Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau

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Vierzig Sekunden später ging Fedor rasch weiter und zog den Vater mit sich. Zielsicher lief er auf den Stolperweg, hob die Füße beim Laufen an und blieb schließlich unvermittelt zwischen hohen Hecken stehen, an einer Stelle, an der man sie von der Straße aus nicht sehen konnte.

»Was ist los mit dir?« Sorokin sah deutlich, dass es in Fedors Gehirn arbeitete.

Der Junge sprach leise und schnell: »Bevor der Weg losging ... da stand ein großes Auto, ein Transporter, die Form war wie beim Vito. Die Schiebetür war offen. Sie haben drin geraucht. Ich habe einen Mann gehört ... Daniel Leonidowitsch ... und eine Frau ... klang ziemlich jung ... der Mann sagte Olga Antonowna zu ihr ... sie ... sie hat zweimal deutlich ›Wolkowa‹ gesagt. Es ging um ... um eine Meldung ... an ... an die Zentrale der Agentur. Um 4 Uhr muss die Meldung gemacht werden.«

»Fedor? Du spinnst!« Sorokin zog den Jungen mit sich. »Das bildest du dir alles ein.«

Der Junge richtete seinen unnützen Blick hinauf zum Gesicht des Vaters. »Papa, ich ...« Er berührte das Handy in der Hosentasche.

Aus dem winzigen Lautsprecher in seinem linken Ohr erklang die generierte Frauenstimme: »15 Uhr und 48 Minuten Moskauer Zeit.«

Augenblicklich riss sich Fedor los und verschwand zwischen den Büschen auf der Wiese.

Sorokin griff sich an die Stirn. Erst wollte er brüllen, doch dann besann er sich und schlich stattdessen auf dem Stolperweg zurück. Er verbarg sich hinter einem Baum und beobachtete die Straße, die in unmittelbarer Nähe vorbeiführte. Tatsächlich. Dort stand ein schwarzer Mercedes Vito, die seitliche Schiebetür war fünf Zentimeter breit geöffnet. Personen konnte Sorokin im Fahrzeug nicht entdecken, die Scheiben waren abgedunkelt und auf den Vordersitzen saß definitiv niemand.

Fedor hockte – unsichtbar für den Vater – nur drei Meter entfernt inmitten der stachligen Hecke und hielt das Handy mit ausgestrecktem Arm Richtung Straße.

Sorokin zog aufgeregt an seinem linken Ohrläppchen. Lange betrachtete er das Kfz-Kennzeichen des Vito. Schwarzer Untergrund, weiße Schrift! Innenministerium oder Armee. Nicht jedoch die Polizei, die bekanntlich blaue Kennzeichen mit weißer Schrift benutzte. Das aber war ein schwarzes – Innenministerium ... FSB! Geheimdienst! Er lief wieder einige Meter auf dem Plattenweg. Das Fahrzeug stand 75 Meter Luftlinie von Katies Wohnung entfernt und vermutlich sah man den Hauseingang und ihre Fenster in der ersten Etage des Plattenbauwerks vom Vito aus.

Sorokin schlich den Stolperweg weiter, bis zu der Stelle, an der Fedor ihm ausgerissen war. Von dem Jungen gab es keine Spur.

Sorokin wartete, zündete sich eine Zigarette an und rauchte hektisch. Er gab es nicht gern zu, doch irgendetwas stimmte hier nicht. Fedor hatte zweifellos recht. Aber Jekaterina und das FSB? Das passte irgendwie nicht zusammen!

Minuten vergingen. Unablässig waren Fahrzeuggeräusche zu hören. Erneut schlich Sorokin zur Straße. Der Vito war verschwunden! Stattdessen hatte an der gleichen Stelle das Werkstattfahrzeug einer Gasfirma geparkt.

Sorokin hockte sich hinter die Hecke und rief unterdrückt: »Fedor! Wo bist du?«

Keine Antwort.

Er zog das Handy aus der Tasche und wählte Fedors Nummer aus dem Moskauer Netz heraus. Das Handy seines Sohnes klingelte. Und zwar in unmittelbarer Nähe! Sorokin kroch zwei Schritte vorwärts auf die Hecke zu und griff nach dem Handy, das in der Hecke leuchtete, die an dieser Stelle sehr mitgenommen aussah. Gleichzeitig griff eine Hand vom Bürgersteig aus nach dem Handy und erreichte es eine Zehntelsekunde vor der Ameise. Blitzartig griff Sorokin zu, erfasste die fremde Hand am Handgelenk und zog den dazugehörigen Mann mit einem Ruck quer durch das Dorngebüsch. Der Mann war um die dreißig, trug die Arbeitskombi der Gaswerke mit dem gleichen Logo, das auch auf dem Fahrzeug prangte. Sorokins linkes Knie drückte auf den Hals des strampelnden Mannes, seine linke Hand hielt dessen Haarschopf fest und zog daran.

