Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien

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»Haftbefehl?«

»Ein vorläufiger wurde bereits mündlich erteilt. Der Staatsanwalt meinte …«

Mit einer Handbewegung unterbrach Rattner. »Ist mir egal, was der Staatsanwalt meinte. Lassen Sie alle Spuren sichern. Ich will die Namen und Adressen von allen Leuten, die hier wohnen, und auch die von den Angestellten, die im Laden arbeiten. Paul, du hörst dich um. Die vermeintliche Täterin nehme ich mit zum Verhör. Ich brauche jemanden, der mich ins Präsidium fährt.«

Der Polizist reagierte sofort: »Mike! Du bringst den Hauptkommissar und die Verdächtige zum Verhör. Okay?«

»Was ist mit dem Sohn des Opfers? Wie hat der sich verhalten?«, wollte Rattner wissen.

»Pan… Pantelija Suker? Der sitzt mit der gesamten Familie oben in seiner Wohnung und scheint sich zu beraten. Ehrlich gesagt, wie die absolute Trauer wirkte das nicht.«

»Paul!«, rief Rattner dem Kollegen hinterher. »Mit diesem Pantelija Suker will ich auch unbedingt sprechen! Sieh zu, dass du ihn ins Präsidium bringst.«

»Nur ihn oder die ganze Familie?«

»Paul!«

»Ich mach schon.« Meisner winkte ab.

Minuten später saß Rattner auf der Rückbank eines Einsatzfahrzeuges neben der jungen Frau. Sie sagte kein Wort und wirkte wie in einem tiefen Traumzustand. Kristina Krajic war ungeschminkt, einfach gekleidet mit Jeans und Bluse, ihr langes, dunkles Haar lag offen über den Schultern und sie trug keinerlei Schmuck.

Internationaler Luftraum
18. August

Stokan Vujasinović, ein knapp fünfzigjähriger Serbe, saß am Bullauge des Fliegers und schaute hinaus auf den leeren, langweiligen Flughafen, dessen Areal zwischen Leipzig und Halle in Mitteldeutschland lag. Hier starteten und landeten nicht nur unzählige DHL-Flieger. Auch die NATO, speziell die Amerikaner, nutzte diesen östlichen deutschen Flugplatz, um Versorgungsgüter, Waffen und frische, junge Kämpfer in ihre Besatzungsgebiete zu bringen.

Unbewusst verzog der stoppelbärtige Mann das Gesicht, an dessen Kinn eine trotzdem gut zu erkennende Narbe prangte.

»Hallo«, sagte eine junge Stimme.

Vujasinović schaute nach oben. Na prima! Ein deutscher Jugendlicher auf dem Weg in den Urlaub. »Hey, pozdrav!«, antwortete der Serbe in einer englisch-serbischen Wortkreation, die er sehr häufig benutzte.

»Ich habe 12 B. Ist das der Sitz in der Mitte?«, fragte der Junge, der einen Rucksack in den Händen hielt, den er zunächst auf dem Sitz neben dem Gang abstellte und schließlich öffnete.

»Ja, B ist in der Mitte. Was ist, willst du gern ans Fenster? Mir ist das egal.«

Der Junge lächelte. »Mir auch. Ich sehe eh nichts. Außerdem, bei Final Destination, also, ich meine beim ersten Teil, da sind zuerst alle die rausgeflogen, die direkt an den Fenstern saßen. Ich meine, als das Flugzeug gleich am Anfang vom Film explodiert ist.«

Stokan Vujasinović betrachtete das Gesicht des Jungen und erblickte nun auch den Blindenstock. »Was denn, du bist blind?«, fragte er leise und mit deutlich erkennbarem Akzent.

