Hugo. Der unwerte Schatz

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»Nun? – Karl Schröder!? Antworte!«

Der aufgeforderte Junge lief rot an. Er musste raten, und sein Zahlenwissen war nicht sonderlich gut. »Vor drei und zehn Jahren?« Karl Schröder, kaum so hoch wie ein Wanderstock, dachte sich wohl, dass eine schlechte Antwort besser wäre als keine. Trotzdem hörte sich die ausgedachte Antwort mehr nach einer Gegenfrage an.

Einige der Jungen lachten.

»Was ist drei und zehn?« Herr Mengen zuckte mit seinem Bart. Er griff dem kleinen Schröder unters Kinn. »Du musst das Zählen lernen, Karl!« Und schon schritt er weiter zu Hugo.

»Nehmt euch ein Beispiel an Hugo Hassel!« Er legte die Hand auf Hugos Schulter. »Nun, Hugo? Wann wurde der Führer geboren?«

»Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Braunau geboren, Herr Mengen!«, rief Hugo, ohne den Kopf dabei zu bewegen. Er starrte geradeaus und nur die Mundwinkel zuckten beim Sprechen.

»Völlig richtig, mein Junge«, sagte Mengen und klopfte Hugo auf die Schulter. »Wenigstens das solltet ihr alle über unseren Führer wissen. Und nun wollen wir uns sportlich betätigen.«

Die von Mengen unterrichteten Fächer waren die Hauptfächer für die Jungen. Neben Turnen – fünfzehn Unterrichtsstunden pro Woche – und Rassekunde war dies auch das Fach Biologie. Das allgemeine Wissen schien eher wenig Bedeutung zu haben. Die Jungen sollten sich gesund und fit halten und über Hitlers Ideologie nicht nur Bescheid wissen, sie sollten sie verinnerlichen. Lehrer Mengen hielt sich strikt an den Lehrplan.

In Mengens Unterricht – und ebenso bei seiner Jungvolk-Vorausbildung – wurde ausschließlich der exakte Hitlergruß zum Grüßen verwendet, der in den ersten Tagen ständig geübt werden musste. »Die Finger lang, den Arm gerade, leicht zum Himmel, Hacken zusammen und hoch das Kinn!«

Hugo befolgte die Hinweise, er wollte keineswegs Ärger machen. Dass er diesem Lehrer trotzdem mit Hochachtung begegnete, lag wohl an dem äußerst fairen Umgang des Mannes mit seinen kleinen Zöglingen.

Nach einigen Schulwochen hatten die meisten Jungen das Lieblingslied ihres – mit größter Ehrfurcht angesehenen Lehrers – gelernt, das allbekannte Horst-Wessel-Lied.

Hugo Hassel konnte auch dieses Lied als erster der Klasse auswendig singen. Während des Liedes hatten die Kinder die Hand zum Hitlergruß zu erheben, was nicht einfach war, denn das Lied war lang, und häufig wurde gleich darauf das Deutschlandlied gesungen, von dem die Jungen jedoch nur die erste Strophe kennen mussten. Der rechte, in die Luft gestreckte Arm wurde dabei immer schwerer und wer ihn mit der anderen Hand stützte oder sinken ließ, erhielt eine Kopfnuss vom Lehrer. Um keinen zu benachteiligen, mussten die Jungs drei Schritte Abstand zum Vordermann einnehmen, damit sie die Hand nicht auf dessen Schulter ablegen konnten.

Herr Mengen hörte Hugo gern beim Singen zu. So durfte der Junge häufig vortreten und eine Strophe solo singen, während die anderen mit erhobener Hand die Wiederholungen mitsingen sollten. Dabei kam es Hugo sehr entgegen, dass er seine Hand als Solist nicht zu erheben brauchte.

Hugo war noch keine sieben, da erfüllte er bereits die Normen, die bei der Pimpfenprüfung der Zehnjährigen verlangt wurden, um ins Jungvolk eintreten zu können. Er war quirlig und wusste die Kräfte richtig einzuteilen. Im Weitsprung schaffte er locker die geforderte 2,50-Meter-Marke, beim 75-Meter-Lauf lief er unter zehn Sekunden, wobei zwölf gefordert waren. Hugos größte Herausforderung waren jedoch die drei vernünftig gezogenen Klimmzüge.

Seit Oktober fand der Turnunterricht in der Turnhalle der Roten Schule statt. Die Jungen mussten zunächst in einer Linie antreten.