»Wer, verdammt, bist du?«, zischte die Ameise und verlieh der Frage Nachdruck, indem er mit dem Knie den Hals des Mannes kräftig abdrückte. Der konnte kein Wort sagen, rang nach Luft und ergab sich, indem er Fedors Handy hochhielt. Nur leicht verringerte Sorokin den Druck. »Was suchst du hier?«

»Choknulsya! Ich bin Klempner, verflucht!«, röchelte der körperlich klar unterlegene Mann. »Nimm das verdammte Handy! Was willst du von mir?«

Zunächst nahm Sorokin Fedors Handy entgegen und verstaute es in seiner Hosentasche. Dann zerrte er den Mann hoch, griff seitlich in die Arbeitskombi und hob den Typen mühelos an. Dessen Stimme quietschte, weil ihm die Latzhose die Weichteile im Schritt abklemmte.

»Was hast du gesehen?«

Der Mann atmete hektisch und bekam erneut kein Wort heraus.

Sorokin stellte ihn ab und griff mit einer Hand von vorn an den Hals und mit der anderen an den rechten Oberarm des Klempners. »Hast du den Jungen gesehen? Wo ist er hin?«

»Verdammt, was willst du? Ich habe nichts gesehen!« Fast schien es, als wollte der Kerl losheulen.

Er bekam nun allen Grund dazu, denn Sorokin schlug einmal leicht mit der Faust zu, unmittelbar in die Magengegend des Mannes, der sich augenblicklich vor ihm verbeugte und in die Knie ging. »Rede, sonst prügle ich dir deine Eingeweide raus! Wenn es um meinen Jungen geht, verstehe ich keinen Spaß!«

Zunächst schnappte der Typ nach Luft. »Ich stand in der zweiten Reihe und habe nach einem Parkplatz gesucht. Ich habe nichts damit zu tun ...«, stammelte er.

Sorokin ballte die Faust.

»Ich rede ja schon! Eine Frau hat den Jungen aus der Hecke gezerrt. Dann war da noch so ein Typ, einer mit Glatze, alles ging so schnell. Rein in den Benz, und weg waren sie. Ich hab mich lediglich über den Parkplatz gefreut. Ich wohne nämlich ganz in der Nähe. Und als ich ausstieg, lag da das klingelnde Handy. Und dann ...«

»Kanntest du die Typen? Die Frau, wie sah sie aus?« Die Ameise schüttelte den Gasmann mit festem Griff.

»Ich kenne die Typen nicht. Die Frau hatte kurze schwarze Haare, war nicht gerade sehr jung, nicht mein Geschmack.«

»Warum?«

»Zu asiatisch und außerdem ein Mannsweib«, raunte der Gasklempner.

Sorokin zitterte am ganzen Körper. »Hör mir gut zu! Du hast mich nie gesehen, verstanden? Otvali! Verschwinde!« Er hielt den Mann noch einmal fest. »Wo wohnst du? Falls ich dich als Zeugen brauche.«

»Den Weg da rein.«

»Wohnt die Wolkowa in deinem Haus?«

Er nickte. »Zwei unter mir.«

»Okay.« Sorokin wischte dem Mann ein paar kleine Heckenzweige von der rechten Schulter. »Tut mir leid, ich wollte nicht grob sein, aber ... Du verstehst doch, mein Junge ...«

»Ist okay.« Der Gasmann lief rückwärts und verschwand.

Sorokin stand wie verloren da. Dann griff er erneut zu seinem Handy.

»Sascha?«, fragte er.

»He, Tolik, wir wollten uns doch erst heute Abend treffen.«

»Sascha ...« Sorokins Stimme versagte einen Moment. »Probleme. Große Probleme. Mein Fedor wurde entführt.«

»Was sagst du da?«

»Mein Fedor wurde entführt. Unmittelbar vor Jekaterinas Haustür! Wir müssen uns treffen. Sofort! Hier!« Sorokin schaute sich um. »Katies Wohnung wird beobachtet! Vom FSB. Wie es scheint ...«

Alexander Wladislawowitsch Komsomolzev lachte am anderen Ende auf. »Du verarschst mich, Tolik! Nicht wahr? Du verarschst mich. Die Agentur hat keinen Grund, Katies Wohnung zu observieren.«

