Still schweigt der See

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Sito sah sich um, suchte nach dem Fahrer aus dem ersten Bus und rannte zu ihm. Er packte den noch immer völlig apathisch wirkenden Mann am Arm und schüttelte ihn sacht, aber eindringlich.

»Was ist da los?«, fragte er.

Der Mund des Busfahrers stand offen, und der Atem kam stoßweise. »Eine – Bombe«, sagte er.

»Was?«

»Die Bombe ist im zweiten Bus. Wir wussten es nicht, als wir losfuhren.« Er sackte erneut in sich zusammen.

***

Sie waren gerade mit Blaulicht an den wartenden Autos über die B 33 gefahren. Im Vorbeifliegen hatte er den Bodensee auf der einen Seite, das Kloster Hegne auf der anderen gesehen. Ein Studienfreund hatte mal ein WG-Zimmer in Hegne gehabt, daher kannte er den Ort. Auf Höhe der Reichenau kam plötzlich die Meldung, dass sie es fortan nicht mehr nur mit der Geiselnahme an der Universität zu tun haben würden, sondern auch mit einer Geiselnahme und Bombendrohung direkt auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums.

Konstantin Hagen sah seinen Kollegen an, der ihm vor einer Stunde noch Mut gemacht hatte, dass sie auch diesen Tag heil überstehen würden, und sah dessen erstaunten Blick. »Zwei Geiselnahmen an einem Tag und in einer Stadt? Spinnen die?«

»Ist heute der Tag der Bekloppten?«, fragte ein anderer.

Über Funk sprachen sie mit ihrem Einsatzleiter Georg Moller und beschlossen, dass sie sich direkt fahrzeugweise aufteilten, die Einsatzleitung auf dem Präsidium sollte Konstantin Hagen übernehmen. Sein Nachbar stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite und nickte ihm zu. »Das rockst du«, sagte er ihm. Schon flogen die Hände in die Mitte, jeder legte seine auf eine andere, und sie stimmten sich ein: »Einer für alle, alle für einen«, klang es wie aus einem Munde durch den Bus. Nur Konstantin fühlte einen Kloß im Hals.

Im Grunde hatten sie eine exzellente Quote, meist lösten sie Geiselnahmen und andere Konflikte, ohne von der Schusswaffe Gebrauch machen zu müssen. Sie verhandelten, sie stürmten, sie waren ihren Gegnern taktisch überlegen. Weshalb also machte Hagen sich an diesem Tag Sorgen? Lag es daran, dass er beim Aufwachen das Gefühl gehabt hatte, eine tiefschwarze Decke läge über seinem Gesicht? So ein merkwürdiger Schleier vor den Augen, den er nicht sofort auf die noch währende Dunkelheit in seinem Zimmer schob, sondern erst auf sein Augenlicht. Er würde seine Freundin heute nicht mehr treffen. Er wäre gleich wieder unterwegs, um Frieden zu stiften, und würde auch davon niemandem erzählen können.

Sie erreichten den Parkplatz des Präsidiums. Das große herrschaftliche Gebäude ragte vor ihnen auf, davor der rote Bus. Sie fuhren vor den Seiteneingang, Hagen gab das Zeichen für die Sturmmasken, die sie ab sofort tragen würden, bis sie in einem abgeschlossenen internen Bereich waren, und gemeinsam verließen die zwölf Männer das Einsatzfahrzeug. Vom Uni-Bus aus konnte man sie nicht sehen. Hagen wusste, dass der Aufmarsch des SEK schnell Panik auslösen konnte, und noch hatten sie keine Ahnung, wie die Bombe gezündet werden würde. Womöglich also waren auch Geiselnehmer mit an Bord. Im Besprechungszimmer nahm er seine Sturmmaske wieder ab und spürte sofort den angenehmen Luftzug an seinem Gesicht. Ab jetzt wartete er auf die neuen Informationen der Hauptkommissare vor Ort.

***

Das Gebiet um das Polizeipräsidium war weiträumig abgesperrt. Die Menschen aus dem ersten Bus befanden sich inzwischen in verschiedenen Räumen im Präsidium und wurden von einem Kriseninterventionsteam der umliegenden Krankenhäuser betreut. Rosa rannte zwischen der Küche und den Räumen hin und her und versorgte die Geretteten, so gut es ging. Die meisten waren umgehend zu Befragungen bereit. Nach einer Viertelstunde hatten Sito und Busch ein doch recht klares Bild von den Abläufen der letzten Stunden. Sie zogen sich in Sitos Büro zurück, die Kollegen würden die Befragungen fortsetzen.

