wald, dessen Lichtungen in Gärten umgewandelt worden waren. Durch sie führte die einzige gerade Straße der Stadt – und auch die Einzige, die nicht gepflastert, sondern von Sand und Kiesel bedeckt war. Faeringel, die Bahrenträger, Tamara, Nagamoto, Tom und Veyron fanden sich nun allein auf dieser Straße wieder, denn die übrigen Talarin verabschiedeten sich an dieser Stelle in ihrer Heimatsprache. Faeringel dankte ihnen für ihren Einsatz und entließ sie.

Tom entdeckte auf manchen Lichtungen verspielte Korbbauten, unter denen Bänke und Tische standen, auf einer anderen Lichtung ein wunderschönes Badehaus mit vergoldetem Dach und weißen Marmorstatuen an seinen drei Eingängen. Auf halber Strecke zum Schloss zweigten zwei weitere Wege von der Straße ab, der eine nach Westen, der andere nach Osten führend. Sie aber beschritten weiter den geraden Weg nach Süden und näherten sich dem Hauptpalast. Dessen Zentrum bestand aus einem gigantischen Kuppelbau, mindestens so groß wie das Pantheon in Rom. Die Kuppel bestand aus Hunderten schillernder Fenster, die im abendlichen Sonnenschein in allen Farben des Regenbogens funkelten. Links und rechts des Hauptbaus gingen zwei halbrunde Palastflügel ab, jeder fast einhundert Meter lang, drei Stockwerke hoch, mit langen Reihen aus Fenstern und begrünten Balkonen an der Fassade. Die Dächer beider Flügel waren flach; oben wuchsen üppige Gärten, deren Bewuchs zu allen Seiten über den Rand des Daches quoll und bis in die Fenster des obersten Stockwerks hing. Der kreisrunde Platz vor dem Zentralgebäude wurde gesäumt von Statuen großer Persönlichkeiten der Talarin. Redner, Musiker, Dichter, Maler, Philosophen und Bildhauer waren darunter, jedoch keiner der Könige und auch keiner der anderen großen Helden vergangener Jahrtausende. Eine Treppe mit dreiunddreißig Stufen führte zu den großen Türen des Palastes.

Faeringel stieg sie als Erster hinauf. Er öffnete mühelos, als erfordere dies kaum Kraft, die kristallenen Türflügel und hieß Nagamoto, Veyron und Tom eintreten. Tamara wollte ebenfalls hineingehen, doch die Elben hielten sie zurück. Rat suchend blickten sie ihren Anführer an. Faeringel machte ein unglückliches Gesicht, doch schließlich erlaubte er ihr einzutreten. »Nur ungern lassen wir jemanden zur Königin, der von einem Schatten befallen ist. Aber ich will Meister Nagamotos Vertrauen in Euch ehren«, erwiderte er und trat zurück.

Tamara humpelte hinein. Hinter ihr schloss Faeringel lautlos die Kristalltüren.

Das Innere des Palastes stand dem Äußeren an Pracht in keiner Weise nach. Der Kuppelbau war nahezu vollkommen leer, abgesehen von zwei gewaltigen Bäumen, die dort wuchsen. Sie waren von der gleichen silberstämmigen Art wie die Baumriesen in den Wäldern auf der anderen Seite der Himmelmauerberge, nur viel kleiner (obwohl sie immer noch an die vierzig Meter in die Höhe ragten). Ihre Kronen lagen direkt unter der riesigen Glaskuppel. Hunderte winziger Lampen hingen im Geäst und strahlten in goldenem Schimmer. Zwischen den beiden mächtigen Stämmen lag das Treppenhaus des Palastes, von dem aus sich die Korridore in die hinteren Räumlichkeiten verzweigten.

 

Dort, auf der obersten Stufe stand sie, die Königin der Talarin. Girian Riangen Tarnuvilian.