»Ich zeige euch jetzt, wie man Klimmzüge macht«, sagte Herr Mengen, und schon zog er das Jackett aus, gab es einem Jungen in die Hände, nachdem er deren Verschmutzung geprüft hatte, lief zum Reck und sprang locker hinauf an die Stange. »Seht ihr?!«, rief er den Jungen zu und machte einen Klimmzug nach dem anderen. Die meist Sechsjährigen schauten hinauf zu ihrem Lehrer und zählten laut mit. Bei » ... zwanzig!« sprang Herr Mengen auf den Boden zurück. »Nun, wer möchte heute unser Vorturner sein?«

Selbstverständlich meldete sich keines der Kinder freiwillig.

»Hugo, komm her!«

Hugo trat nach vorn unter die Eisenstange, die er nie und nimmer erreichen konnte. Der Lehrer griff dem Jungen in die schmale Hüfte und hob ihn hoch.

Für Hugo war dies eine neue Erfahrung. Er sah die erwartungsvollen Gesichter der anderen Jungen und hing zunächst regungslos an der Stange. Nun biss er die Zähne zusammen, zog sich hinauf, bis das Kinn über der Stange war. Er ließ den Körper zurück in die hängende Position fallen. Hugo wollte den Vorgang wiederholen, doch es gelang ihm kein zweiter Klimmzug, wie auch immer er sich mühte. Hugo sah die Mienen der Jungen, die zu ihm hinaufschauten. Sein Gesicht war rot, und er schämte sich.

Nach kurzer Zeit befreite ihn Mengen aus der unangenehmen Lage.

Danach waren alle anderen dran, und es stellte sich heraus, dass viele Jungen nicht einen einzigen Klimmzug schafften. Doch dieser Umstand konnte Hugos Gram nicht mindern.

Die Turnstunde war vorüber, und die Jungen marschierten im Gleichschritt zurück in den Umkleideraum.

»Hugo!«, rief Herr Mengen plötzlich. »Komm zu mir!«

Der Junge gehorchte und trat vor den Lehrer. Beide waren allein in der großen Turnhalle.

»Es hat dich sehr geärgert, dass du nur einen Klimmzug geschafft hast?«, fragte Mengen und hockte sich neben Hugo.

Der Junge schaute ihn betroffen an, denn er erwartete eine derbe Rüge für sein Unvermögen. Schließlich musste der Lehrer von ihm enttäuscht sein.

Doch Mengen lächelte. »Verloren ist, wer sich aufgibt. Das Können im Turnen kommt vom stetigen Üben und von der richtigen Technik.« Der Lehrer setzte sich auf eine Turnbank, zog den Jungen an sich heran und rieb Hugos Hände zwischen den seinen. Der Junge stand vor ihm und hörte genau zu. »Als ich zehn Jahre war, da schaffte ich drei Klimmzüge. Damals hatte ich einen Turnlehrer, na, ich sag dir, ein wirklich strenger Mann, ein sehr strenger. Ich konnte ihn bis dahin nicht gut leiden und hatte Angst vor ihm. Und ich ärgerte mich ungeheuerlich, weil einige aus meiner Gruppe mehr Klimmzüge schafften, obwohl sie schwächer waren.« Hugo stellte fest, dass Mengens Augen blau wie die seinen waren. »Mein Lehrer bemerkte, wie ich mich über meine schlechte Leistung ärgerte. Und so nahm er mich zur Seite und erklärte mir: ›Das Klimmziehen ist nicht von der Kraft abhängig, es ist die richtige Technik, die du anwenden musst, um viele Klimmzüge zu schaffen. Und hast du die Technik drauf, dann kommt die Kraft von allein.‹« Herr Mengen drückte mit zwei Fingern Hugos dünnen Oberarm. »Glaub mir, ich war damals nicht kräftiger als du.« Der Lehrer stand auf. »›Ich verrate dir die Technik‹, sagte damals mein Vorturner. ›Anwenden musst du sie selbst. – Wenn du das erste Mal oben bist, dann lässt du dich gleich wieder fallen und holst mit deinem ganzen Körper Schwung und nutzt ihn, um wieder hinaufzukommen. Du musst den Schwung aus deiner Hüfte holen, nicht aus den Beinen.‹– Ich befolgte den Rat meines Turnlehrers – und siehe da, ich schaffte auf Anhieb fünfzehn Klimmzüge!« Herr Mengen lachte, dass es in der Halle schallte. »Willst du es probieren, Hugo?«

»Jawoll, Herr Mengen!«, murmelte Hugo.