Sito stand am Fenster und beobachtete den Parkplatz. Ein Sprengstoffexpertenteam kontrollierte sicherheitshalber den leeren Bus. Langsam bewegten sie sich vorwärts, gaben Zeichen, wenn etwas gesichert war. Sito hatte von verschiedenen Übungen eine ungefähre Vorstellung, wie hoch der Adrenalinpegel dieser Leute war – jeder Schritt ein Wagnis. In den Trainingsräumen lösten Fehltritte Alarmsignale aus, akustische Schockmomente, die in der Realität den Tod bedeuten konnten. Er riss sich los und hob seinen Blick in den Baum gegenüber seinem Fenster. Vor etwas über zwei Stunden hatten sie von der Geiselnahme an der Universität erfahren. Er hatte das Gefühl, der Tag dauere schon ewig.

»Die Geiselnehmer haben noch immer keine Forderung geschickt«, sagte Busch von seinem Schreibtisch aus. Er hatte sich hingesetzt und sah sich suchend um. Abrupt stand er auf. »Und? Was entdeckt in dem Baum?«, fragte er. »Ich brauch einen Kaffee. Du auch?« Ohne die Antwort abzuwarten, trat er zur Kaffeemaschine und kochte eine ganze Kanne für sie beide. Das Gurgeln war für eine kleine Weile das einzige Geräusch im Raum, durchdrungen von den Rufen durch das Megafon, die sich blechern über den Platz vor dem Präsidium nach oben verteilten.

Sito legte sich die Hände in den Nacken. »Die haben wieder Stäbe aufgebaut.«

»Hm?«

»Gegen die Tauben. Diese Minispeere.« Sito öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um die Metallspitzen umzubiegen, scheiterte jedoch. »Jedes Mal sehe ich eine aufgespießte Taube in meiner Phantasie.« Er würde eine Zange brauchen, um die Speere unschädlich zu machen.

Busch starrte nach draußen. Er musste sich losreißen. »Der Kaffee«, murmelte er. »Ich glaub –«

»Es ist schrecklich«, sagte Sito. »Wir stehen hier und können nichts tun, außer zu warten.«

»Das ist ein schlechtes Zeichen, dass die sich noch nicht gemeldet haben«, sagte Busch und trat mit zwei Kaffeetassen neben Sito ans Fenster.

»Die da unten«, Sito nickte in Richtung Parkplatz, »die erleben gerade die Hölle, und nichts in ihrem Leben wird mehr so sein, wie es mal war.« Er trank einen Schluck. »Also, Marc, lass uns die Ereignisse rekonstruieren.« Sito setzte sich mit seinem Kaffee und wartete, bis Busch ihm gegenübersaß, dann nahm er einen Zettel und einen Stift und begann zu notieren. »Ungefähr um acht Uhr dreißig sieht die Sekretärin bewaffnete Männer im Gang, oder?«

Busch nickte. »Soviel ich mitbekommen habe, war die Rede von vier Männern.«

»Vier Männer zusätzlich zu den sechs Geiselnehmern in der Uni. Hm, scheint mir ungleich verteilt. Gehen wir mal lieber davon aus, dass es noch mehr sind.«

»Garantiert sind es mehr. Die haben sicherlich Posten an den Ausgängen.«

Busch nahm sich Zucker für seinen Kaffee und reichte die Zuckerdose an Sito weiter. »Sie wollte sich in ihrem Zimmer verstecken, aber dann kamen wieder Bewaffnete und forderten sie auf, zum Ausgang zu laufen.«

»Und dort standen zwei Busse?«

»Genau. Einer der Männer erklärte ihnen, dass ihnen nichts passieren wird, wenn sie sich ruhig verhalten.«

»Und alle stiegen sie ein.« Sito nickte, rührte seinen Kaffee um, trank noch einen Schluck, der jetzt mit Zucker schon besser schmeckte. »Die Busfahrer wussten nichts von der Bombe? Ist das glaubwürdig?«

Busch nickte. »Frau Hauser hat erzählt, dass die beiden Busfahrer draußen warten mussten und von einem Mann mit Waffe in Schach gehalten wurden. Die Sekretärin konnte sehen, dass etwas besprochen wurde, woraufhin sich die Busfahrer die Hände vors Gesicht schlugen, und einer hat was gerufen, was wie ›nein‹ klang, aber sie hatte nicht verstanden, worum es ging. Nach dem Losfahren hat der Fahrer dann über den Lautsprecher verkündet, dass in einem der beiden Busse eine Bombe an Bord wäre, er aber nicht wüsste, ob sie in diesem Bus ist oder in dem anderen. Beide hätten den Auftrag gehabt, zum Polizeipräsidium zu fahren, ohne anzuhalten, vor allem, ohne jemanden aussteigen zu lassen. Auf dem Parkplatz des Präsidiums würden sie dann erfahren, ob sie in dem Bus mit der Bombe sitzen.«