Fedor schnitt eine für ihn typische, fast einstudiert wirkende Grimasse. »Man kann eben nicht alles haben. Ich komm aber ganz gut damit zurecht.«

»Du bist blind und hast trotzdem Final Destination gesehen? Wie heißt du? Fliegst du ganz allein nach Kroatien?«

Wenigstens Vujasinovićs letzte Frage wurde augenblicklich beantwortet. Ein verdammt kräftiger Kerl schob sich durch den schmalen Mittelgang und fragte den Jungen: »Ich leg den Rucksack ins Gepäckfach. Brauchst du noch was, Fedor?«

Der Junge nahm aus dem geöffneten Rucksack das iPad, die Bluetooth-Braillezeile und das Headset heraus und verschloss den Rucksack wieder. Der Vater verstaute das Handgepäck und den Langstock, fuhr dem Jungen über den Kopf und meinte: »Wenn was ist, dann komm vor zu uns. Beim Start und bei der Landung musst du dein iPad ausmachen.«

»Papa! Ich fliege doch nicht das erste Mal.« Fedor setzte sich auf den mittleren Platz und nahm das iPad und die Braillezeile auf den Schoß. Noch einmal spürte er ein sanftes Klopfen auf seiner Schulter, worauf er flüsterte: »Ich komm schon klar, Papa.«

Sorokin nickte dem Mann neben Fedor zu und fing Anton auf, der gerade durch den Gang flitzte und sehr laut nach ihm rief. Der Hüne hob den kleinen Kerl hoch und trug ihn zurück zu seinem Platz.

»Die meisten wissen das nicht. Es gibt auch Fernsehen für Blinde. Da wird einem erklärt, was gerade zu sehen ist. Das sind manchmal verdammt viele Informationen auf einmal, vor allem dann, wenn die Schauspieler gerade reden. Ist aber besser als nichts«, erklärte der Junge.

»Du heißt also Fedor? Und wie noch?«

»Sorokin.«

»Und wo geht’s hin?«, fragte der Mann neben ihm, während er aus dem Bullauge schaute und einen Gepäcktransporter beobachtete, der mit drei leeren Hängern über den Beton raste.

»Ins DVR-Hotel in der Ferienanlage Borik«, antwortete Fedor und erklärte sofort: »Wir sind fünf. Sie hatten aber keine zusammenhängenden Plätze mehr. Ist aber nicht so schlimm. Anton und Natascha können nämlich mächtig nerven.«

»Ihr macht Urlaub in Kroatien?«

»Ja.« Fedors Finger fuhren über das iPad, das noch ausgeschaltet war, seine Wangen färbten sich ein wenig rot. »Urlaub.«

»Euren Namen nach seid ihr aber auch nicht aus Deutschland?«, fragte Vujasinović.

»Ja und nein. Wir sind offiziell Deutsche. Aber ich wurde in Russland geboren, weit im Osten, am Ural. Und Mama und die beiden Kleinen kommen aus Moskau.«

»Du sprichst gut Deutsch. Bei dir hört man kein bisschen, dass du aus Russland stammst. Fedor heißt du?«

»Ja. Ich war noch ziemlich winzig, als ich Deutscher wurde. Und Sie?« Der Junge drehte seinen Kopf ein wenig zu diesem Mann hin, nicht, um ihn zu sehen, sondern um ihn zu riechen. Er kannte den Duft von dessen Parfüm. Jekaterina hatte ihrem Mann zu Weihnachten ein Duftwasser geschenkt. Das war nicht so gut. Allerdings brachte sie einige Gratisproben mit. Und die hatte Fedor getestet. Eine gefiel der neuen Mutter besonders gut. Und auch Fedor genoss den Geruch, der tagelang an ihm haften blieb. Das Parfüm trug den lustigen Namen »Bang Bang« und roch nach verschiedenen Dingen, die Fedors feiner Geruchssinn speicherte. Er atmete in diesem Moment durch die Nase ein und verdrängte die meist unangenehmen Gerüche im Inneren des Fliegers: die des Kaffees, die der Toiletten und vor allem die der angstschwitzenden Passagiere.

»Ich heiße Stokan Vujasinović. Aber sag einfach Stokan zu mir.«

Die Nasenflügel des blinden Jungen bebten kaum merklich. Er roch frische Zitrone. »Stokan?«, flüsterte Fedor. »Ist das ein kroatischer Name?«

»Nicht nur.«

Nun erkannte Fedor eine Fenchelnote. »Sind Sie denn überhaupt aus Kroatien?«

»Nein. Ich fliege geschäftlich hin. Ich bin aus Novi Sad. Kennst du die Stadt?«

Eine herbe, erdige Note: Fedor hatte einst lange suchen müssen, bis er herausfand, zu welcher Pflanze dieser Duft gehörte. Es handelte sich um schwarzes Kardamom, einem in Nepal und Indien angebauten Ingwergewächs, dessen Samen zu einem Gewürz verarbeitet wurde, das deutlich nach Nadelholz roch und schmeckte. Die Parfümindustrie fand den Geruch männlich und setzte ihn dezent ein. Fedor erkannte den Geruch aber auch bei bestimmtem Gebäck wieder, zum Beispiel bei Pfefferkuchen und Spekulatius. – »Novi Sad. Ich glaube ja. Das liegt doch in Serbien? An …, an der Donau?«

