Still schweigt der See

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Setz dich hin«, rief ein anderer barsch.

»Könnten wir vielleicht etwas zu trinken haben? Es ist so stickig. Bitte.«

Der Mann drehte sich zu seinen Kollegen und lachte übertrieben. »Es ist stickig, ha, und ein Getränk möchte die Dame bestellen. Na so was. Klar, wir bestellen ein paar Cocktails.«

Miriam trat noch einen Schritt auf ihn zu. Enzig hielt die Luft an. Er kannte ihre Entschlossenheit, er kannte auch ihre Sturheit. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte sie am Arm zurückgehalten, aber ihm war klar, dass sie dieses Manöver seinetwillen gestartet hatte.

»Hören Sie«, sagte Miriam ruhig und senkte ein wenig den Kopf. »Ich wollte nur höflich fragen, ob Sie vielleicht Wasser organisieren könnten. Ich wollte keinesfalls Ihre Position hier in Frage stellen.« Sie lächelte. »Wie heißen Sie denn?«

»Halt’s Maul«, erklang eine Stimme aus dem Hintergrund, und Enzig wusste nicht, wen der dazugehörige Mann meinte, Miriam oder seinen Kollegen, aber wahrscheinlich meinte er beide.

»Ich kann Sie ja Jochen nennen.« Miriam sah an ihm vorbei zu dem anderen. »Und Sie könnte ich Gert nennen.«

Gert kam auf das Podium zugelaufen, stapfte auf Miriam zu und baute sich vor ihr auf. »Dir hat man wohl ins Gehirn geschissen. Was soll der Mist von wegen stickig? Hältst du uns für blöd?«

Die beiden am Rand Stehenden wurden unruhig.

»Was ist denn da los bei euch?«, rief der eine, und der andere sah sich nach den Männern an der Tür um.

»Ich wollte lediglich Wasser von Gert und Jochen«, rief Miriam trotzig zurück.

»Hey.« Gert rempelte Miriam an, doch sie hatte sich gleich wieder gefangen. »Du hältst jetzt das Maul, sonst …« Er richtete die Waffe direkt auf sie. Plötzlich erhob sich der ältere Herr und hob beschwichtigend die Hand. Er kam zu Miriam und stellte sich schützend dazwischen. Enzig beobachtete die Szene und staunte über den Mut des Mannes. Ein Raunen ging durch die restliche Gruppe am Boden. Die zwei Männer, die vorhin ebenfalls versucht hatten, sich aufzulehnen, hielten sich bereit. Enzig hoffte inständig, dass sie nicht ein weiteres Mal versuchen würden, handgreiflich zu werden. Es wäre der falsche Zeitpunkt, auch für Miriam wurde es langsam Zeit, sich zurückzuziehen.

»Ich wollte wirklich nur Wasser, ehrlich, Gert.«

Gert holte tief Luft und öffnete den Mund, beherrschte sich aber.

»Wir können Wasser bestellen«, rief einer vom Gang.

Miriam nickte langsam. »Dann gehen wir jetzt einfach auf unsere Plätze zurück, in Ordnung? Sie haben hier das Kommando.« Sie drehte sich um und wollte gerade losgehen, hielt dann aber inne und wandte sich noch einmal an Gert und Jochen. »Ich bin Miriam. Vermutlich wäre es nicht schlecht, wenn Sie auch Namen hätten. Wir haben sicher einiges zu besprechen heute.«

»Du vorlaute kleine –« Gert kam nicht weiter, der andere legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie hat recht, oder?« Jochen sah zu dem älteren Mann. »Hat sie doch, oder?« Der nickte erschrocken.

»Was wird das hier?«, raunte ihm sein Kollege zu.

»Hey, was zum Teufel treibt ihr da auf der Bühne?«

Enzig hatte auf einen Schlag ein etwas klareres Bild der Gruppe. Das hat Miriam großartig gemacht, dachte er, und professionell obendrein. Sie hatte dem anderen das Gefühl gegeben, die Kontrolle zu haben, und dennoch dafür gesorgt, dass die Geiselnehmer sich positionieren mussten.

»Bist du von der Polizei oder was?«, fragte der Größere jetzt Miriam. Seine Stimme klang zornig.

»Nein, Gert, ich studiere hier«, antwortete Miriam unaufgeregt.