»Dann komm, ich helfe dir rauf!«

Wieder stand Hugo unter der Reckstange, und wieder hob der Lehrer ihn hinauf.

In diesem Moment rückte eine fünfte Jungenklasse in der Turnhalle ein. Erst war es laut, doch sofort verstummten die Schüler, als sie Mengen sahen. Sie nahmen Aufstellung und blickten alle zu Hugo, der bewegungslos an der Reckstange hing. Einige lächelten mitleidig.

Hugo befolgte den Rat des Lehrers. Er zog sich hinauf, um im gleichen Moment den Körper hinunterfallen zu lassen, nutzte den Schwung – und wie von allein kam er wieder hoch. Und noch einmal und noch einmal!

Nach zehn Klimmzügen rief Mengen: »Lass es gut sein, Hugo, und komm runter!«

Einige der Großen klatschten Beifall.

Hugo ließ die Reckstange los, obwohl er hoch über dem Boden hing und fiel dem Lehrer in die Arme. Er war glücklich und strahlte!

»Danke, Herr Mengen!«, rief er und flitzte an den großen Jungen vorbei in den Umkleideraum.

In Hugos Klasse gab es einen Schüler, der Sohn eines orthodoxen Juden war. Der Junge war recht schweigsam, hielt sich meist zurück, obwohl er sich immer viel Mühe gab und den anderen Jungen in nichts nachstehen wollte. Einige in der Klasse mieden ihn, weil es ihnen empfohlen wurde. Hugo Hassel ging mit Samuel um wie mit jedem anderen Jungen. So war es Hugo höchst unangenehm, dass Mengen in Rassekunde immer wieder den kleinen Samuel und Hugo an die Tafel rief, um dann lang und breit zu erklären, dass Hugo alle arischen Eigenschaften besäße und Samuel alle jüdischen. Manchmal nahm der Lehrer ein Bandmaß und kontrollierte den Abstand von der Stirn bis zum hinteren Schädelansatz. »Seht ihr! Es sind fünf Zentimeter Unterschied!«

Hugo entschuldigte sich nach der Stunde bei Samuel, der darauf nichts erwiderte. Er stelle außerdem fest, dass die Storchmann den kleinen Samuel häufiger mit dem Rohrstock traktierte, als alle anderen Jungs der Klasse.

Das ging fast zwei Monate so, dann verschwand Samuel aus der Klasse und niemand erklärte den Mitschülern, warum es so war.

Hugo erkannte in seinem Lehrer trotzdem das große Vorbild. Endlich fand er einen Ersatz für den stets abwesenden Vater. Mengen schlug nie einen Schüler, sah man von den Kopfnüssen ab. Seine Strafmaßnahmen bei Ungehorsamkeit mündeten meist in sportlichen Aufgaben. So mussten die ungehorsamen Schüler auf dem Schulhof Runden rennen, während die anderen frei hatten. Auch an den schmutzigen und nach Ölspänen riechenden Händen mancher Jungen war zu erkennen, wie oft sie vor der Klasse zehn Strafliegestütze machen mussten.

 

Mengen beobachtete Hugo ebenso. Während der körperlichen Ertüchtigung im Turnunterricht durfte Hugo oft als Vorturner herhalten.

»Wie war das mit Schrader?«, fragte der Lehrer. »Ich kam erst später dazu, und jeder Schüler erzählte etwas anderes.«

»Die Sache mit dem Bilderalbum?«

Mengen nickte. »Ich dachte tatsächlich, der Schrader hätte dich umgebracht. Bewegungslos hast du am Boden gelegen. Und alles wegen eines Albums.«

»Onkel Mutzmann hat es mir geschenkt. Es war bestimmt das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe ...«

Manchmal hat mir Onkel Mutzmann was geschenkt. Wenn Mama ein bisschen Geld übrig hatte, was sehr selten war, dann kaufte sie meist meinen Schwestern was.

»Guten Morgen, Hugo, sieh her, was ich habe!«, rief Onkel Mutzmann, als wir am Morgen an seiner Ladentreppe vorbeigingen.

Fritz sah mich aufgeregt an.

»Wir müssen uns beeilen«, flüsterte ich. Von der Frau Storchmann gab es immerhin zehn Rohrstockschläge auf den Blanken, wenn man zu spät kam und keine richtige Entschuldigung hatte.

Trotzdem liefen wir schnell die kleine Treppe hoch. Onkel Mutzmann hielt ein Album in den Händen. »Schau her, es ist vollständig, ein Großhändler hat es mir mit einer Lieferung geschickt.«

»Was sind das für Bilder?«, fragte Fritz aufgeregt.