»Korrekt. Woher weißt du das von meiner Geburtsstadt?«

Zuletzt war da ein Hauch von Muscon, dem künstlich hergestellten Duftstoff des Moschus’. »Aus der Schule«, antwortete Fedor und schien nun wieder die Rückenlehne des Sitzes vor sich anzustarren.

»Und was haben sie euch erzählt in der Schule? Was sagen sie über Novi Sad?«

»Ich weiß nicht mehr genau. Es spielte – glaube ich wenigstens – eine strategisch wichtige Rolle im Jugoslawienkrieg.«

Jemand aus dem Cockpit meldete sich, erzählte die standardmäßigen Dinge, wie vor jedem Flug üblich, und kündigte den Vortrag der Stewardessen und Stewards zu den Sicherheitseinrichtungen im Flugzeug an.

Stokan Vujasinović beugte sich jetzt herüber. Seine Lippen kamen näher an Fedors linkes Ohr. »Novi Sad ist eine Stadt im Herzen von Serbien. Sie liegt in einer wunderschönen Gegend an der Donau. Strategisch wichtig? Vielleicht dachten das die Leute von der NATO. Sie wurde von den NATO-Kampfmaschinen völlig zerbombt. Sinnlos zerbombt. Ob sie nun eine strategische Rolle spielte oder nicht, die Stadt wird sich nie wieder davon erholen. Hörst du? Sag das deinem Lehrer.« Er lehnte sich wieder zurück. »Es ist trotzdem eine schöne Stadt. Fast alles wurde wieder aufgebaut. Vor allem die Autobahnbrücken.« Dann schwieg er.

Der letzte Passagier betrat den Flieger. Fedor konnte es nicht sehen, doch schon bald fühlen, denn es handelte sich dabei um eine etwa siebzigjährige, ausgesprochen gut beleibte Dame, deren Ausdünstungen den Geruch des Bang Bang schon bald überdeckten. Sie bat Fedor sofort darum, dass die Armlehne zwischen dem zweiten und dritten Sitz nicht heruntergeklappt würde, worauf sich der Junge einließ. Alsdann verdrängte sie ihn schon bald in Richtung des Platzes von Stokan Vujasinović, der Fedors Problem erkannte und seinerseits die Armlehne nach oben klappte. Gemeinsam belegten Fedor und Vujasinović nun anderthalb Plätze.

»Soll ich dir was verraten? Ich habe schreckliche Angst vor dem Fliegen«, hauchte Vujasinović in Fedors Ohr. »Weil ich jedes Mal befürchte, dass so was Fettes neben mir sitzen könnte. Debela kučka!«

Der Flieger rollte eine lange Strecke zur Startbahn, überquerte dabei sogar eine Autobahn. Das konnte der Junge jedoch nicht sehen. Stattdessen fragte er: »Was ist debela kučka?«

 

Vujasinović betrachtete grinsend die Dame neben Fedor und sagte laut und deutlich: »Debela kučka ist zhira suka.«

Fedor versuchte sich das Lachen zu verkneifen, was ihm nicht gänzlich gelang. Doch die Triebwerke heulten in diesem Moment auf und das Flugzeug erhöhte rasch die Geschwindigkeit. Überall klapperte es, Fedors Lachen war nicht zu hören, der Druck in den Ohren stieg, die Maschine war kurz darauf in der Luft.

»Zhira suka« bedeutete in der russischen Sprache so viel wie »fette Schlampe« im Deutschen oder eben »debela kučka« in Serbien.

»Sprechen die Menschen in Serbien und Kroatien verschiedene Sprachen?«, fragte Fedor, als ein wenig Ruhe eingekehrt war, während das Flugzeug noch aufstieg und die Dame neben ihm merkwürdige Töne von sich gab.