»Sascha«, stammelte Sorokin, »Fedor erzählte etwas von einem Daniel Leonidowitsch und einer Olga Antonowna, die Nachnamen kenne ich nicht. Diese Personen scheinen Fedor entführt zu haben! Kapierst du? Mein Junge ist weg!«

Am anderen Ende herrschte einen Moment lang Ruhe. »Daniel Leonidowitsch Schestakow und Olga Antonowna Nowikowa?«

»Diese Olga ... Ein asiatischer Typ mit kurzen schwarzen Haaren?«

»Genau. Sie stammt aus Birobidschan und wollte keine Jüdin mehr sein. Eine knallharte Agentin, ein unbeschreibliches Mannsweib.«

»Sascha! Ich bitte dich! Wer sind diese Leute?«

»Es ist besser, wenn wir nicht am Telefon darüber reden. Wir treffen uns bei der Wolkowa. Nimm den Hintereingang und such die Wohnung nach Wanzen ab, bevor du mit ihr sprichst. Oder schalte ein Radio ein und mach den Ton ganz laut. Ich beeile mich.«

Hilflos stand Sorokin zwischen den Büschen. Erneut lief er zur Straße und sah sich unauffällig die parkenden Fahrzeuge an. Er lief um das Karree. Ein Mercedes fiel ihm auf. Zwar hatte dieser keine schwarzen Kennzeichen, jedoch war er mit vier Antennen ausgestattet. Zwei Zeitungsleser saßen in diesem Fahrzeug, sie wirkten wie die »Men in Black«: schwarze Anzüge, weiße Hemden, dunkle Sonnenbrillen. Fehlten nur die Blitzdinger. Stattdessen beulten Waffen ihre Jacketts aus. Mit Vergnügen hätte Sorokin die beiden Kerle durch das Fahrzeugdach gezogen, doch ließ er den Gedanken fallen.

Hinter dem Plattenbau herrschte Ruhe. Eine ältere Frau zupfte Unkraut aus den Zwischenräumen der Gehwegplatten. Sorokin grüßte freundlich und verschwand kurz darauf in einem der Kellereingänge, in dem die Tür nur angelehnt war. Er eilte durch dunkle Kellergänge, bis er den Aufgang zur Wohnung von Jekaterina Wolkowa fand, lauschte kurz und lief dann rasch die beiden kurzen Treppen hinauf bis zur Wohnungstür. Er klopfte so sanft wie nur möglich und legte bereits einen Finger an die Lippen, als die Tür sich einen winzigen Spalt breit öffnete, gänzlich aufgerissen wurde und Sorokin die Lippen der Frau auf den seinen spürte, während er in den Flur gezogen und die Tür zugeworfen wurde.

Jekaterina Wolkowa weinte, während sie Sorokin liebkoste. Dessen Zähne bissen vorsichtig in ihr rechtes Ohrläppchen, dann flüsterte die Ameise: »Leise, nicht reden. Und mach das auch den Kindern klar.«

 

»Sie sind nicht hier«, hauchte die Frau und küsste Sorokin erneut.

Der genoss die Zärtlichkeit, doch dann drückte er die Frau ganz vorsichtig von sich. Er prüfte zunächst den Flur und fand eine winzige Wanze direkt neben der Klingel. Eine weitere war unter dem Fensterbrett im Wohnzimmer angebracht.

Sorokin ging in die Küche, nahm ein einfaches Kassettenradio mit ins Wohnzimmer, zog einen Stuhl vor das Fenster und stellte das Radio auf den Stuhl unmittelbar unter die Wanze. Er schloss es an eine Steckdose an und schaltete das Radio ein. Erst suchte er mit leiser Einstellung nach einem Sender, und als er den gefunden hatte, drehte er die Lautstärke hoch. Anschließend zog er Jekaterina zum anderen Ende des Zimmers.

Er sprach trotz allem sehr leise: »Jetzt hören sie uns nicht. – Du musst mir sagen, was hier los ist, Katie. Fedors Leben könnte davon abhängen.«

Sie schaute ihn ungläubig an. »Fedors Leben? Wieso Fedors Leben? Ich ...«

»Der Geheimdienst belauscht dich, die Leute observieren deine Wohnung. Fedor hat sie beim Belauschen belauscht. Und nun ...« Er griff an ihre Schultern. »Diese Schweine haben Fedor entführt!« Er sprach trotz aller Emotionen sehr leise. »Bitte, Katie, du musst mir vertrauen! Sag, was ist hier los?«

Jekaterina Wolkowa holte tief Luft. »Jener Mann, der meinen Juri totgefahren hat, er will nicht mehr bezahlen. Ich habe mich Nikita Schirjajew, einem Redakteur des Moskauer Nachrichtenblattes, anvertraut. Dann war jemand hier in der Wohnung. Er drohte damit, Natascha und Anton etwas anzutun! Tolik ... ich habe Angst. Große Angst!« Sie griff in das Fach einer Kommode und zog den kleinen Zettel mit der handgeschriebenen Drohung heraus.