»Keine Ahnung«, meinte Onkel Mutzmann. »Es ist noch eingepackt. – Warte, ich steck es dir in die Mappe, Hugo. – Und dann ab in die Schule mit dir.«

»Danke, Onkel Mutzmann!«, rief ich. Und schon flitzte ich los.

Während der Frühstückspause holte ich das Album aus meiner Mappe. Sogleich umringten uns die anderen Jungen. Ich entfernte vorsichtig das Umschlagpapier. Es war ein wunderschönes Album, mit einem goldenen Rahmen auf der Vorderseite.

»Deutsche Kolonien«, las ich laut vor. »Vom Cigaretten-Bilderdienst Dresden.« Im Album waren viele bunte Bilder von unbekannten Ländern und merkwürdig aussehenden Menschen und Tieren. Die Jungs meiner Klasse staunten.

Wir hatten aber einen dabei, den Franz Schrader, der war ziemlich dick und viel größer als die meisten anderen. Der spielte sich immer mächtig auf. Außerdem konnte ich ihn nicht leiden, weil er mich ständig Idiot nannte.

Der dicke Franz riss mir das Buch aus der Hand.

»Na und! Ich hab viel bessere zu Hause.« Und schon blätterte er darin herum, so derb, dass eine Seite zur Hälfte einriss.

Für einen Moment sah ich, dass es zwecklos war, Fritz zurückzuhalten. Augenblicklich stürzte er sich auf Schrader und warf ihn mit aller Kraft zu Boden. Das Album flog durchs Klassenzimmer, einige bunte Bilder fielen heraus.

Ich stand zunächst wie versteinert da. Fritz saß auf dem dicken Franz und wollte ihn wahrscheinlich erwürgen. Der aber bäumte sich plötzlich auf, wälzte sich herum und saß nun seinerseits auf Fritz, der viel schwächer war als Schrader. Ich erwachte aus der Ohnmacht und versuchte, Franz am Hals zu erwischen, doch er schüttelte mich einfach ab. Ganz rot war er im Gesicht geworden und schlug jetzt immer kräftiger auf Fritz ein, dessen Nase blutete. Dann nahm er Fritz bei den Haaren und schlug seinen Kopf derb auf das Parkett. Fritz schrie wie wahnsinnig, dann war er plötzlich still.

In diesem Augenblick sah ich den dicken Franz davonfliegen.

»Sie sind reingekommen und haben Franz Schrader von Fritz heruntergerissen und richtig derb zwischen die Bänke geworfen. Ich hatte große Angst, weil Fritz wie tot auf dem Parkettboden lag.«

»Hugo! Sag doch was!« Der Lehrer kniete sichtlich verzweifelt neben dem Jungen. Er fuhr Hugo mit der Hand über die blutverschmierten Wangen. Dann hob er den Körper des Jungen vom Boden hoch, ohne Rücksicht auf die eigenen Sachen zu nehmen, drehte sich zur Klasse und rief: »Setzen! Alle! Schrader – mitkommen! Sofort!«

Sogleich rannten alle Jungen zu ihren Stühlen, nur wenige flüsterten.

Mengen trug Hugo eilig ins Sekretariat und legte ihn dort auf ein hölzernes Bett. »Schrader, du gehst zum Herrn Direktor und lässt dich bestrafen!«

In diesem Moment erwachte Hugo aus seinem Trauma und stöhnte.

Franz Schrader schluckte und verließ das Zimmer. Fräulein Semmelweiß, die Schulsekretärin, kam erschrocken angelaufen. »Was ist denn nun schon wieder passiert?«

»Der Schrader hätte den kleinen Hassel fast umgebracht. Wenn ich nicht dazugekommen wäre, denn ... Geben Sie mir einen kalten Lappen!«

Mengen tupfte mit dem nassen Lappen Hugos Gesicht ab. Es wirkte wie entstellt, eine Lippe war aufgeplatzt, ein Auge färbte sich bereits blau und die Nase blutete noch immer. Zudem zitterte Hugo am ganzen Körper.

»Ich muss in meine Klasse. Bleiben Sie bei ihm! Wenn es schlimmer wird, dann rufen Sie sofort einen Arzt!«

Fräulein Semmelweiß nickte dem Kollegen zu. Geschwind holte sie etwas Zellstoff und kümmerte sich um den Jungen.