»Sprechen Sachsen und Bayern verschiedene Sprachen?« Vujasinović antwortete mit einer Gegenfrage.

Jetzt grinste Fedor. »Im Grunde genommen sprechen sie schon sehr unterschiedlich.«

»Nein, nein, nein. Sachsen und Bayern sprechen die deutsche Sprache. Dialekte machen den Unterschied. Und alle, die früher in Jugoslawien zusammengepfercht waren, sprechen Serbisch, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Es gibt aber auch bei uns verschiedene Dialekte. Nur die Zeichen sind anders, kyrillische bei uns oder eben lateinische.«

»Also verstehen die in Kroatien mich, wenn ich ›debela kučka‹ sage?«

»Aber bestimmt verstehen die das. Du würdest es sofort merken, wenn man dir ein blaues Auge verpasst. Auch in Kroatien lässt sich niemand gern beschimpfen. Schon gar nicht die Frauen. Ich bilde mir ein, sie haben so einen – wie sagt man gleich – so einen Charme, den auch italienische Frauen haben.«

»Und wie sind italienische Frauen?«

Vujasinović grinste. »Na, du kannst Fragen stellen. Definitiv haben sie immer Recht. Und definitiv ist jede Frau die schönste Frau. Wenigstens behauptet das jede Frau von sich.«

»Auch die debela kučkas?«, fragte Fedor.

»Auch die debela kučkas«, antwortete der Serbe. »Ich vermute, gerade die debela kučkas.«

»Dann werde ich debela kučka wahrscheinlich nicht so oft sagen können.« Fast klang es, als wäre Fedor ein wenig enttäuscht.

»Glaube mir, das ist auch besser so.«

»Wie ist es sonst so in Kroatien?«

»Sonst?« Jetzt bedachte Vujasinović die Fragen des Jungen mit einem Lächeln. »Sonst ist es ganz nett, aber nicht so sehr schön wie Serbien. Kroatien hat eben das Meer in der Nähe. Und damit gibt es dort mehr Urlauber, die Geld ins Land bringen. Deshalb ist es für die Europäische Union interessanter als Serbien.«

»Schade nur, dass ich das Meer nicht sehen kann.«

»Ja. Das ist sehr schade. Wir beide können es aber nicht ändern. Ein Sprichwort bei uns sagt: ›Kako je, tako je!‹«

»Kako je, tako je? Das klingt lustig. Und was heißt das?«

»So wie es ist, ist es.«

Ein Weilchen schwieg der Junge. »Trotzdem«, sagte er schließlich, »jetzt kann ich mir alles ganz gut vorstellen.« Zufrieden nickte er vor sich hin. »Somit beherrsche ich also schon zwei Wörter Serbisch oder eben auch Kroatisch und einen Spruch. Kako je, tako je.«

»Zwei weitere Wörter sind wichtig und ganz einfach: Da und Ne. Ja und Nein. Und noch die zwei: Molim und Hvala – Bitte und Danke. Oder du sagst ›Hvala Vam‹.«

Fedor sprach nach. »Hvala Vam.« Das Hvala wurde am Anfang so ausgesprochen, wie Anton jedes »H« am Wortanfang aussprach.

»Genau. Und das heißt ›Vielen Dank‹.«

»Hvala Vam«, wiederholte Fedor, »für den Crashkurs in Serbisch und Kroatisch.«

Ein Tonsignal erklang.

»Molim, molim. Jetzt kannst du jedenfalls dein iPad benutzen«, sagte Vujasinović.

»Ich weiß«, antwortete Fedor. »Die Anschnallzeichen sind aus. Das Bingbong hat es mir verraten.«

Leipzig
18. August

»Ist sie schon hier?« Rattner erschien frühzeitig im Büro. Meisner war jedoch vor ihm da.

»Wurde gerade aus der Untersuchungshaft rüber gebracht. Zimmer 107«, antwortete der Kriminalobermeister und warf einen Stapel Protokolle auf Rattners Schreibtisch. »Das Lesen kannst du dir sparen. Niemand hat irgendwas gehört oder gesehen.«

»Weißt du, was merkwürdig ist?«

»Was denn?«, fragte Meisner und sortierte Dokumente.

»Anatolij Sorokin … Er fliegt heute nach Kroatien. Mit der ganzen Familie.