»Wo sind die Kinder jetzt?«, flüsterte Sorokin.

»Bei einer Freundin. Es funktioniert aber nur für eine kurze Zeit, weil sie berufstätig ist und nur für die Kinder Urlaub genommen hat.«

»Wer ist es?«

Die Wolkowa blickte Sorokin lange an. »Ich will nicht, dass du da mit reingezogen wirst.«

Die Ameise hielt die Schultern der zarten Frau fest in seinen Händen. »Katie, verstehst du nicht? Es ist längst geschehen! Ich will meinen Jungen zurück! Deshalb muss ich wissen, wer deinen Mann totgefahren hat.«

»Es ... es ist der Präsidentenberater Jerchow«, hauchte Jekaterina Wolkowa. Gleichzeitig traten Tränen aus ihren Augen und liefen über ihre Wangen. Der dezente Lidschatten hinterließ graue Spuren in ihrem Gesicht.

Sorokin, der zu zittern begann, setzte sich auf das Sofa, sein Gesicht wirkte aschfahl und die Lippen bewegten sich, ohne dass der Name tatsächlich zu hören war. »Der Boris Jewgenij Jerchow?«

Die Frau nickte ängstlich. Sie wusste nur zu genau, was in Sorokins Kopf vor sich ging.

Boris Jewgenij Jerchow war maßgeblich am Tod von Galina Sorokina beteiligt. Er hatte von Moskau aus das Platin-Komplott dirigiert und sich an dem im Ural entdeckten Edelmetall bereichert, das eigentlich der Russischen Föderation zu gehören hatte. Einzig und allein Jerchow war Sorokins Rache im vergangenen Jahr entgangen! Und das nur deshalb, weil seine Person unerreichbar schien.

*

Alexander Komsomolzev überlegte nicht lange, obwohl es erst einige Tage zurücklag, dass er sich geschworen hatte, eine ruhigere und vor allem ungefährlichere Kugel zu schieben. Dazu hatte er allen Grund, denn nachdem sein Freund Anatolij Sorokin vor Jahresfrist in Magnitogorsk mit seiner Mithilfe den gehassten Vater Wladislaw Komsomolzev abserviert hatte, hatte die Mutter das gewaltige Bluterbe aufgeteilt. Über zehn Prozent seines Anteils durfte Alexander sofort verfügen, doch das waren satte 1,5 Millionen Euro. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, woher das Geld stammte, gab er eine ganze Menge davon aus, verschenkte jedoch 500.000 Euro offiziell an seinen Freund Anatolij Sorokin in Deutschland, es sollte einer Wiedergutmachung für die Taten des eigenen Vaters gleichkommen. Komsomolzev kaufte sich anschließend die Dinge, von denen er lange geträumt hatte: ein Haus am Stadtrand von Moskau, einen Porsche Cayenne GTS mit edlen 420 Pferdestärken und eine blonde Ukrainerin mit Modelmaßen namens Oleksandra. Das Mädchen hatte er in einem der teuren Moskauer Nachtclubs kennengelernt, es war nach Moskau gekommen, um einen reichen Mann zu finden und stellte sich als äußerst intelligent und studiert heraus. Oleksandra und Alexander ergänzten sich vorzüglich und aus anfänglicher, sexueller Lust war echte Liebe geworden. Alles, aber auch alles lief für Komsomolzev bestens. Sein Job beim Inlandsgeheimdienst war ihm sicher. In der Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation leitete er eine Abteilung, die als Schnittstelle zwischen dem Innenministerium und den Grenztruppen der Föderation diente.

Und nun? Nun wurde seine gerade erst gewonnene, heile Welt mächtig auf den Kopf gestellt.

Er fuhr rasant durch den Nachmittagsverkehr und verschaffte sich die notwendige Vorfahrt, wann immer es möglich war. Schließlich erreichte er mit seinem auffälligen Gefährt den Stadtteil Tushino, bremste scharf neben einem schwarzen Mercedes älteren Modells, stieg aus und klopfte hart gegen die Scheibe der Fahrerseite. Der Mann im schwarzen Anzug kurbelte die Scheibe herunter und fragte trocken: »Was?«

Komsomolzev warf einen Blick in den Benz. Die beiden Herren kannte er. Sie gehörten zur FSB-Sonderabteilung Upravlenije Razrabotki Prestupnykh Organizatsij oder zu Deutsch zur Direktion zur Infiltration krimineller Organisationen, abgekürzt URPO – ebenso wie Daniel Leonidowitsch Schestakow und Olga Antonowna Nowikowa, die sein Freund Sorokin bezichtigt hatte, dessen blinden Jungen entführt zu haben.