Tom verschlug es fast den Atem. »Die Königin«, keuchte er, »die Königin aus meinen Träumen!«

Sie war wohl die schönste und erhabenste Frau, die er je erblickt hatte. Ihr liebreizendes Gesicht besaß in ihrer immerwährenden Jugend keinerlei Makel, die Haut vornehm blass, glatt und ebenmäßig. Sie wirkte wie aus Porzellan, geformt von einem göttlichen Bildhauer, ebenso schön wie zerbrechlich. Ihre eisblauen Augen waren durchdringend, so tiefgründig und geheimnisvoll, dass man sich bei ihrem Anblick sofort darin zu verlieren drohte. Dunkles Haar umrahmte ihr Gesicht in sanften Wellen und fiel ihr bis auf die Hüften. Sie trug ein langes, weites Gewand aus rotem Stoff, vielfältig und kunstvoll bestickt, der mit dem Wechsel von Licht und Schatten mal in dunklem Weinrot, mal leuchtend orangefarben schimmerte und um ihre anmutigen Formen floss. Bei ihren Bewegungen raschelte das Gewand kaum und sah aus, als würde sie den leibhaftigen Herbst am Körper tragen.

In ihrer Begleitung befand sich ein junges Mädchen. Tom erkannte in ihr die Elbin aus dem Wald. Er zupfte Veyron am Hemdsärmel und nickte in Richtung des Mädchens. Veyron verstand und zwinkerte ihm nur kurz zu.

Königin Girian kam die Treppen herunter – für Tom war es mehr ein Schweben, denn ihm fehlten die Worte, die ihre Bewegungen besser beschreiben könnten. Nagamoto verbeugte sich. Tom machte es ihm sofort nach, auch Veyron, und sogar Tamara neigte das Haupt vor ihr.

Die Königin lächelte gütig. »Es ist nicht notwendig, vor mir zu knien, Meister Simanui. Ihr gebt Euren Freunden ein schlechtes Beispiel. Tatsächlich sollte ich mich vor Euch verneigen, wo Ihr in den vergangenen Tagen so viel Kummer und Not erleiden musstet. Nun denn, ich heiße Euch alle in meinem Haus willkommen«, sprach Girian. Ihre Stimme war wie Gesang, hell und freundlich, aber auch voller Weisheit. »Darf ich Euch mit Imri bekannt machen? Sie war im Wald spielen, als sie auf die Absturzstelle eurer Flugmaschine stieß. Von da an hat sie euch beobachtet und ist euch gefolgt. Sie hat meine Jäger alarmiert. Hätten wir geahnt, dass sich solch schreckliche Wesen in den Wäldern aufhalten, hätten wir schneller gehandelt. Es ist bedauerlich, dass so viele sterben mussten«, fuhr Girian fort. Einen Moment stand echte Trauer in ihrem Gesicht. Kurz danach lächelte sie wieder, gütig und mitfühlend.

»Für eine Weile wollen wir Euch daher Ruhe und Erholung anbieten, denn ich sehe den rastlosen Geist, der in allen Menschen wohnt und den es nach Taten und Eile verlangt.« Sie blickte zu Veyron und danach zu Tom. Ein wissendes Lächeln umspielte ihre roten Lippen. »Ich glaube, mich an dich zu erinnern, Tom. Ich denke, wir sind uns schon begegnet, nachts in unseren Träumen. Und für Euch, Meister Veyron, gibt es vielleicht einige wichtige Dinge zu erfahren, bevor Ihr Eure Fahrt fortsetzt – wenn Ihr die Geduld dafür noch aufbringen wollt. Meine Diener haben für Euch Zimmer hergerichtet. Die Bäder stehen bereit, und das Wasser wurde vorgeheizt. Kleidung, die Eurer Welt entspricht, liegt für Euch parat. Sicherlich seid Ihr alle hungrig. Ich habe Essen und Trinken auf die Zimmer schicken lassen«, sagte sie.

Tom wurde rot im Gesicht; verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. Er war diesem wunderschönen, fabelhaften Geschöpf doch nur in seinen Träumen begegnet, das konnte sie doch unmöglich wissen, oder? Aber bei den Zaubern der Elben konnte man sich nie sicher sein. Der Blick aus Girians wunderbaren blauen Augen streifte ihn, und ein strahlendes Lächeln legte sich über ihre Züge.

Doch, sie weiß es. Sie war wirklich in meinen Träumen, dachte er. Schließlich blickte die Königin zu Tamara. Tom fiel auf, dass die Terroristin sofort den Kopf wegdrehte und zu Boden starrte.

Girians Lächeln wurde traurig und mitfühlend. »Ich sehe, es gibt einige Wunden zu heilen, vor allem die Unsichtbaren, gegen die kein Elixier der Welt hilft. Seid ohne Sorge, Tamara Venestra. Eure Freunde sind bei meinen Heilern in den besten Händen. Derweil bitte ich Euch, dass Ihr Imri in den Krankenflügel begleitet. Auch Eure Wunden bedürfen der geschulten Heilkunst des Palastes. Obwohl unser Elixier Euch die Kraft zurückgegeben hat, so verblieb dennoch einiges an Schrat-Gift in Eurem Blut«, sagte sie.