»Also glaubwürdig.«

»Absolut. Evelyn Hauser meinte, die Fahrt von der Universität runter in die Stadt hätte sie wie in Trance erlebt. Alles schien in Watte gepackt und nur in Zeitlupe zu schleichen. In Gedanken hat sie das Szenario durchgespielt, wenn sie im Bus mit der Bombe säße, und sich innerlich verabschiedet von ihren Lieben, sie gar vor ihrem geistigen Auge bei ihrer Beerdigung weinen gesehen. Du kannst dir die Aussage noch einmal anschauen, es werden alle aufgezeichnet.«

»Okay, dann haben wir also einen Bus mit rund hundert unschuldigen Menschen und einer Bombe da unten.«

»Das sind Sadisten, so viel wissen wir jetzt auch«, sagte Busch und trank den Kaffee, als bräuchte er ihn gegen die innere Kälte.

»Ich weiß nicht recht, das ist sehr merkwürdig. Ich muss immer an Romans Bemerkung über den alten Mann denken.«

»Hat er noch mal geschrieben?«

»Nein, natürlich nicht. Das hätte ich dir doch sofort gesagt, Marc.« Sito kratzte sich an der Stirn. »Ich werde ihn über die Busse informieren, aber ich hab echt Magenschmerzen dabei, ihm zu schreiben.«

»Ja, das verstehe ich«, sagte Busch. »Hast du denn in Romans Fällen etwas gefunden, was in einem Zusammenhang stehen könnte?«

Sito schüttelte den Kopf. »Nichts, was so eine große Geschichte erklären würde.«

»Das ist ja das Problem«, sagte Busch nachdenklich, »was fiele uns überhaupt ein, das eine so große Geschichte erklären könnte?«

***

Vor seinen Augen flimmerte es, als wäre die Luft zu heiß. Er blinzelte mehrmals, fokussierte die roten Stangen an der Decke, um seine Sehschärfe zu überprüfen, und zählte langsam von zehn rückwärts, den Atem bewusst kontrollierend. Allmählich gewann das Gestänge unter der Decke wieder an Kontur. Drei – zwei – eins. Enzig begriff, dass ihm Schweiß in die Augen gelaufen war, nichts weiter.

 

Was hatten die vor? Warum gab es nicht endlich Forderungen? Niemand hatte den Raum verlassen. Sie saßen einfach hier und warteten. Unruhig sah Enzig sich um. Worauf verdammt noch mal warteten die?

Miriam fing seinen Blick auf und hob die Augenbrauen. Enzig war sich umgehend sicher, dass sie denselben Gedanken hatte. Ihr investigatives Talent wäre ihr zuletzt beinahe zum Verhängnis geworden, auf alle Fälle war es unbestreitbar. Sito würde sich damit abfinden müssen, dass aus ihr, wenn nicht eine Polizistin, so doch eine Kriminalistin werden würde. Sie gab Enzig mit den Augen ein Zeichen. Gewiss wollte sie ihm Zeit verschaffen, die er sinnvoll nützen sollte.

Miriam hob die Hand. »Hans«, sie winkte, blieb aber sitzen. »Können wir jetzt reden? Sie sagten doch, dass –«

Hans war im Gespräch mit dem Mann an der rechten Seitenwand. Beide sahen sie zu jenem an der Tür, der wieder telefonierte. Gert indessen kam auf das Podium und baute sich vor Miriam auf. »Klappe, du renitentes Biest«, schimpfte er.

»Du hast mir gar nichts zu sagen. Gert«, erwiderte Miriam, und Enzig hielt den Atem an. Dieser Gert kochte bestimmt vor Wut. Seine Sturmmaske ließ einen Blick auf seine Augen- und Stirnpartie sowie seinen Mund zu, und ein Stück am Hals lag ebenfalls frei, weil die Maske dort verrutscht war. Ein Stückchen blanke Haut. Enzig musste an Achilles denken, ein winziges verwundbares Stück, die Halsschlagader. Schnell schüttelte er die Bilder ab, die sich gerade einen Weg bahnen wollten.