»Hör auf, mich Gert zu nennen.«

»Dann verrate mir doch deinen richtigen Namen.«

»Du blöde –« Wieder hielt ihn sein Kollege zurück. »Was denn? Die will mich nur aushorchen, die denkt, ich bin blöd.«

»Vergiss meinen Freund hier. Nenn mich Hans«, sagte der andere mit ruhiger Stimme. »Wir reden, wenn es etwas zu besprechen gibt. Und du, alter Mann, setz dich endlich wieder hin, verstanden?« Er trat einen Schritt zur Seite und sagte etwas lauter zu allen Anwesenden: »Habt ihr das gehört? Sie ist jetzt eure Sprecherin.«

Langsam ging Miriam zu ihrem Platz zurück. Enzig konnte sehen, wie die Anspannung von ihr abfiel. Er konnte auch die hasserfüllten Augen von Gert in ihrem Rücken sehen und fröstelte.

Miriam warf ihm im Vorbeigehen einen Blick zu, der vor allem Hoffnung in sich trug, doch als sie sich setzte, sah Enzig, dass ihre Hände zitterten. Sie hatte sich einem der Geiselnehmer entgegengestellt, sich damit aus der Menge herausgehoben. Dieser Gert würde sie fortan kennen und mit Argwohn betrachten.

Enzig wusste, dass es Hans war, an den er sich halten musste. Der hatte beschwichtigt und eingelenkt, er war bereit zu reden, und deshalb mussten sie mit ihm verhandeln. Noch wirkte er sehr kontrolliert, andererseits war Enzig sicher, dass Hans nicht der Drahtzieher hier war. Doch Enzig dachte noch etwas anderes, nämlich dass er den älteren Herrn auf jeden Fall im Auge behalten sollte. Und eine weitere Sache hatte er in den letzten beiden Minuten ebenfalls entschieden: Er würde Sito nicht schreiben, dass Miriam hier war. Soweit er informiert war, hatte Miriam das spontan entschieden, und für den Fall, dass Sito nicht Bescheid wusste, sollte das auch so bleiben. Auch die Geiselnehmer sollten auf keinen Fall von ihrer Verbindung zum zuständigen Hauptkommissar erfahren.

Das Smartphone in seiner Tasche fühlte sich hart und heiß an, doch das war nur Einbildung. Immerhin hatte er eine Nachricht schreiben können. Wer wusste schon, wie viele Chancen er dazu noch bekam?

***

Sibylle Hundhammer saß in ihrem Hotelzimmer und ging ihre Rede noch einmal durch. Sie hatte schon einige Reden gehalten, aber das heute war eine Nummer größer. Das Fernsehen würde sie begleiten, auch hatte sie zivilen Personenschutz. Mehrere tausend Menschen wären dabei, der Ministerpräsident wollte kommen, es war ihr großer Tag. Greta hatte ihr am Morgen schon eine Nachricht geschickt und alles Gute gewünscht. Kraft und Mut und Nachhaltigkeit in ihren Worten.

Sibylle atmete tief durch. Sie stand auf und ging zum Fenster, öffnete es und sah auf den Rhein hinaus. Ein schönes Zimmer mit Blick auf den See oder den Fluss hatte sie sich von den Veranstaltern gewünscht, etwas Kleines, nur nicht im mondänen Inselhotel, wo sie sich wie eine Betrügerin an der Sache vorgekommen wäre. Das ehemalige Dominikanerinnen-Kloster, das zum feudalen Hotel umgebaut worden war und den Blick auf die Uferpromenade bot, war kein Ort, an dem sich Sibylle auf eine Rede zur Nation über Mäßigung des Lebensstandards vorbereiten wollte.

Der Duft des Wassers tat gut, befreite ihre Lungen. Möwen flogen vorbei und kreischten. Die kleine Pension im ehemaligen Fischerviertel von Konstanz bot einen Blick auf den Rhein und die gegenüberliegende Uferseite, wo früher Fabriken die Sicht zerstörten. Heute lagen dort Die Bleiche, ein schönes Restaurant mit Biergarten am Rheinufer, die Rheinterrassen des Volksbades, der Herosé-Park und seit ein paar Jahren auch die große Wohnanlage sowie das noch junge Bodenseeforum, in dem sie heute sprechen würde. Eindrucksvoll war es schon, ob es die Stadt Konstanz wirklich zu einer Kongressstadt werden ließ, war fraglich. So viel hatte Sibylle in der Presse mitbekommen. Elf Säle konnte man mieten im Bodenseeforum, der größte bot Platz für zweitausend Personen. Dort würde sie sprechen. Es gab außerdem eine Liveschaltung in andere Säle und nach draußen, denn sie rechneten mit wesentlich mehr Menschen.