Der Lehrer machte einen Umweg über das Direktorenzimmer. Dort stand Franz Schrader in der Ecke, die Arme ausgestreckt, die Handrücken nach oben. Der Direktor hatte auf die Handrücken ein dickes Buch gelegt.

»Wenn das Buch herunterfällt, empfehle ich zwanzig Liegestütze, dann wieder das Buch! Den ganzen Tag! Es kann nicht sein, dass er in unserer Schule einen Schulkameraden totschlägt!«

Der Direktor nickte Mengen zu. »Ich kümmere mich um ihn, Herr Kollege, keine Angst. Der Schrader und ich, wir kennen uns bereits.«

Hugo versuchte derweil vorsichtig, den Oberkörper anzuheben. Nach einem Weilchen saß er auf dem Holzbett.

»Wie du aussiehst, Hugo, schau doch, dein Hemd ist ganz zerrissen und voller Blut. Was habt ihr nur getan?« Fräulein Semmelweiß wollte Hugo ein wenig säubern.

»Franz hat mein Bilderalbum weggenommen und zerrissen. Es war ganz neu.«

»Und deshalb bringt ihr euch gegenseitig um? – Na hör mal, macht man denn so was?« Sie ging zu einem Spind, suchte, und fand ein braunes Hemd, das sie herauszog. »Zieh dein Hemd aus, Hugo!«

Der Junge zog vorsichtig das Hemd über den brummenden Kopf. Die Sekretärin half ihm dabei, das braune Hemd anzuziehen. »Es ist mal liegengeblieben und das kleinste, das ich finden kann. – Komm her!« Sie unterstützte Hugo, den größten Teil des Hemdes in die Kniehose zu stopfen, denn es reichte bis zu den Waden. Sie krempelte ihm die Ärmel bis zum Ellenbogen hoch und knöpfte das Hemd zu. »Na bitte, es passt ja fast. Geh zum Waschbecken und kühl dein Auge mit kaltem Wasser! Aber grün und blau wird es ganz bestimmt.«

Hugo humpelte zum Becken und betrachtete das Gesicht im Spiegel. Erschrocken drehte er sich zu Fräulein Semmelweiß. »Ich glaube, Mama wird sich nicht freuen.«

Die Sekretärin fuhr dem Jungen über den Kopf. »Ach was! Der Schrader ist schon sitzengeblieben und viel stärker als du. – Wenn du kannst, dann geh wieder in dein Klassenzimmer. Und bedanke dich bei Herrn Mengen! Wer weiß, was passiert wäre, wenn der nicht ...«

Hugo nickte und nahm das eigene Hemd in die Hand. Der Kopf schmerzte fürchterlich. Auf dem Weg zum Klassenzimmer wurde es dem Jungen schlecht, er rannte zu den Toiletten und übergab sich, kaum dass er eine erreicht hatte. Dies passierte ihm während der nächsten Tage einige Male.

Hugo Hassel wusch sich erneut den Mund, tupfte ihn am zusammengeknüllten Hemd trocken und lief zum Klassenzimmer. An der Tür blieb er stehen und lauschte. Dahinter herrschte Totenstille.

Zaghaft klopfte er an. Mengen öffnete sogleich die Tür. Für einen Moment sah Hugo ein Lächeln der Erleichterung im Gesicht des großen Mannes, dann aber blickte der Lehrer wieder sehr streng.

»Danke, dass Sie mir geholfen haben«, flüsterte Hugo.

»Na, zum Glück scheint es dir wieder besser zu gehen. Setz dich auf deinen Platz, Hugo!«

Unter den ehrfürchtigen Blicken der Klassenkameraden schlich Hugo durch das Zimmer und nahm in der letzten Reihe Platz. Dort lag auch sein Album, notdürftig eingepackt. Eine Strafe folgte nicht. Nicht zu Hause und nicht in der Schule.

»Es tut mir leid!« Mengen konnte nicht erklären, was aus dem Jungen Samuel geworden war. »Glaub mir, ich bereue, dass ich es getan habe, aber ...«

»Was haben Sie getan, Herr Mengen?«

»Erniedrigt. – Ich habe Samuel erniedrigt. Er war ein guter Schüler. Und ich habe ihn erniedrigt.«

»Papa hat Onkel Mutzmann auch erniedrigt. Mama sollte nicht mehr bei ihm einkaufen. Und mich hat Papa geschlagen, wenn ich bei Onkel Mutzmann war und er es mitgekriegt hat.«

»Der neunte November. Man darf nicht darüber reden«, sagte Mengen.