Das »Was?« war Komsomolzev etwas zu trocken. Entsprechend laut entlud sich seine Stimme, nachdem er seinen Ausweis für den Bruchteil einer Sekunde unter die Augen des erstaunten Mannes gehalten hatte: »Oberstleutnant Komsomolzev, FSB, Abteilungsleiter. – Und nun kommen Sie gefälligst aus Ihrer Scheißkarre raus, wenn ich schon mit Ihnen reden muss!«

Das Gesicht des jungen Mannes färbte sich dunkelrot. »Oberstleutnant Komsomolzev, entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe.« Selbstverständlich stand der Mann sofort neben der Fahrertür stramm.

Obwohl sein Porsche in der zweiten Reihe stand und sich mehr und mehr als Verkehrshindernis entpuppte, zupfte Komsomolzev in aller erdenklichen Ruhe am Anzug seines Gegenübers herum. »Schicker Anzug. Gab es den auch in Ihrer Größe? – Was macht ihr hier?«

Der Mann schaute während der Antwort an Komsomolzev vorbei. »Dienstauftrag von Oberst Schestakow. Überwachung einer kriminellen Person.«

»Wo ist der Oberst im Moment?«

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Antworte gefälligst mit ›Keine Ahnung, Oberstleutnant Komsomolzev!‹ – Womit hören Sie die kriminelle Person ab?«

»Mit zwei billigen Mikros. Sie hat ihr Radio an. Man hört absolut nichts.«

»Okay.« Alexander Komsomolzev lächelte gezwungen. »Man nennt das Überschneidung der Aufgaben. Die Dame, die ihr belauschen sollt, heißt Wolkowa?«

Der junge Mann nickte erstaunt.

»Ich muss diese Dame verhören.« Seine Lippen näherten sich dem rechten Ohr des Mannes. »Und ich möchte, dass ihr nicht hört, was ich mit der Dame zu besprechen habe. – Verstanden?« Er hielt die rechte Hand auf. »Den Empfänger! Wenn ich fertig bin, bekommt ihr ihn zurück.«

Der Mann wirkte nun etwas verunsichert. »Das muss ich aber im Protokoll vermerken, Oberstleutnant.«

Komsomolzev beugte sich in den Mercedes und zerrte den kleinen Empfänger samt Kabeln aus der Mittelkonsole. »Vermerken Sie, was Sie wollen!«, raunte er. »Sie müssen schließlich die anschließenden Fragen Ihres Chefs beantworten, junger Mann, nicht ich.« Er klopfte dem Kerl auf die Schulter, ging um seinen Porsche herum, schlüpfte hinein und brauste davon.

*

Die Wiedersehensfreude blieb Anatolij Sorokin im Hals stecken. Trotzdem kam es zu einer eiligen freundschaftlichen Umarmung zwischen ihm und Komsomolzev und zwischen Jekaterina Wolkowa und dem FSB-Oberstleutnant.

»Ihr könnt laut reden, ich habe diesen Idioten den Empfänger weggenommen.« Komsomolzev warf den kleinen Kasten samt Kabel in einen Mülleimer. »Trotzdem schlage ich vor, dass wir schleunigst hier verschwinden. Ich habe keine Ahnung, wann die beiden Deppen Oberst Schestakow benachrichtigen. Immerhin bin ich jetzt sicher, dass die Abteilung URPO hinter der Aktion steckt. Ich muss aber vorsichtig sein. Falls Schestakow Fedor tatsächlich mitgenommen hat, sollten wir Fedor nicht unnötig in Gefahr bringen. Jekaterina Ruslanowna, du packst ein, was du dringend benötigst. Ich verstecke euch in meinem Haus, dort seid ihr geschützt. Was ist mit deinen Kindern?«

»Sie sind bei einer Freundin«, antwortete Sorokin anstelle der Frau.