Sibylle legte den Kopf in den Nacken. Sie könnte jetzt auch wie ihre Freundinnen in einer Vorlesung sitzen. Ein Semester hatte sie in Freiburg Theaterwissenschaften studiert, dann aber feststellen müssen, dass sie nicht die innere Ruhe besaß, sich mit trockenem Lehrstoff abzugeben, während draußen aus ihrer Sicht die Welt den Bach runterging. Dieses Gefühl, das sie seit ihrer frühesten Jugend kannte, dass man doch etwas tun musste und dass es letztendlich doch darum ging, den Menschen da draußen die Augen zu öffnen, hatte sie nicht mehr losgelassen.

Sie hatte Gretas Aufstieg verfolgt, und ihre Bewunderung für die fünf Jahre jüngere Greta war unermesslich. Nicht weil sie alles einfach so hinnahm, ihre Bewunderung richtete sich vor allem an die Bereitschaft, sich aufzumachen und die eigene Komfortzone zu verlassen. Ein Jahr war es nun her, dass Sibylle ihr Studium auf Eis gelegt hatte und sich ausschließlich um die Organisation der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland kümmerte. Ihr Talent zu reden hatte sie von ihrem Vater, einem Soziologieprofessor, äußerlich war sie ihrer Mutter, einer Kinderärztin, ähnlich. Dass offenbar viele Menschen sie gern anschauten, war bei ihrer Mission nicht nötig, aber ganz sicher auch nicht schädlich.

Sie hatte selbst gestaunt, wie schnell sie zur Galionsfigur der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung geworden war.

Unten auf der Uferstraße sah sie eine kleine Gruppe Enten über den Weg watscheln. Ein Radfahrer hielt an und ließ die Gruppe passieren. Er sah zu ihr nach oben. Lachend zuckte er mit den Schultern. Die Entenmutter schnatterte ungeduldig.

Sibylle griff nach dem Band, das vor ihr auf der Fensterbank lag, und machte sich einen Pferdeschwanz. Hellblau leuchtete die Schleife in ihren dunklen langen Haaren.

***

Die Pressekonferenz war kurz und schmerzlos und hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen. Längst war landesweit über eine Eilmeldung verbreitet worden, dass sich in Konstanz an der Universität in den frühen Morgenstunden eine Geiselnahme ereignet habe. Den Kommissaren Marc Busch und Paul Sito sowie dem Polizeipräsidenten Simon Jäger blieb nur die Bestätigung des Tatbestandes. Sie versicherten, dass alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet würden, um die Geiseln nicht zu gefährden, dass ab sofort aber aus eben diesem Grund eine polizeiinterne Nachrichtensperre verhängt werde, da man nicht wisse, wie die Geiselnehmer mit der Außenwelt in Kontakt stünden. Man bitte die Presse, sich zurückzuhalten, auch wenn die Geiselnahme quasi live im Internet mitzuverfolgen sei.

 

»Denken Sie an Gladbeck«, mahnte Jäger, und Sito konnte Augenrollen im Publikum sehen. Sätze wie »Das waren andere Zeiten« und »Heute wäre das alles ganz anders« und »Überhaupt ist dieser Fall hier ohnehin schon öffentlich« standen den Anwesenden ins Gesicht geschrieben.

Derzeit sei leider nach wie vor unklar, wie viele sich an der Universität verschanzt hatten. Dafür habe die Polizei eine Hotline eingerichtet, hier könnten besorgte Menschen anrufen, wenn sie Angehörige unter den Geiseln vermuteten. Diese Bekanntgabe könne die Presse selbstverständlich immer wieder teilen. Bedauerlicherweise bestehe zum jetzigen Zeitpunkt noch völlige Unklarheit über die Forderungen. Man versprach, spätestens um zwölf Uhr eine weitere Meldung herauszugeben. Die Demonstration sowie der Klimaschutzgipfel seien nicht gefährdet, sondern schon seit Langem minutiös geplant und absolut sicher.