Imri trat vor und reichte Tamara die Hand. Die Terroristin zögerte einen Moment, sah zu Nagamoto, ihr Blick rat- und hilflos. Der Simanui nickte auffordernd. Widerwillig ergriff Tamara Imris Hand und ließ sich fortbringen. Girian trat zurück, und aus dem Schatten der Bäume erschienen einige elbische Diener, alle festlich gekleidet. Sie baten Veyron und Tom, mit ihnen zu kommen. Nagamoto dagegen stieg mit der Königin und zwei Dienerinnen die Treppen hinauf. Sie hatten wichtige Dinge zu besprechen, während sich die anderen ausruhen sollten.

Im Westen des Palastwaldes stand ein weiterer prächtiger Bau der Elben. Anders als der Hauptpalast war er in rostroten, herbstlichen Farben gehalten. Hier wurden die Gäste der Königin und auch alle Bedienstete untergebracht. Hinter dem knapp zweihundert Meter langen Bau lagen zwei weitere Wirtschaftsgebäude, äußerlich kleinen Schlössern gleich, doch im Inneren befanden sich die Ställe, Werkstätten und Krankenzimmer des Palastes. Dorthin wurden Tamara, Xenia und Dimitri gebracht, während Tom und Veyron im Gästepalast unterkamen.

Toms und Veyrons Zimmer (jeder hatte ein eigenes) lagen im zweiten Stock mit fantastischem Blick nach Süden auf den Bruch. Ihre Zimmer lagen nebeneinander und waren durch eine Tür miteinander verbunden. Jedes hatte sein eigenes Badezimmer, wo eine dampfende Marmorwanne bereits ihrer müden Glieder harrte. Sogar fließend Warmwasser und Seife gab es, was Tom dem eher mittelalterlich anmutenden Lebensstil der Elben gar nicht zugetraut hätte. Fast eine Stunde lag er in der Wanne, bis seine Haut nur noch aus Runzeln bestand. Dann sprang er aus dem Wasser, trocknete sich mit wunderbar weichen Handtüchern und schlüpfte in einen ebenso weichen, samtenen Bademantel. Barfuß ging er hinüber in Veyrons Zimmer, nasse Fußspuren hinterlassend.

Veyron kam ebenfalls gerade aus dem Bad, frisch rasiert und sogar die Haare zum ersten Mal, seit Tom ihn kannte, gekämmt. Veyrons Bademantel war der eines reichen Gutsherrn aus einem schweren, weinroten Stoff geschneidert und aufwendig mit Zierrat und goldenen Fäden bestickt.

»Da fühlt man sich doch gleich wieder sehr viel menschlicher, nach einem Bad – vor allem nach so einem Bad. Nun, ich würde sagen, wir haben uns genug ausgeruht. Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Die vergangenen Tage waren wir durch Terroristen, Giganthornissen und Fenriswölfe abgelenkt. Nemesis ist immer noch dort draußen, und jetzt, da wir ihm entkommen sind, wird er nicht untätig bleiben. Er muss etwas unternehmen, die Frage ist nur: was? Wo setzen wir unsere Strategie am besten an? Sind wir in der Lage, vorauszusehen, was er als Nächstes tun wird?«, fragte Veyron mehr sich selbst als Tom.

Tom seufzte. Er hatte auf ein wenig Urlaub und Erholung gehofft, aber es war ja fast klar, dass sein Pate nach nichts anderem verlangte, als endlich wieder in Aktion zu treten. Effizienz, wie er das nannte. Vielleicht ist er ja gar kein Mensch, sondern ein Roboter, dachte Tom, während er Veyron dabei zusah, wie dieser auf und ab hastete und beständig vor sich hinmurmelte.