»Wo?«

»Nicht weit vom Fili-Park entfernt.«

»Okay. Wir brauchen ein zweites Fahrzeug, damit wir die Kinder abholen können.« Komsomolzev nahm das Handy zur Hand. »Mein verlässlichster Kollege, Alexej Borjenka Kasakow«, flüsterte er und sprach laut weiter: »Aljoscha? Top secret! Nimm den Transporter und fahr auf Umwegen zu Petjas Hotel am Fili-Park. Pass gut auf, dass dir niemand folgt, mein Junge. Und bring den Laptop mit.« Er steckte das Handy ein. »Wir gehen hinten raus, mein Wagen steht gut versteckt. – Hast du alles, Katie? Wichtig sind die Papiere.«

Jekaterina Wolkowa nickte und hielt ihre kleine Reisetasche fest umschlungen.

»Dann los!«

*

Auch Anton war gewachsen. Nicht so sehr wie Fedor, doch immerhin. Und besser sprechen als noch im Vorjahr konnte er definitiv. »Sein Mund steht nur still, wenn er schläft«, klagte die Wolkowa.

Die Aufgaben im nach westlichem Standard eingerichteten Haus von Alexander Komsomolzev waren klar verteilt. Oleksandra richtete mit der Wolkowa ein Gästezimmer kindgerecht ein. Hier würde die Mutter mit beiden Kindern schlafen. Ein kleinerer Nebenraum war für Sorokin gedacht. Die stets und ständig lächelnde Ukrainerin Oleksandra kümmerte sich sogleich liebevoll um Natascha und Anton, so dass die Wolkowa zur Herrenrunde stoßen konnte. Der Kriegsrat fand in einem Raum im Keller statt, der noch zum Weinkeller ausgebaut werden sollte.

Sorokin saß Zigarette rauchend auf einem Stuhl, der junge Leutnant Kasakow neben ihm, den Laptop aufgeklappt und bereits vernetzt. Komsomolzev drehte unablässig Runden im Raum. Nun, da Jekaterina Wolkowa anwesend war, sprach Komsomolzev seine Gedanken aus.

»Sammeln wir zunächst alle Informationen. Die Bedrohung kommt eindeutig von Jerchow. Der will seine Macht zeigen und dich, Jekaterina, zugrunde richten, weil du ihn öffentlich zum Kampf herausgefordert hast. Jerchow und den Präsidenten verbindet lediglich ein Arbeitsverhältnis und ich glaube, sie können sich nicht sonderlich gut leiden. Das könnte uns irgendwann in die Karten spielen. Dieser Redakteur, wie hieß er doch?«

»Schirjajew«, flüsterte die Wolkowa.

Komsomolzev legte die Stirn in Falten. »Du hast dir den Falschesten der Falschen ausgesucht, Katie. Nikita Schirjajew ist ein geldgieriges Stück Schmierseife. Jerchow wird ihn längst bestochen haben. Von Schirjajews Seite wird nichts mehr kommen. Jerchow und Generalleutnant Saizew sind bekanntlich gute Freunde. Saizew und Oberst Schestakow waren gemeinsam in beiden Tschetschenienkriegen. Sie standen auch schon zusammen vor einem Militärgericht – und wurden natürlich freigesprochen. Also hat Jerchow die Sonderabteilung URPO über Saizew aktiviert, der wiederum seinen Freund Schestakow beauftragte. Olga Antonowna Nowikowa ist die Partnerin von Schestakow. Nicht nur im FSB, sondern auch im wirklichen Leben. Man nennt sie die Sadomasobraut. Sie stellt definitiv keine Fragen und geht grundsätzlich über Leichen. Lara Croft ist gegen die Nowikowa eine ausgesprochene Pazifistin. – Kommen wir zu Fedor. Der Junge war zur falschen Zeit am falschen Ort. Was genau hat er vor dem Kidnapping getan?« Komsomolzev stand hinter Sorokin, seine rechte Hand lag auf dessen linker Schulter.

Die Ameise nahm Fedors Handy aus der Tasche. »Er sagte etwas von einem Bericht und rannte los.«

»Das ist alles?« Komsomolzev schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Fedor diesen Typen ins offene Messer rannte.« Er nahm Sorokin kurzerhand das Handy weg und übergab es seinem FSB-Partner Leutnant Kasakow, einem knapp dreißigjährigen schwarzgelockten Mann. »Aljoscha, lies die Daten aus. Vielleicht finden wir was Brauchbares.«

 

Mit sicheren Handgriffen löste Kasakow die Micro-Karte aus Fedors Handy und legte sie in einen Adapter, den er in den Laptop steckte. Flink fuhren seine Fingerkuppen über die Gummitastatur. Dann kommentierte er die Funde: »Er hatte heute nur einen Anruf von der Gegenstelle ›Papa‹. Er hat zwölf Mal die Uhrzeit überprüft und eine Tonaufzeichnung durchgeführt. Die wurde erst durch den einen Anruf von ›Papa‹ abgebrochen.« Er drehte den Laptop zur Tischmitte und berührte eine Taste. »›Papa‹ sind Sie?«, fragte er Sorokin.