»Und?« Der Kriminalobermeister versuchte, einen tieferen Sinn in Rattners Worten zu entdecken.

Sein Chef hielt die Wahrheit zurück und beschloss, etwas zu sagen, was er eigentlich nicht sagen wollte. »Na ja: Serbien, Kroatien … Ist doch schon ein merkwürdiger Zufall.«

»Deine Probleme möchte ich haben.«

Rattner betrachtete die Protokolle, ohne sie wirklich zu lesen. »Ist das Mädchen heute gesprächiger?«, fragte er schließlich. Am Vortag war aus der vermeintlichen Täterin kein Wort herauszuholen gewesen, so sehr Rattner auch all seinen Charme zu versprühen versucht hatte. »Ist der Dolmetscher da?«

»Die Dolmetscherin. Sie ist da. Vom Staatsanwalt bestellt.«

»Hat sie den Mann tatsächlich umgebracht?«, fragte Rattner.

»Ich bin zwar kein Gott, und gerade du sagst ständig, dass ich keine Ahnung hätte, aber ich glaube, dass sie es war. Zudem gibt es in etwa fünfzig handfeste Beweise dafür.«

Rattner nickte, dann erhob er sich. »Okay. Du bleibst draußen. Die Dolmetscherin soll in fünf Minuten dazustoßen. Und ab da soll mitgeschnitten werden.«

Meisner fiel noch etwas ein: »Der Sohn des Opfers kommt übrigens gegen vierzehn Uhr. Hat ein wenig gedauert, bis er einverstanden war. Er sagte auch erst zu, als seine Familie nicht mehr mithören konnte.«

Gemeinsam verließen die beiden Herren älteren Semesters das Büro. Meisner blieb im technischen Vorraum, wurde dort von einer jungen Zivilangestellten unterstützt, während Rattner den kargen Verhörraum betrat.

Wie ein Häufchen Elend saß Kristina Krajic am Tisch, die Hände in Handschellen lagen vor ihr auf der Tischplatte.

»Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte Rattner.

Zu seiner Überraschung nickte sie.

»Milch und Zucker?«

Nun schüttelte sie den Kopf ein wenig.

Rattner öffnete die Tür. »Bringt mir mal bitte zwei Kaffee, einen ohne alles, einen mit allem. Und gebt mir die Schlüssel für die Handschellen.«

Letztere warf ihm die Kollegin mit den Worten zu: »Das ist gegen die Vorschriften. Den Kaffee bring ich gleich.«

Dankbar nickte Rattner. Im Zimmer trat er seitlich an die Frau heran und nahm ihr die Handfesseln ab. Dann setzte sich der Hauptkommissar ihr genau gegenüber hin.

»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er nach einer Minute des Schweigens.

»Eine bisschen«, antwortete sie. »Nicht sehr gut, leider.« Die Stimme der jungen Frau klang angenehm und keineswegs unsicher.

Rattner kratzte sich unablässig am Kinn. »So, so. Ein bisschen. Nachher kommt eine vereidigte Übersetzerin. Sie wird uns unterstützen. Ist das okay?«

Erneut ein kurzes Nicken.

Der Kommissar sah den Schatten hinter dem Milchglas der Tür, ging hin, öffnete sie und nahm die beiden Kaffeebecher entgegen. Den dunklen stellte er der Frau vor die Nase. »Bitte.«

Ein Nicken. Sie blickte wie erstarrt den Kaffee an.

»Können wir reden?«, fragte Rattner.

Noch einmal bewegte sich der Kopf, dann erst musterte sie diesen uralten, deutschen Beamten ganz genau.

Der hatte sich wieder hingesetzt. Er sprach sehr langsam, damit sie seine Worte besser übersetzen konnte. »Weshalb haben Sie sich gestellt?«

Sie antwortete stets erst nach einer kurzen Denkpause, redete nach den Pausen jedoch sehr schnell. »Ich nicht will jagen mir lassen.«

»Wer jagt Sie denn?«

»So ich nicht zurückgehe, deutsche Polizei mich jagt. Dann serbische Polizei mich jagt. Und wer weiß noch.«

Es dauerte einen Moment, bis Rattner glaubte verstanden zu haben, was sie mit ihrer Antwort meinte.