»Nenn mich nicht Gert, sonst …« Er trat noch einen Schritt näher. Die Menschen um Miriam herum wurden unruhig. Enzig glaubte, die Ader am Hals des anderen pochen zu sehen.

Blanke Haut, verwundbar. Klatschmohnrot, eine Fontäne … Weg mit den Bildern.

»Was soll ich machen?«, fragte Miriam forsch, doch Enzig kannte ihre Stimme. Sie klang angestrengt und eine Spur zu hoch. »Du verrätst deinen Namen ja nicht, Geeeert.« Enzig zog intuitiv den Kopf ein, er wusste, das war zu viel.

»Du blöde Gans«, schrie er. »Ich heiße Jürgen.« Dabei flogen Spuckefäden durch die Luft. Er holte mit dem Gewehr aus.

»Halt«, rief der alte Mann.

Enzig setzte sich abrupt auf. Auch Jürgen sah sich erstaunt zu ihm um und ließ das Gewehr sinken. Erst dann schien er zu begreifen, was gerade passiert war. Er senkte den Kopf. Er war auf Miriams Provokation hereingefallen. Sie saß vor ihm, hatte sich halb abgewandt und versuchte irgendwie zu verschwinden. Jürgen wandte sich ab, das Gewehr klickte merkwürdig. In einer ruckartigen Bewegung fuhr er herum, machte zwei schnelle Schritte und stand dann vor Miriam. Sie schrie auf, hob die Hände schützend vors Gesicht, doch Jürgen holte bereits aus, um ihr einen Schlag zu versetzen. Schneller, als Enzig ihm das zugetraut hätte, stand der alte Mann neben Jürgen und hatte das Gewehr in der Hand.

»Wage es ja nicht«, sagte er mit einer so kraftvollen Stimme, dass es Enzig beschämte. Er hätte dort stehen müssen und dieses Gewehr aufhalten. Er! Stattdessen stand dort ein Mann, der gewiss über siebzig war. Resolut und wagemutig.

Wieder hatte sich der Unbekannte schützend vor eine der Geiseln gestellt, wieder vor Miriam.

Jürgen nickte. »Gut, dann ist jetzt wohl die Zeit für unsere Forderung gekommen.« Anschließend wandte er sich an Miriam: »Und du, kleine Fotze, komm mir nicht noch einmal in die Quere, sonst fick ich dich.«

6

11 Uhr bis 12 Uhr

Der Schrei vom Flur war hoch und kurz, klang aber eher alarmiert als ängstlich. Sito wusste sofort, dass er von Rosa gekommen war, sprang von seinem Sitz auf und rannte nach draußen. Von der anderen Seite des Ganges kam Busch angelaufen.

»Was ist los?«, fragte Sito.

»Herkommen. Hier im Fernsehen.«

Sito und Busch stellten sich neben Rosa und starrten auf den Bildschirm. Sie hatte wie alle die Aufgabe, die öffentlichen Medien im Auge zu behalten, und es augenscheinlich als Erste gesehen. Um genau elf Uhr war ein Video der Geiselnehmer gestartet. Es dauerte weniger als eine Minute. Darin las ein älterer Herr die Forderungen vor, die darin bestanden, einen Fall wieder aufzurollen, der zuletzt die Stadt Konstanz in Atem gehalten hatte. Eine Vergewaltigungsserie, der mittlerweile vier Frauen zum Opfer gefallen waren.

Sito und Busch standen schweigend vor dem Bildschirm. Längst war das Video vorbei, und ein neuer Bericht fing an. Es ging über Sibylle Hundhammer, die sich gerade auf die Demonstration vorbereitete. Das Kamerateam besuchte sie in ihrem Hotel im Fischerviertel, und Sito erkannte, dass es jene Pension war, in der auch Enzig eine Zeit gewohnt hatte, bevor er die Wohnung im Paradies gefunden hatte.

»Was zum Henker war das?«, fragte Busch, der sich als Erster vom Bildschirm loseisen konnte.

»Die Geiselnehmer«, antwortete Rosa überflüssigerweise.

Busch drehte sich zu Sito und hob die Hände in die Höhe.

»Rosa, haben wir das auf Band?«

»Natürlich nicht«, antwortete Rosa, »so schnell war ich nicht. Aber der Sender muss das ja …« In einer Übersprunghandlung griff sie zu der Gießkanne und kippte ein wenig Wasser in den Efeu auf der Fensterbank. Als sie sich wieder umdrehte, hob sie hilflos die Schultern. »Das war jetzt … Ich weiß nicht, was das war. Entschuldigt.« Sie stellte die Gießkanne auf den Tisch. »Es sind die Menschen da unten, da draußen vor unserem Haus. Die Vorstellung …« Sie hielt die Hände vors Gesicht. »Und der arme Herr Enzig«, schluchzte sie.