Der nickte. »Wer sonst?«

Alle lauschten. Verkehrsgeräusche waren zu hören, übertönt von einem starken Windrauschen, hin und wieder erklangen Stimmfetzen. Kasakow unterbrach die Vorführung.

»Momentchen.« Er steckte sich einen Ohrhörer ins rechte Ohr, leitete die Aufnahme zunächst in ein separates Programm und filterte sie. Dann zog er den Ohrhörer heraus. Eine geheimnisvolle Ruhe herrschte. Wieder berührte er die Taste. Die Stimmen waren nun gut zu verstehen.

»Aktion Epidemie. Zwischenbericht – sechzehn null null.«

»Das ist die Nowikowa«, flüsterte Komsomolzev.

»... Zielperson allein im Objekt. Keine besonderen Vorkommnisse. Virus eins – Ende!«

Es knirschte und knackste, merkwürdige Töne waren zu hören.

»Wir haben eine Störung!«, erklang plötzlich eine männliche Stimme.

»Schestakow«, flüsterte Komsomolzev.

»Wir werden belauscht!«

Dann ging alles sehr schnell.

»Da, im Gebüsch!«

»Ein Jugendlicher!«

»Schnell!«

Erst war ein krachendes, dann ein schürfendes Geräusch zu hören, ohne dass Stimmen zu vernehmen waren. Dann kreischende Fahrgeräusche und schließlich Motorengeräusche, anschließend war wieder Ruhe. Ein kurzer Piepton verkündete das Ende der Aufzeichnung.

»Moment bitte.« Kasakow steckte sich erneut den Ohrhörer ins rechte Ohr, fuhr ein wenig zurück, lauschte intensiv und spielte mit den Tasten. Dann sagte er: »Das ist der Jugendliche. Dieses Geräusch war hinter den anderen versteckt.« Er startete einen winzigen Ausschnitt und ließ eine Schleife laufen.

»Lasst mich los! Ich bin Deutscher! Ihr habt nicht das Recht ...« Ein Klatschen war zu hören. »Lasst mich los! Ich bin Deutscher! Ihr habt nicht das Recht ...« Und wieder das Klatschen.

Nach dem fünften Klatschen stoppte Kasakow die Aufzeichnung.

»Jemand hat meinen Jungen geschlagen«, empörte sich Sorokin.

Komsomolzev klopfte auf die rechte Schulter seinen Freundes. »Ganz ehrlich, Tolik, wenn mir das bei einem Einsatz passiert wäre, hätte ich ihm wahrscheinlich auch eine ...« Er unterbrach sich selbst.

Währenddessen bediente Kasakow noch einmal die Gummitastatur. »Eine Aktion Epidemie wurde nicht autorisiert. Da spielt scheinbar jemand in Eigenregie.«

Die Runde schwieg.

*

Fedor streckte den Arm mit dem Handy in der Hand aus und lauschte. Kaum hatte er die Aufnahme gestartet, erklang bereits die Stimme der Frau: »Aktion Epidemie. Zwischenbericht – sechzehn null null. Zielperson allein im Objekt. Keine besonderen Vorkommnisse. Virus eins – Ende!«

Das war alles? Aktion Epidemie? Während er noch nachdachte, ging alles ganz schnell.

»Wir haben eine Störung!«, rief der Mann im Fahrzeug. »Wir werden belauscht ... Da, im Gebüsch! Ein Jugendlicher! Schnell!«

Jemand riss an Fedors Haaren und griff ihm unter die rechte Achsel, dem Jungen fiel das Handy aus der Hand, der Ohrhörer wurde aus seinem Ohr gerissen und irgendjemand zerrte ihn durch das stachlige Gebüsch auf den Gehweg. Seine Knie schlugen gegen eine Kante am seitlichen Einstieg des Vito, kurz darauf rauschte die Schiebetür zu. Eine Hand drückte ihm am Hals die Luft ab, während Fedor zwischen den Sitzen auf dem Fahrzeugboden auf dem Rücken lag und strampelnd schrie: »Lasst mich los! Ich bin Deutscher! Ihr habt nicht das Recht ...« Eine Handfläche klatschte ihm auf die linke Wange. Mehr konnte der Junge nicht sagen. Ein Knebel wurde in seinen Mund gesteckt. Erneut riss jemand an seinen Haaren und er wurde auf den Sitz gehoben. Fedor roch derben Atem vor seinem Gesicht, man verband ihm sinnloserweise die Augen und fixierte seine Handgelenke mit Handschellen so an der Kopflehne des Vordersitzes, dass er nicht aus dem Fahrzeug flüchten konnte, das im selben Moment losfuhr.