»Sie müssen nicht auf meine nächste Frage antworten. Haben Sie Nebojša Suker mehrmals in den Hals gestochen, sodass er an seinen Verletzungen sterben musste?«

Das obligatorische Nicken folgte.

Rattner pulte zunächst im Ohr und trank dann von seinem Kaffee, der lediglich lauwarm war. »Und …, warum haben Sie das getan?«

»Vielleicht Sie hätten das auch gemacht, wenn Sie stecken müssen in meiner … Wie sagt man Deutsch zu prošlost?« Ihre warmen, braunen Augen schauten Rattner fragend an.

»Haut?«

»Ne.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Rattner, den Hauch eines Lächelns gesehen zu haben. »Was ist vorbei. Das Wort ich meinen.«

»Vergangenheit?«, riet der Kommissar.

Ein Nicken. Dann plötzlich: »Nebojša sollte totmachen mich. Ich nur war sehr, sehr schnell. Ich lang und viel lernen, was ich machen. Ich genau wissen, was Stokan Nebojša erledigen lassen!«

»Stokan? Wer bitte ist Stokan?«, fragte Rattner sofort.

Ihre Augen blitzten plötzlich auf, ihre Stimme war geladen. »Ich überall suchen nach Stokan und Todor. Osamnaest godina! Verstehen? Achtzehn Jahre ich suchen. Ja! Totmachen ich Stokan und den Todor – mit große Freude in Herzen ich das tun. Osamnaest dugih godina! Stokan merken, ich gefunden haben ihn. Stokan eine erbärmliche Feigling, aber schicken Nebojša Suker, mich machen sollen sehr kaputt.«

Es klopfte an der Tür. Rattner erhob sich, während er ihre letzten Worte zu verdauen versuchte, und öffnete die Tür. Eine ältere Dame erschien, schmuck, füllig und übertrieben geschminkt. Die Übersetzerin.

»Dobro jutro! Guten Morgen. Ich soll bei der Übersetzung behilflich sein.« Wegen ihrer kräftigen Stimme wirkte ihr Auftritt wie ein Überfall.

Bevor Rattner auch nur die Hand geben konnte, hatte Kristina Krajic bereits etwas gezischt und die Übersetzerin hatte darauf geantwortet.

Die vermeintliche Mörderin erhob sich ruckartig. »Bitte nicht diese Frau!« Sie sprach hasserfüllt und betonte jede Silbe: »Ona je srpski žena!«

Während Rattner über ›srpski‹ nachdachte und feststellte, dass dies offensichtlich etwas mit Serbien zu tun haben könnte, ging die Dolmetscherin zurück zur Tür.

»Entschuldigen Sie. Das habe ich nicht nötig. Bitte lassen Sie mich raus. Manchen Leuten ist nicht zu helfen.«

»Aber vierzehn Uhr brauche ich Sie ganz bestimmt.« Rattner ließ die Frau gehen, entschuldigte sich förmlich und gab seinen Kollegen im technischen Raum das Zeichen, von nun an das Gespräch mitzuschneiden.

Nachdem die Frau verschwunden und wieder Ruhe eingekehrt war, setzte sich Rattner auf seinen Stuhl, schob den kalten Kaffee weit weg und schaute Kristina Krajic an.

»Ich verstehe Sie nicht. Ich bin hier, um die Wahrheit herauszufinden. Und diese Frau hätte uns dabei helfen können, damit ich aus Ihren reichlich verwirrenden Worten klug werde. Warum musste sie gehen?«

»Sie eine serbische Frau. Ich nicht wissen kann, ob sie oder die Familie von Frau kooperiert mit Stokan- oder mit Nebojša-Familie.«

»Sind Sie nicht auch aus Serbien?«

»Ne!« Blitze schossen aus den Augen der Frau. »Ich sein Kroatin.«

»Was haben diese Leute Ihnen angetan, dass Ihr Hass so gewaltig ist?«

Sie sagte kein Wort und nickte auch nicht.