Sito legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich versteh das, Rosa, glaub mir, uns geht das auch an die Nieren, aber wir müssen jetzt gemeinsam durchhalten, okay? Ruf bitte beim Sender an. Ich will den Verantwortlichen hier in meinem Büro haben. Sofort. Und das Video per Mail. Marc, kannst du alle, die im Haus sind und nicht mit den Businsassen zu tun haben, in den Konferenzraum bestellen?«

Busch schnaubte. »Machst du Witze? Dann können wir zwei gleich zu dir ins Büro.«

»Okay, dann eben zu mir«, sagte Sito und seufzte. »Rosa, bitte such mir alles zu diesem Fall heraus und ruf bei den Kollegen an, die da ermittelt haben. Ich will mit allen –«

»Hallo, komme ich noch rechtzeitig?«

Sito und Busch sahen sich überrascht um. Am Ende des Ganges konnten sie Heinrich Wint erkennen, der wie fast immer einen olivfarbenen Trenchcoat trug. Neu allerdings war die dünne Strickmütze auf seinem Kopf. Ist schon Winter?, überlegte Sito und erinnerte sich an den schönen Spaziergang am Morgen mit seinen beiden Hunden. Nein, es war eher restsommerlich warm.

»Heinrich«, rief er und ging dem alten Freund entgegen. Sie umarmten einander. »Dich schickt der Himmel. Ich hab ganz vergessen, dass du unterwegs bist. Komm gleich mit. Wir haben Neuigkeiten.«

»Aber einen Kaffee gibt’s schon, oder?«, fragte Wint im Gehen. »Es war gar nicht so einfach, zu euch zu gelangen. Die Straßen sind dicht. Und was machen die Busse auf dem Parkplatz?«

»Wie hast du es geschafft?«, erkundigte sich Busch.

»Fahrrad«, erklärte Wint und legte seinen Trenchcoat über die Stuhllehne. »Ich hab die Memos alle gelesen. Was gibt es Neues?« Er ließ sich auf das Sofa sinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Und was ist mit den Kollegen vom LKA? Sind die inzwischen –«

»Du bist das LKA«, erklärte Sito nüchtern, setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete sein Mailpostfach.

Wint lachte laut auf, sah von Sito zu Busch, und als keiner von den beiden mitlachte, machte er große Augen. »Ich bin die Unterstützung vom LKA? Das ist ein schlechter Scherz. Ich dachte, du hast mich angefordert, Paul.«

»Hab ich ja auch. Sollte ich. Du wurdest mir empfohlen, bis die aus Stuttgart hier sind. Wir konferieren, sobald wir Zeit finden. Sie sind auf dem Laufenden. – Du bist mit dem Fahrrad gekommen? Woher?«

»Nicht aus Gaienhofen. Ich hab mir aber eins ins Auto gepackt, hatte so was ja schon vermutet. Ich bin also das LKA, na toll. Die können mich einfach nicht in Ruhe –«

»Die haben gesagt, du warst Vermittlungsexperte. Das hast du mir gar nicht erzählt«, Sito lächelte kurz, dann starrte er wieder auf den Bildschirm. »Du wärst der Mann für Geiselnahmen. Also früher – und jetzt für uns.«

»Verdammt, ich pfeif auf früher. Also los. Was sind die Neuigkeiten? Die Busse?«

Sito klickte wieder und hatte endlich die gewünschte Antwort vom Sender mit dem Hinweis, dass ein Benjamin Kirschner in der nächsten halben Stunde vorbeikommen würde. Das gewünschte Video war ebenfalls dabei. Sito drehte den Bildschirm so, dass Wint ihn gut sehen konnte, und stellte sich zu Busch neben das Sofa. »Wir haben endlich eine Forderung der Geiselnehmer«, sagte er und verschränkte die Arme. Als das Video anlief, richtete Wint sich auf und stützte sich auf seine Knie. Aufmerksam verfolgte er die Sätze. Noch einmal und noch einmal und noch ein drittes Mal sahen sie sich das Video an.

»Die Geiselnehmer wollen den Vergewaltiger schnappen?«, fragte Wint erstaunt. »Und dürfte ich vielleicht noch einmal an die Busse erinnern? Ich hab offenbar ein Memo verpasst auf dem Rad.«

Sito sah erschrocken zur Seite. »Himmel, Heinrich, offensichtlich. Entschuldige, ich war so fokussiert auf das Video.« Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.