Hugo schüttelte den Kopf. »Doch, man darf es. Aber erst irgendwann.«

»Jetzt? – Willst du jetzt darüber reden?«

»Ich denke immerzu an Onkel Mutzmann. Ich mochte ihn sehr gern. Er war so etwas wie mein Großvater. – Der neunte November ... Etwas Lautes weckte mich ... Krach. Ja, da war ein schrecklicher Krach ...«

»Was ist das?«, fragte mich Fritz und fuhr im Bett hoch.

»Ich weiß nicht! Es ist Krach.«

Mama war arbeiten. Wir sprangen gleichzeitig aus dem Bett. Hermine und Margaret standen schon am Fenster zur Straße. Unten rannten Menschen herum, ein Laster hielt, Soldaten sprangen herab.

»Das ist die SS«, murmelte Hermine. »Irgendwas ist passiert.

In diesem Moment klirrten Glasscheiben, Stimmen schrien durcheinander. Wir zuckten alle zusammen, ein Schuss hallte durch die Straße.

»Ich habe Angst«, flüsterte Margaret.

»Komm!« Ich tippte Fritz in die Seite. »Lass uns nachschauen, was da los ist!«

Hermine wollte mich festhalten. »Spinnst du, Hugo? Willst du etwa erschossen werden?«

Ich riss mich los und ging zu meinem Regal. Dort fand ich den Glücksstein. »Komm, Fritz!«

Rasch zogen wir uns einen Pullover über den Schlafanzug und schlichen zur Wohnungstür. Ich nahm die Kette ab und öffnete die Tür. Im Treppenhaus war es still.

»Das darfst du nicht!«, rief Hermine uns nach.

Zu spät. Wir hüpften längst die ausgetretenen Stufen hinunter.

Unten im Hausflur war es unheimlich dunkel. »Mach bloß kein Licht an«, flüsterte ich Fritz zu.

Gerade wollten wir die Haustür öffnen, da hörte ich das Stöhnen eines Mannes im Hof. Fritz umklammerte meine Hand, barfüßig liefen wir durch den Flur und versuchten, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.

»Hallo?«, fragte ich. »Ist da wer?«

Wir hörten ein schmerzvolles Husten und dann ein Flüstern: »Hugo, was machst du hier, geh hinauf.« Es war die Stimme von Onkel Mutzmann. Fritz und ich, wir waren beide erleichtert. Schnell schlüpften wir durch die Hoftür und kauerten neben Onkel Mutzmann, der am Boden lag.

»Was ist passiert? Was ist mit dir? Bist du krank, Onkel Mutzmann?«

»Hugo, Hugo, schnell, geh hinauf!«

Ich hörte nicht auf ihn, ich griff nach seiner Hand. Im Mondlicht sah ich, dass seine Sachen zerrissen waren und dass sein Arm blutig war. »Was ist passiert, Onkel Mutzmann? Hast du dir wehgetan?«

»Sie haben meinen Laden zerstört und auf mich eingeschlagen. Mitten in der Nacht.«

»Sie? Was hast du ihnen getan, Onkel Mutzmann?«

Er versuchte, den Oberkörper ein wenig anzuheben. Dann flüsterte er uns beiden zu: »Sie haben mich geschlagen, weil ich Jude bin. Nur deshalb, Hugo. Es wird immer schlimmer. Sie predigen den Hass gegen uns Juden. Das ist der Anfang von unserem Ende. Die Nacht kommt, mein Junge, und es wird Blut regnen, viel Blut. Das Blut wird eines Tages trocknen, verkrusten, sich in Staub auflösen. Zurück bleiben die Leere in den Adern, der Schmerz aller Schmerzen, das Rauschen in den Ohren und die verblassende Narbe. – Es ist besser, wenn du nicht mit mir gesehen wirst. Leb wohl, mein Hugo, und bleib, wie du bist. Hoffentlich lassen sie dich in Ruhe. Wenigstens dich. – Und jetzt geh bitte, Hugo! Geh!«

 

Ich kapierte seine Worte noch nicht, und doch weinten wir beide gleichzeitig. Fritz drückte Onkel Mutzmann ganz fest, dann ich. »Bitte verlass uns nicht«, flehten wir.