Fedor atmete hektisch. Die beiden Fremden sprachen nicht. Er lauschte. Neben dem Motorengeräusch des Fahrzeugs hörte er die üblichen Moskauer Geräusche.

Irgendwann stoppte das Fahrzeug. Die Person mit dem üblen Mundgeruch löste die Handschellen und Fedor bäumte sich so sehr auf, dass er den Körper der Person berühren konnte und deren Busen spürte. Es war die Frau, deren Stimme er bereits gehört hatte. Sie ließ die Handschelle an Fedors linkem Handgelenk und befestigte das andere Ende am eigenen Handgelenk. So zerrte sie ihn aus dem Vito. Durch den Knebel im Mund war es Fedor nicht möglich, das Klicksonar einzusetzen. Er stolperte und spürte erneut einen Schlag in der Nierengegend.

»Benimm dich und komm mit!«, fauchte ihn die für eine Frau viel zu tiefe Stimme an.

So gut es ging versuchte Fedor zu folgen. Er hörte in einiger Entfernung Kirchenglocken läuten und zwischendurch andere Stimmen. Es ging in ein Gebäude hinein und zwei Treppen nach unten, dann in einen Raum, in dem es unangenehm modrig roch. Die Frau drückte ihn auf einen Hocker, löste die Handschelle an der eigenen Hand und fixierte Fedors Hände auf dessen Rücken. Mit großer Kraft drückte sie seine Arme auf den Rücken, so dass es den Jungen schmerzte, der jedoch noch nicht aufschreien konnte. Dann erst zerrte sie ihm den Knebel aus dem Mund.

Fedor klickte hektisch. Der Raum war nicht sehr groß. Bilder entstanden in seinem Gehirn. Ein Schreibtisch, dahinter eine sitzende Person. Auf dem Schreibtisch standen kleinere Gegenstände. Rechts und links vom Schreibtisch befanden sich Scheinwerfer mit großen runden Schirmen. Neben dem rechten Scheinwerfer stand die Frau. Sie war nicht sehr groß, aber wahrscheinlich kräftig, ihre Umrisse wirkten wie die eines Mannes. Fedor erkannte keine Fenster, jedoch eine Tür im rechten Bereich. Neben der Tür stand ein zwei Meter hoher Aktenschrank.

»Durchsuche ihn!«, befahl die Stimme eines Mannes vom Schreibtisch aus. »Und nimm ihm die Augenbinde ab. Er soll ruhig sehen, mit wem er es zu tun hat.«

»Zu Befehl, Oberst!«, antwortete die Frau.

Fedor fühlte, dass sie sich ihm näherte. Sie tastete seine Jacken- und Hosentaschen ab – nicht aber seine Hosenbeine – und nahm alles an sich, was sie fand, auch den kleinen Dokumentenbeutel, der an seinem Hals hing. Sie entfernte anschließend die Augenbinde und brachte alle beschlagnahmten Utensilien zum Schreibtisch, um sich wieder rechts davon zu positionieren.

Während sich der Mann am Schreibtisch leicht bewegte, spürte Fedor stark strahlende Wärme. Der Mann hatte die beiden auf Fedor gerichteten Scheinwerfer eingeschaltet, damit sie den Jungen blenden sollten. Diese Leute wussten noch nicht, dass er blind war!

Der Mann entnahm dem Beutel die Dokumente. Geldscheine raschelten.

»Das ist mein Taschengeld!«, entfuhr es Fedor.

»Dreihundert Euro? Ziemlich viel Taschengeld. Es scheint fast, als hätte dich jemand bezahlt.«

»Nein, verdammt! Mein Papa und ich sind hier im Urlaub!«

»Wir?« Der Mann betrachtete den Ausweis. »Anatolij Sorokin. Dein Vater?«

»Sag ich doch!«, zischte Fedor auf Deutsch.

»Und du bist Fedor? – Warum hast du uns belauscht?«

»Ich habe niemanden belauscht.«

»Was hast du dann getan? Du hast unsere Technik gestört.«

»Habe ich nicht! Ich habe nach dem Netz gesucht.«

»Versteckt in einem Gebüsch?« Der Mann wandte sich an die Frau. »Olga Antonowna, würden Sie bitte diese Personen prüfen lassen?« Er reichte ihr Fedors Ausweis.

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