»Die Busse kamen von der Uni. Die Menschen aus dem einen durften aussteigen, die aus dem anderen sitzen mit einer Bombe an Bord fest.«

Wints Stirn legte sich in tiefe Falten, seine Augen wurden schmale Striche. »Noch mehr Geiseln also und eine Bombe.« Er kratzte sich an der Mütze.

»Sie wollen, dass wir ihn ermitteln, ja, anscheinend«, antwortete Sito. »Wir müssen sehen, ob das echt ist oder Ablenkung.« Er drehte den Bildschirm schließlich weg, nachdem weder Busch noch Wint ein weiteres Abspielen gefordert hatten, und lehnte sich an seinen Schreibtisch.

Busch legte den Kopf schief. »Aber damit ist auch der Terrorverdacht erst einmal vom Tisch, oder?«

»Terrorverdacht?« Wint sah sich suchend in Sitos Büro um. »Und, Leute, es tut mir leid, dass ich schon wieder Ansprüche stellen muss, aber ich brauche einen Kaffee.« Er hielt die Nase in die Luft. »Ich kann ihn riechen, aber nicht sehen.« Grinsend hob er die Augenbrauen.

Sito holte eine Tasse und füllte Kaffee ein, dazu etwas Milch und Zucker. Von Wint kam ein lang gezogenes »Mmmh«.

»Ja, Heinrich«, sagte Sito, »wir haben auch das in Betracht gezogen. Du hast ja gelesen, was Zimmermann über die Stimmung im Netz geschrieben hat. Die konkrete Forderung ändert die Sachlage jetzt allerdings.«

»Okay. Aber eine Vergewaltigung – und dafür fünfzig Geiseln genommen? Plus die draußen im Bus? Wo eventuell eine Bombe ist? Was soll das?« Wint trank große Schlucke, und Sito wunderte sich, dass der Kaffee dafür nicht zu heiß war.

»Bevor das Video kam, haben Marc und ich noch überlegt, welche Geschichte so groß sein kann, dass sie diesen Aufwand rechtfertigt. An eine Vergewaltigungsserie haben wir nicht gedacht«, gab Sito zu. Er holte die Kaffeekanne und stellte sie vorsorglich zu Wint auf den Tisch.

Busch schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht.« Er klatschte in die Hände. »Immerhin haben wir jetzt einen Anhaltspunkt. Auf geht’s, wir brauchen die Akten. Womöglich ein Angehöriger eines Opfers, jemand, der mit unseren Ermittlungen nicht zufrieden war.«

Wint zog die Augenbrauen hoch. »Also, ich weiß nicht, das halte ich für ausgeschlossen. Wer hat da gesprochen auf dem Video? Kennt man den?«

Sito sah zur Seite auf seinen Schreibtisch, wo seine gesammelten Notizen lagen. Obenauf die beiden Nachrichten von Enzig. »Roman hat von einem älteren Herrn geschrieben.«

»Roman Enzig? Ich verstehe nicht.« Wint sah von Busch zu Sito. »Was hat Enzig damit zu tun?«

Sito ließ den Kopf sinken, während Busch antwortete: »Er ist unter den Geiseln. Er war dort, um einen Vortrag zu halten.«

»Was?« Wint sprang auf. »Das erfahr ich erst jetzt? Wieso stand das in keinem Memo? Wir haben jemanden inside?«

Sito hob beschwichtigend die Hand. »Nein, so kann man das nicht sehen. Inside hieße, dass wir ihn einsetzen können.«

»Papperlapapp. Drin ist drin. Wann kam die letzte Nachricht?«

Busch sah zur Uhr, dann zu Sito. »Wann, Paul? Ich hab mein Zeitgefühl verloren.«

Sito blätterte in seinen Notizen. »Vor etwas mehr als einer Stunde. Er hat geschrieben, dass etwas mit dem älteren Herrn nicht stimmt.«

 

Wint nickte. »Da trifft er den Nagel auf den Kopf. Irgendwas stimmt nicht mit dem ganzen Video. Bislang haben die sich über die Facebook-Seite der Stadt gemeldet, weshalb jetzt so?«

»Verwirrung stiften?«, fragte Busch.

»Möglich«, entgegnete Wint und schob seine Mütze hin und her.

»Sie wollen zeigen, dass sie überall sind. Sie wollen mit uns spielen«, sagte Sito.