»Hat es mit dem Krieg in Ihrer Heimat zu tun?« Rattners Stimme hob sich ein wenig. »Sie müssen mir schon helfen, wenn ich Ihnen helfen soll.«

»Achtzehn Jahre …« Kristina Krajic beugte sich ein wenig nach vorn. »Ja, es kommen wegen Krieg«, flüsterte sie. »Aber Krieg machen … ich nicht wissen die deutsche Wort … od tih barbara!«

»Barbara? Meinen Sie, Krieg macht Barbaren?«

Sie nickte. »Sie sehr, sehr wenig kennen meine Krieg?«

Rattner zog nun den Kaffeebecher wieder zu sich heran und trank ihn aus. »Ich erinnere mich an die Nachrichten von damals. Mehr weiß ich leider nicht.«

»Sie können hören und sie dürfen lernen. Ich war eine ganz kleine Kind mit acht Jahre, als das stattfand, was Krieg ist. Serben eroberten mein Heimat in Kroatien. Dann mein Papa große Angst, flüchtet mit ganze Familie, mit Mama und großer Bruder, in petsto Kilometara, ist fünfhundert, weit, weit weg. Durch ganze bosnische Land. Familie von Mama dort. Sagt, alles okay. Ja. Sagt, alles okay dort und wunderbar. Ist ja Zone von United Nations dort, auch wenn nicht weit bis Serbien.« Sie lachte höhnisch. »Oh ja, alles okay dort! Meine Onkel ist Name Kemal Kabilowić, seine schön Haus und Feld in Likari, ganz in Südost von Bosnien, fast Serbien. Ja, ja. Erst alles okay und dann serbische Armee kommt. Viel schießen mit großen Waffen und kleinen, so peng, peng, immer wieder, wo nur sind Zivilisten. Plötzlich aber alle sagen United Nations macht nur noch Schutz für alle in Potočari. Und jetzt alle gehen nach Potočari, wieder alles gut dort, da ist die Blauhelm, machen Schutz für alle. Ist eine Lager von Holland. Ich genau wissen, ist 11. Juli 1995, alle Familie gehen von Hof von Onkel weg. Ist heiß. Und brennen überall serbisch Soldaten Feld und Haus an. Oder schießen mit Bomben. Verstehen?«

 

»Ja, ich verstehe.« Rattner beobachtete, dass die Frau weinte. Trotzdem sprach sie weiterhin sehr schnell, sodass er Mühe hatte, ihre Worte gedanklich zu sortieren.