»Was wird er tun? Was wird er tun? Was wird er tun?« Das machte er bestimmt eine Minute lang, ehe er endlich stehen blieb und mit den Fingern schnippte. »Informationen, Tom! Halten wir uns an die wenigen Informationen, die wir haben. Fakt eins: Nemesis besitzt einen eigenen Durchgang nach Elderwelt. Einen Durchgang, der nicht einer der alten Durchgänge dieses Zaubervolkes – der Illauri – ist. Nagamoto hat sie ganz klar beschrieben. Nemesis’ Durchgang ist also zweifellos künstlicher Natur, wie bereits vermutet. Er kontrolliert ihn, vermag ihn bei Bedarf an- und abzuschalten. Auf diese Weise kann er unentdeckt von Elben und Simanui in unsere Welt reisen. Fakt zwei: Wir sind ihm entkommen. Er weiß nicht, ob wir nicht mehr über das Juwel des Feuers wissen als er«, fasste er zusammen. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich Idiot! Ich Idiot!«, rief er dabei immer wieder. »Natürlich! Jetzt ergibt das alles erst einen Sinn! Ich war ein solcher Idiot, Tom! Dabei hätte ich es doch sofort wissen müssen, als er sich uns zum ersten Mal zu erkennen gab. Die Lage ist noch brenzliger, als ich bisher angenommen habe. Tom, er weiß bereits, wo das Juwel des Feuers sein könnte. Er ist nahe dran, ganz dicht sogar. Darum hat er Jessica nicht getötet, sondern sie lebend gefangen und verhext. Er braucht sie, um an das Juwel heranzukommen. Er leitet jetzt die letzten Maßnahmen seines großen Spiels ein und bringt seine Figuren in Stellung.«

Tom dachte kurz darüber nach und schüttelte voller Skepsis den Kopf. »Sie hätten mehr essen sollen. Ihr Verstand arbeitet nicht mehr richtig. Was Sie da sagen, macht überhaupt keinen Sinn«, erwiderte er müde.

Veyron schenkte ihm einen missmutigen Blick. »Du irrst dich – wie üblich. Es ist dein Verstand, der hier nicht richtig arbeitet. Oder aber du bist wegen deiner Stielaugen für die Königin für alles andere blind geworden, was um dich herum geschieht.«

Tom wurde knallrot vor Verlegenheit. Da war er wieder, der alte, gemeine Veyron Swift aus 111 Wisteria Road. Er wollte etwas erwidern, winkte aber nur verärgert ab.

Veyron setzte seinen Monolog ungerührt fort. »Dennoch: Nemesis zögert und wartet ab. Er weiß nicht, was wir alles wissen. Es besteht für ihn immer noch die Gefahr, dass wir ihn aufhalten – was wir auch tun werden, soweit wir es vermögen. Zuerst muss er uns entweder loswerden oder erfahren, was wir wissen. Also muss er handeln, abweichend von seinen eigentlichen Plänen und schnell obendrein. Ich wette mit dir, dass ihm dabei Fehler unterlaufen werden. Wenn nicht ihm, dann zumindest seinen Handlangern. Doch zuerst müssen alle Karten auf den Tisch, um genau zu planen. Tom, hol bitte den Brief, den ich dir anvertraut habe.«

Tom weitete überrascht die Augen. Der Brief von Professor Daring! Den hatte er ja total vergessen. Zuletzt war er im Flugzeug in seinem Besitz gewesen. Aber er hatte die Jacke ausgezogen und sie in die Gepäckablage gestopft. Und die war jetzt …

»Ich fürchte, den Brief gibt’s nicht mehr, Veyron. Er war in meiner Jackentasche, und die Jacke ist wohl hin, mit der Supersonic in Flammen aufgegangen. Oder –? Hey! Vielleicht hat die Jacke ja überlebt. Wir könnten doch zum Wrack zurückgehen und danach suchen«, schlug Tom hastig vor.

Veyron schaute ihn für einen Moment böse an. »Gebrauch deinen Verstand, Tom! Wie wahrscheinlich ist es, dass wir die Jacke in den Trümmern finden werden? Ganz zu schweigen davon, dass wir erst einmal drei Tage lang unter dem Gebirge hindurchmüssten, danach weitere drei bis vier Tage zurück zum Wrack. Eine ganze Woche, Tom, eine ganze Woche. Und wieder zurück zur Weißen Königin, für die dieser Brief bestimmt ist. Wir reden hier von zwei Wochen, zwei Wochen in denen Nemesis halb Elderwelt zerstören kann, was zweifellos seine Absicht ist.«

Tom schaute betroffen zu Boden. »Das hatte ich nicht bedacht«, grummelte er und steckte die Hände in die Taschen des Morgenmantels. Doch was war das? Da fühlte er doch tatsächlich Papier zwischen seinen Fingern – ein Kuvert. Er zog es aus der Tasche und traute seinen Augen nicht: Es war der zerknitterte Briefumschlag des Professors. »Ich glaube, jemand verarscht mich«, murrte er und reichte den Umschlag an Veyron.