»Kam das auch bei Facebook?«, fragte Wint.

Busch nickte. »Zuerst beim Sender, dann aber wie gewohnt auch auf der Facebook-Seite der Stadt. Inzwischen«, er scrollte durch die Nachrichten auf seinem Handy, »inzwischen haben wir bereits vierhundert Kommentare auf der Stadtseite unter dem Video, schreibt Zimmermann.«

»Zimmermann ist wer?«, hakte Wint nach und scrollte auf seinem Smartphone durch die Seite der Stadt. »Alles öffentlich, und jetzt noch mit dem regionalen Fernsehen an Bord. Was zum Teufel …?«, brummte er vor sich hin, dann sah er auf: »Also, wer war dieser Zimmermann?«

»Unser Mann für Internetkriminalität. Er überwacht mit seinem Team die sozialen Netzwerke. Du hast im Memo seinen Bericht gelesen, und ja, die Frage ist: Weshalb diese verdammte Öffentlichkeit?«

Wint rieb sich nachdenklich an seinem Kinn mit dem Dreitagebart. »Ich will mir noch einmal das Video ansehen. So lange, bis ich drauf komme, was mich stört.«

Sito nickte, drehte wieder den Monitor und ließ die Aufzeichnung ein weiteres Mal laufen und dann gleich noch einmal. Sie kannten den Inhalt inzwischen auswendig, dennoch saßen sie wie gebannt davor, auf jedes noch so kleine Detail lauernd, das sich irgendwo in dem Gesicht des Mannes oder im Hintergrund verbergen könnte.

Beinahe gleichzeitig entdeckten sie, was nicht stimmte.

»Er hat das fehlerfrei vorgelesen«, rief Wint aus, während Busch murmelte: »Kein Versprecher«, und Sito laut sagte: »Der wusste vorher, was er da liest.«

»Das ist es«, bestätigte Wint. »Wir alle wissen, Menschen, die Geiseln sind und unter Stress stehen, kriegen das so nicht hin.«

»Das war gerade auch mein Gedanke«, sagte Sito. »Also? Was schließen wir daraus?«

Wint stützte die Hände in sein Kreuz und saugte seine Lippen ein. Sein Blick wanderte zum Fenster, von dem aus man auf den zweiten Bus würde blicken können.

»Wir schließen daraus«, begann Busch und setzte sich nun doch auf den Stuhl an Sitos Schreibtisch, »dass der ältere Herr zu den Geiselnehmern gehört.«

»Mehr noch«, Wint hob den Zeigefinger, »dass er juristisch bewandert ist.«

»Ja?«, wunderte sich Sito und startete das Video noch einmal. Die drei Männer standen da und starrten auf die Bilder, die vor ihnen vorbeiflogen. »Du meinst, weil er das mit den Aktenzeichen so problemlos hinbekommen hat?«

»Spul noch mal zurück, ich schrei dann ›Halt!‹«, sagte Wint.

Sito spulte zurück und startete, Wint schrie: »Halt!«, Sito reagierte sofort und drückte, als Wint nickte, wieder auf Play. In dem Moment, als der Mann im Film in die Kamera schaute, zeigte Wint auf sein Gesicht und sagte: »Achtung, jetzt!« Genau in diesem Moment las der Mann die Aktennummer vor – und sah dabei direkt in die Kamera. Sito hielt das Video an.

»Das ist ein klarer Beleg«, sagte Wint triumphierend und tippte auf den inzwischen eingefrorenen Blick des älteren Herrn. »Der Wunsch, die Vergewaltigung aufzuklären, ist der Wunsch dieses alten Mannes.«

»Du hast recht, Heinrich«, pflichtete Busch bei. »Das ist ja – ich weiß nicht, wonach suchen wir?«

»Ich brauch erst einmal noch mehr Kaffee. Und dann die Akten. Und wir brauchen endlich ein Mann-zu-Mann-Gespräch mit den Geiselnehmern.«

»Ich hab schon überlegt, ob wir auch den Kanal nutzen sollten. Sie haben das ja offensichtlich im Blick«, schlug Sito vor und startete den Fernsehsender vom Bodensee.