Onkel Mutzmann lächelte für einen Moment. Dann wurde er wieder ganz ernst. »Geh jetzt schnell, Hugo! Bitte geh, mein Junge! Und versprich mir, du wirst niemandem erzählen, dass wir uns heute gesehen haben. Bitte versprich es mir!«

Fritz weinte nun noch mehr. Doch ich stand auf, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, dann griff ich nach der Hand von Onkel Mutzmann und legte ihm schweren Herzens etwas in seine faltige Hand hinein.

»Den brauchst du bestimmt mehr als ich, Onkel Mutzmann«, flüsterte Hugo, schluchzte, erhob sich und schlich hinauf in die Wohnung. Seine Beine waren schwer, jede Treppenstufe eine neue Herausforderung.

»Jemand hat Onkel Mutzmanns Laden kaputtgemacht«, murmelte er, um die fragenden Augen der Schwestern zu befriedigen. Dann legte er sich in sein Bett und weinte. So leise, dass es niemand hören konnte.

Der Jude Mutzmann öffnete derweil vorsichtig die Hand und betrachtete lange den Glücksstein.

Erst am frühen Morgen wagte sich Mutzmann in die Räume zurück, die bis zur Kristallnacht Wohnung, Geschäft und sein Zuhause gewesen waren.

Als Hugo am Morgen des 10. November 1938 das Wohnhaus verließ, um zur Schule zu gehen, sah er den zerstörten Laden.

Auf der Straße lagen noch Glassplitter.

Kurz darauf entdeckte er auf der anderen Straßenseite einen Armeelaster, auf dem einige Leute saßen. Ringsum standen Männer mit Waffen und passten auf, dass keiner vom Lastwagen flüchten konnte.

Hugo lief schnell auf die andere Straßenseite. Nun bemerkte auch der alte Mutzmann den Jungen und gab ihm einen Wink, zu verschwinden. Doch Hugo blieb wie angewurzelt stehen. Die SS-Männer kletterten auf den Laster und der Motor heulte auf.

Niemand beachtete das kleine Kind.

Hugo hob die rechte Hand. Als sich das Fahrzeug bewegte, winkte der Junge lange. Große Tränen rollten über seine Wangen. Hugo Hassel ahnte bereits, dass er Onkel Mutzmann niemals wiedersehen würde.

Lang war der Weg an diesem Tag, schwer waren Hugos Beine. Als er in der Schule eintraf, wurde er von seinem Lehrer, Herrn Mengen, auf dem Schulhof empfangen.

»Komm, Hugo, schnell! Es ist großer Appell heut. Man hat dich ausgewählt, das Horst-Wessel-Lied zu singen. Bitte enttäusche mich nicht, Hugo!«

Der Junge blickte Mengen, der die Tränen in Hugos Augen längst bemerkt hatte, erstaunt an. »Ich allein? Vor allen anderen? Das ganze Lied?«, fragte Hugo.

Mengen nickte. »Sing nur schön laut und lass dir Zeit dabei! – Nun komm, du musst noch deine Mappe hochbringen!«

Ein paar Minuten später marschierte die Klasse geschlossen auf den Hof. Andere Klassenzüge standen bereits im Karree, die Reichsfahnen waren gehisst und flatterten munter im Herbstwind.

Hugo sollte hervortreten und sich beim Direktor melden. Der klopfte ihm auf die Schulter, ohne ihn anzusehen. »Laut und deutlich. Verstanden? Gib dir Mühe! Die Zeitung ist auch da! Geh nachher dorthin, wo ich die Begrüßungsrede halte!«

Hugo wurde es himmelangst. Das Herz klopfte wie wild, die Beine waren weich wie Butter, immer wieder zupfte er an seiner Hose.

Jemand rief laut »Achtung!«– Alle standen stramm, auch Hugo. Der Direktor trat nach vorn und schrie in die Masse: »Wir grüßen unseren Führer Adolf Hitler mit einem dreifachen ...« Kurz darauf tönte ein dreimal schallendes »Sieg Heil!« über den Hof.

»Jetzt bist du gleich dran«, flüsterte Fräulein Semmelweiß dem kleinen Hugo zu.

Der Direktor kam zurück, lächelte Hugo an und gab ihm einen Wink. Ganz vorsichtig, wie in Trance, mit steifen Beinen, trat Hugo nach vorn, betrachtet von den wartenden Lehrern und allen Jungen und Mädchen der ganzen Schule.

Er atmete tief durch. Seine Blicke trafen auf die des Herrn Mengen, der ihm lächelnd zunickte.