Der nahm ihn die Hände, hielt ihn gegen das helle Licht der Lampen und schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Es ist derselbe Umschlag. Ich erkenne es an der Schrift des Professors, sie ist unnachahmlich. Vor allem sind da die zwei Kratzer, wo sein Füllfederhalter noch ein bisschen eingetrocknet war. Es ist genau die gleiche Stelle. So genau kann kaum jemand fälschen«, erläuterte Veyron. Er gab Tom den Umschlag zurück.

»Ich hatte ihn zuletzt in meiner Jacke, ich schwör’s! Moment, nein, das stimmt nicht. In der ersten Nacht, da hab ich ihn auf meiner Brust gespürt. Aber da trug ich eine andere Jacke, welche mir die Terroristen aus dem geplünderten Gepäck gaben. Wie um alles in der Welt, ist so was möglich?«, fragte Tom erstaunt und starrte den Umschlag entgeistert an. Am liebsten hätte er ihn weggeworfen. Dieses Stück Papier war verhext! Mit so was wollte er nichts zu tun haben. Er schaute zu Veyron auf, der nur lapidar mit den Schultern zuckte.

 

»Du hast Nagamotos Geschichte gehört. Die Simanui verfügen über Zauberkräfte, die ihnen von den Illauri verliehen wurden. Daring war ein Simanui, ein Meister sogar. Ich nehme einmal an, das ist ein besonders ausgefuchster Simanui-Trick. Der Brief wurde dir anvertraut, und dieser Zauber sorgt dafür, dass er dir nicht verloren gehen kann. So ein Zauber wäre in unserer Welt auch bei anderen Dingen ganz nützlich. Den zweiten Zauber, der auf diesem Brief liegt, kann jedoch nur die Weiße Königin für uns brechen. Nämlich die unsichtbare Schrift lesen und uns sagen, was da geschrieben steht«, schlussfolgerte er so kühl und analytisch wie eh und je.

Er nahm Tom den Umschlag wieder ab, ging zur Zimmertür und trat hinaus in den weiten Flur. Ein einzelner Elb in nachtblauer Robe stand dort und hielt Wache.

»Wir haben eine wichtige Nachricht für deine Königin und nur für sie allein. Wir müssen sie unbedingt sprechen. Bitte richte ihr Folgendes aus: Wir haben eine Botschaft von Professor Lewis Daring, dem Simanui-Meister«, sagte Veyron.

Der Elb nickte ernst und entfernte sich. Besonders eilig schien er es jedoch nicht zu haben. Veyron seufzte, als er ins Zimmer zurückkehrte. Tom setzte sich an den Esstisch und probierte von dem Mahl, das für sie bereitstand. Es gab allerhand Köstlichkeiten, viel duftendes Gemüse, auch knusprig gebratenes Geflügel, reichlich Obst und Süßigkeiten aus Sahne und Zucker.

»So schön dieses Land auch ist, offenbar kennt man hier das Wort Eile oder Dringlichkeit nicht. Begreift denn hier niemand, wie ernst die Lage ist?«, beschwerte sich Veyron.

Tom stopfte sich die Backen mit ein paar Keksen voll. »Egal, was es ist, heute können wir sowieso nichts mehr tun. Essen wir besser was. Das wird sonst bloß schlecht«, nuschelte er.

Veyron atmete tief durch. Eher widerwillig setzte er sich an den Tisch und biss in einen Apfel.

Tom behielt recht. Diese Nacht bekamen sie keine Rückmeldung mehr. Satt und zufrieden legte er sich in sein riesiges Bett, das weichste und bequemste, in dem er jemals gelegen hatte. Er schlief rasch ein und träumte zum ersten Mal seit Tagen wieder von zu Hause.

Von mir aus kann sich die Königin noch tagelang mit einer Antwort Zeit lassen, dachte er. Ich habe es überhaupt nicht eilig, von hier zu verschwinden. Soll Nemesis doch bleiben, wo er ist. Heute Nacht wollte er nicht mehr an solche Dinge denken. Morgen würden sie schon sehen, was auf sie zukam.

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