»War da keine Luft zu leben. Und bei United Nations viele, viele Menschen, zwanzigtausend oder viele mehr. Und United Nations nehmen Bosniaken alle Waffen weg. Sagen, keine Waffen hier, ist alles gut. United Nations passen auf. Aber serbisch Armee alle Waffen. Nicht geben weg an United Nations. Verstehen? Alle Familie denken, hier alles okay, ist ja United Nations hier, ist ja Blauhelm hier und aufpassen. Zwanzigtausend! Sind alle Bosniaken und sind nur wir von Kroatien und paar mehr. Meine große Bruder immer sehr weinen, Mama immer sehr weinen und auch ich immer sehr weinen. Kommen dann überall serbisch Soldaten, schießen viel in Menschen, auch Kinder, schon viele tot und krank, und machen mit Bomben. Nicht Wasser, nicht Brot. Dann kommen serbisch Soldaten und nehmen weg alle Männer und alle Boys, die ein bisschen alt und können tragen Gewehr. Serbisch Soldat sagen, wollen sehen, wer war böse in Krieg. Aber niemand böse in Krieg war. Papa, Bruder und Onkel müssen gehen weg, ganz schnell mit serbisch Soldaten. Mama, Tante und ich weinen mehr und mehr. Dann kommen noch serbische Soldaten, drei oder vier. Mama schöne Frau, nehmen mit und Mama vergewaltigen sehr, sehr schlimm, andere Soldat wollen Tante nehmen mit, Frau von Onkel, verstehen? Tante aber sagen nein zu serbisch Soldat und Tante kratzt und macht so.« Sie schlug um sich und bekämpfte einen imaginären Feind. »Ich schlimme Angst. Papa weg, Bruder weg, Mama weg, Onkel weg und auch Tante weg. Soldaten nehmen Tante, mit großer Gewalt, und schlagen sehr und so nicht zurückkommen arme Tante, nie wieder. Tante ist vergewaltigt und totgemacht und weg. Mama mich suchen und finden. Mama ganz schlimm vergewaltigt. Viel weinen Mama, viele Tränen. Dann kommen viele, viele Soldaten, nicht Blauhelm, alles bosnisch-serbisch Männer, wie Vieh uns laden in Bus und auf große Auto, serbisch Soldaten jagen auch Blauhelm weg und schreien und schreien und machen Knall mit Gewehr. Ich klein und viel Angst. Nur Frauen, nur klein Kinder noch da. Und ganz kleine Junge, die nicht können halten Gewehr. Fahren uns alle weg, weit, erst Vlasenica und entlassen Frauen und Kinder, weit weg vor die Ort Kladanj. Bis dahin serbisch Armee alles Land weggenommen von Bosnien. Dann wir laufen alle sehr viele, lange Kilometer, bis wir sind in Kladanj. Dort Armee von Bosniaken und helfen und auch andere von Rot Kreuz. Aber hier sein alle Frauen ohne Mann und Junge. Frauen schauen und fragen: Wo sein Mann? Wo sein Junge? Immer wieder fragen und ganz viel weinen. Verstehen? Alle viel sehr weinen und denken, was nur passieren mit Mann und Junge. Ich weinen und denken, was nur passieren mit Papa und Bruder und Onkel.« Sie schwieg nur drei Sekunden lang, um sich Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Heute schauen an, was gemacht haben serbisch Soldaten mit Papa und Bruder und Onkel. Schauen an, überall Sie finden Information über Srebrenica und Potočari. Mama werden ganz krank und tot von viele Trauer. Ja. Mama sehr bald auch tot. Dann alle sprechen Krieg zu Ende. Ich überall suchen. Was nur passieren mit Papa und Bruder und Onkel. Keine Erfahrung machen. Viele Zeit keine. Viele Zeit ich immer wieder suchen. Brennt hier in Brust die Frage. Hier in Brust! Ich allein und suchen. Ich neun Jahr, ich zehn Jahr, ich elf Jahr, ich fragen: Was nur passiert in Krieg mit Papa und Bruder? Ich achtzehn Jahr. Ich dann wissen, was gemacht haben Stokan und Nebojša. Viele Zeit nach Krieg ich erst wissen. Und sehen Namen auf Zettel. Manche Serben große Angst vor Tribunal nach Krieg. Haben gesagt und gesagt und gesagt. Auch was gemacht haben mit Papa und Bruder. Und ich dann wissen auch, was gemacht hat Todor mit Bruder. Und Todor nur klein wie ich in Krieg, Todor nur ein Jahr mehr. Trotzdem hat gemacht mit meine Bruder tot.« Sie weinte jetzt entsetzlich, als würde sie die schrecklichen Dinge nochmals erleben. »Sie wissen. Ich totgemacht habe Nebojša Suker. Ich gemacht samoodbrana. Deutsche Wort sein Notwehr? Das ich gemacht. Ich wissen, Nebojša dort war, aber Nebojša nicht hat gemacht mit Papa und Bruder tot. Gemacht haben Stokan und Todor tot. Ich sehr tot machen bestimmt Stokan. Aber Stokan Angst. Hat sagen zu Nebojša: ›Du machen mit der Frau Krajic tot.‹« Sie blickte Rattner lange an. Ihre dunkelbraunen Augen glänzten, Tränen liefen über ihre Wangen, sammelten sich unten am Kinn und tropften zum Teil in ihren Kaffeebecher. »Das alles ich sagen.«

Sprachlos saß Rattner an der anderen Seite des Tisches. Ihm kam es vor, als würde dieser Tisch ganze Welten trennen. Er dachte lange darüber nach, was er antworten sollte, da er wusste, dass das Verhör mitgeschnitten wurde.

Rattner entschied sich schließlich für Folgendes: »So leid mir Ihre Vergangenheit auch tut, ich muss Ihnen eines sagen: Sie sollten sich dringend einen guten Anwalt nehmen. Aus unserer Sicht ist das, was Sie getan haben, vorsätzliche Tötung. Für ihre Version einer Notwehrhandlung gibt es momentan keine Beweise. Deutschland ist ein demokratisches Land und die Regeln mache nicht ich, die bestimmen unsere Gesetze. Im heutigen Kroatien und Serbien sollte es ähnlich sein. Ein Rachefeldzug auf eigene Faust ist ungesetzlich. Verstehen Sie das?«

Zu Rattners Erstaunen antwortete Kristina Krajic: »Ja. Ich das gut verstehen.«

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