Hugo öffnete den trockenen Mund und begann, mit seiner hohen, klaren Stimme das Wessel-Lied zu singen. Erst etwas leise, dann laut und lauter, sodass der Lärm der Stadt für Augenblicke verstummte, sodass der Atem der anderen Kinder und der Lehrer stockte, die sogleich ihre rechte Hand zum Hitlergruß erhoben hatten. Hugo sang und hielt die Augen dabei geschlossen.

»Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!

SA marschiert mit mutig festem Schritt.

Kam’raden die Rotfront und Reaktion erschossen.

Marschier’n im Geist in unsern Reihen mit.

Die Straße frei den braunen Bataillonen.

Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann!

Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen.

Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an.

Zum letzten Mal wird nun Appell geblasen!

Zum Kampfe steh’n wir alle schon bereit!

Bald flattern Hitlerfahnen über Barrikaden,

die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit!«

Hugo sang zweifelsohne sehr laut, doch war aus seiner Stimme Schmerz zu hören, ein Seelenschmerz, der ihm in den letzten Stunden widerfahren war. Sein Lied klang nach Trauer und Abschied. Und während Hugo sang, da sah er nicht die anwesenden Kinder und Lehrer, da sah er nicht den Schulhof mit den wehenden Fahnen.

Er sah die finstere Nacht, sah einen Regen aus Blut, sah Millionen toter Augen, fühlte die Leere in den Adern und spürte den Schmerz aller Schmerzen. Nur ein Rauschen war in seinen Ohren.

Hugo sah Onkel Mutzmann davonfahren.

Und er sah ihn sterben.

Der Schüler Hugo Hassel erwachte erst, als der Direktor ihm die mit ledernen Handschuhen bekleideten Hände auf die Schultern legte und mit lauter Stimme sagte: »Das hast du wirklich vorbildlich gemacht, mein Junge. Vorbildlich.«

Hugo durfte weiterhin vorn stehen. Er wischte sich Tränen, die auch der kalte Herbstwind aus den Augen gedrückt haben konnte, von den Wangen.

Es folgte die Ansprache eines Obersturmbannführers der SS. Der brüllte über den Platz, und Hugo begriff allmählich, was geschehen war. Der Junge konnte jedoch nicht verstehen, dass dieser Mann sich jeden Glassplitter einer in der vergangenen Nacht zerbrochenen Glasscheibe von den Juden teuer bezahlen lassen wollte. Schließlich hatten die Juden doch nichts kaputt gemacht.

Die Reichsregierung beschloss zwei Tage später, dass die Juden vollständig aus dem deutschen Leben zu verdrängen wären. Des Weiteren sollten sie für die Schäden während der Kristallnacht eine Milliarde Reichsmark Schadenersatz zahlen. Anfang Dezember begann Polizeichef Himmler, allen Juden die Führerscheine wegzunehmen.

Die Kinder aus Hugos Klasse waren stolz, dass einer ihrer Kameraden das berühmte Lied vorgetragen hatte. Und im Nachhinein hätten sie es gern an seiner Stelle getan, denn Hugo stand einige Tage im Rampenlicht der Schule, sein Gesicht wurde gar in einer Leipziger Zeitung abgebildet! Die großen Mädchen tuschelten, wenn sie Hugo sahen: »Ist der nicht süß, der Kleine, und wie schön der gesungen hat ...«

Doch Hugo hörte das alles nicht.

Einzig und allein der Lehrer Mengen beobachtete seinen Schüler an diesem Tag genau. Nur ihm war aufgefallen, welche starken Gefühle Hugos Lied begleitet hatten, und dass sich seine Stimme an diesem Tag klagender angehört hatte, als es sonst der Fall war.

Der Lehrer nahm Hugo in der Pause zur Seite. Die anderen Kinder spielten auf dem Hof. Er saß am Katheder und schaute den Jungen, der unmittelbar neben ihm stand, lange an, bis er schließlich flüsterte: »Manchmal ist es die Ungerechtigkeit, die einen vorwärts bringt und dich die Welt erkennen lässt.«

Hugo atmete tief ein und aus.

»Du musst mit der Masse gehen und trotzdem du selbst bleiben. Das zu tun, ist eine große Kunst. Wenn du es zu etwas bringen willst, dann darfst du kein Mitleid zeigen, auch wenn du es hast. Wer immer es war, den du schmerzlich vermisst, du darfst deine Trauer nicht offen zeigen, sonst gefährdest du dich selbst.« Herr Mengen fuhr dem Jungen sanft über die Wange. »Und damit hilfst du weder dir noch ihm. – Hast du mich verstanden? Hast du mich wirklich verstanden, Hugo?«

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