»Okay.« Wint nickte. »Eine gute Idee. Oh …« Er sah auf den Bildschirm. »Was ist das?«

»Das ist ein Beitrag über die anstehende Demo heute und über –«

»Diese Hundhammer, ich seh schon. Freunde, ich sag es nur ungern, aber das Ganze könnte gewaltig aus dem Ruder laufen, wenn wir nicht schnell einen persönlichen Kontakt herstellen.«

Sito starrte auf den Bildschirm. Irgendetwas erweckte seine Aufmerksamkeit, aber er wusste nicht, was. Er folgte dem Beitrag einige Sekunden, sah Sibylle Hundhammer beim Kaffeetrinken. Sie erzählte von ihrem Ausflug in den Herosé-Park. Sie lachte, sah aus dem Fenster, der Reporter fragte, ob sie auch ein wenig Respekt habe … Ihr Lachen, ihre Unbeschwertheit.

Etwas stimmt nicht. Irgendetwas stimmt nicht.

Es klopfte. Sito riss sich los und starrte zur Tür. Rosa. Sie kam herein, weniger energisch als sonst, beinahe vorsichtig. Sie nickte Heinrich Wint zu, dann überreichte sie jedem die bereits dreimal kopierten Akten.

»Ich hoffe, ihr findet, wonach ihr sucht«, flüsterte sie und verließ eilig das Zimmer.

Wenn ich nur wüsste, wonach wir suchen …

***

Enzig überlegte fieberhaft, was da gerade passiert war. Was da genau passiert war. Es war nicht einfach eine Forderung von Geiselnehmern, es ging nicht stumpfsinnig um Geld und ein Fluchtauto. Und letztlich wunderte sich Enzig auch über die Tatsache, wer die Forderungen vor der Kamera verlesen hatte.

Der ältere Herr. Immer wieder trat er in den Vordergrund. Jetzt als Überbringer der Botschaft an die Polizei. Wie war das gerade abgelaufen? Er hatte sich bereitwillig hingesetzt und die Forderung verlesen. Diese bestand darin, sich einen offenen Fall genauer anzusehen. Zwar hatte ein Bewaffneter neben ihm gestanden, aber Enzig hatte nicht den Eindruck gehabt, dass der alte Mann dort in Panik geraten war. Unter Stress hätte jeder einen Fehler gemacht, sich verhaspelt, falsch geatmet. Ihm war das vorhin auch passiert. Man machte Pause, musste mehrfach für Wörter ansetzen, aber nichts dergleichen bei dem älteren Mann mit seinem Halstuch. Er hat das einfach so runtergelesen, als würde er – Enzig stockte mitten im Denken und sah zur Seite zu dem Mann hin.

Seit beinahe drei Stunden waren sie bereits Geiseln. Je länger es dauerte, desto schwerer wurde es, die Situation zu kalkulieren – sowohl die unter den Geiseln als auch die unter den Geiselnehmern. Enzig war noch nie Teil einer Geiselnahme gewesen, er war noch nie zurate gezogen worden, wenn es darum ging, mit einem gewaltbereiten Menschen zu verhandeln, das war nicht sein Gebiet, aber er hatte sich eingehend mit Menschen in Gruppen- und in Extremsituationen auseinandergesetzt. Theoretisch. Er wusste, wie eine Gruppe funktionierte und wie unter Druck die Lage eskalierte. In dieser Situation trafen zwei Gruppen aufeinander, denen man klarmachen musste, dass sie dasselbe Ziel hatten, was auf den ersten Blick nicht leicht war, denn jede Gruppe fühlte sich durch die jeweils andere bedroht. Und jetzt stand die Möglichkeit im Raum, dass er den Anführer ausfindig gemacht hatte – ein alter Mann ohne Waffe. War es seine Forderung? Was bedeutete das, und was sagte es über die anderen Geiselnehmer?

Enzig blickte sich um: Waren sie alle gewaltbereit? Nein. Sie waren uneins, aber das war keinesfalls ein Garant dafür, dass sich die weniger Gewaltbereiten durchsetzen würden.

Enzig grübelte. Es war unklar, wie viele Chancen er noch haben würde, Sito Nachrichten zu übermitteln. Miriam sollte so ein Risiko nicht mehr allzu oft eingehen.

Dennoch musste er Sito schnellstmöglich von seinem Verdacht schreiben. Sicher könnten sie das anhand des Videos überprüfen. Vielleicht konnten sie herausfinden, wer der Mann war, und in seinem Umfeld recherchieren.

Enzig griff in seine Tasche. Er hatte die Anzahl der Geiseln noch nicht mitgeteilt, das war eine wichtige Information. Auch die Waffentypen würde er gern durchgeben, denn die lieferten ja manchmal Hinweise auf die Täter. Mindestens zwei Waffen hatte er erkannt. Was noch? Enzig überlegte, was für das Team draußen weitere nützliche Infos sein könnten.

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