Noch während Jäger sprach, piepste Sitos Smartphone. Unter dem Tisch warf Sito einen flüchtigen Blick darauf, dachte, es könnte von Miriam sein, die irgendwo in Gaienhofen am Seeufer saß und womöglich noch keine Ahnung hatte, was hier bei ihnen los war. Ein schönes Foto von ihr, ein lieber Gruß, das hätte ihm auf jeden Fall Mut gemacht. Aber es war eine Nachricht von Enzig. Sito zuckte zusammen. Auf den ersten Blick konnte er nur ein Buchstabenchaos erkennen, aber sofort gab er Busch und Jäger ein Zeichen, dass sie dringend an dieser Stelle abbrechen müssten.

»Ein Notfall«, erklärte Jäger und verließ eilends den Raum, Busch und Sito folgten im Laufschritt. Um neun Uhr einundfünfzig saßen sie an Sitos Schreibtisch und studierten Enzigs Nachricht.

»Wir wissen also, dass der Kollege sein Dienst-Smartphone behalten hat. Das ist schon mal gut«, stellte Jäger fest und beugte sich über Sito.

Busch fuhr mit dem Finger die Zeilen nach. »Was könnte das heißen?«

»Ich nehme an, er hatte nicht viel Zeit«, erklärte Sito unnötigerweise und mit einem ernsten Blick auf Busch.

»Ts«, machte Busch und verdrehte die Augen, »das ist mir auch klar. Ich wollte nur sagen, dass ich es nicht lesen kann.«

»Das finden wir raus«, erklärte Jäger. »Hoffentlich kann Enzig sein Smartphone eine Weile behalten.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Sito. Er machte sich Notizen und tauschte die Buchstaben, die in der Reihe standen, sinnvoll aus und um. »Hier: Es sind sechs Geiselnehmer, und hier, das heißt sicher bewaffnet. Unklar … Was soll das heißen?«

»Anführer«, rief Jäger, der die Buchstabenkombinationen im Kopf durchgespielt hatte. Er kannte das Problem, wenn er seiner Tochter WhatsApp-Nachrichten schrieb, da kamen oft wilde Sachen heraus.

»Stimmt«, sagte Busch. »›Unklar, wer der Anführer ist‹, schreibt Enzig.« Busch richtete sich auf. »Wir haben also sechs bewaffnete Männer im Audimax und laut Sekretärin rund fünfzig Menschen. Das sind schlechte Voraussetzungen für einen Sturm.«

»Absolut«, ereiferte sich der Polizeipräsident, »aber so weit sind wir auch noch lange nicht.«

»Ich hab nur laut gedacht«, sagte Busch. »Wir müssen alles durchspielen.«

»Ich weiß.« Jäger schnaufte schwer, dann nickte er. »Sie haben vollkommen recht. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Wir werden auf jeden Fall auch einen Plan ausarbeiten. Für einen Sturm, meine ich. Hatten Sie schon Kontakt mit dem SEK? Wer ist denn der Einsatzleiter heute?«

Sito nickte. »Georg Moller. Ich hab mit ihm telefoniert, er hat bereits alles, was er braucht – Baupläne, Infos von Zimmermann aus dem Netz. Sie arbeiten bereits an den möglichen Szenarien. Aber wir haben jetzt einen Mann inside, das könnte uns einen Vorsprung verschaffen.«

Jäger stemmte die Hände in die Hüften. »Er riskiert sein Leben.«

»Ich weiß«, sagte Sito. Er hoffte, dass dieser Mann inside cool genug war für diese Aufgabe. Er wusste, dass Enzig klar sein würde, worauf es ankam, aber er wusste eben auch, dass Enzig nicht der nervenstärkste Kollege war, eigentlich besaß er überhaupt keine Nerven. Am besten war er, wenn er allein an seinem Schreibtisch denken und arbeiten konnte, dann war er wirklich überragend, aber so? Sito rieb sich das Kinn. Er spürte einen unangenehmen Druck in der Magengegend.

»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?« Busch legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Sito sah nach oben und hob die linke Augenbraue. »Roman ist nicht gerade –«, begann er.

»Hören Sie, haben wir irgendeine Möglichkeit, mit einer Drohne in die Universität zu gelangen? Irgendein Zugang für eine Kamera?«, fragte Jäger. »Ich will wissen, was da vor sich geht. Und für den Fall, dass wir stürmen –«

Sito drehte sich in seinem Schreibtischstuhl um und sah zu Jäger auf. »Sie sprechen jetzt doch schon vom Ernstfall?«

Jäger nickte. »Sie wissen, dass das hier keine normale Geiselnahme ist. Die werden nicht gleich ein wenig Geld und ein Fluchtauto fordern.« Er kramte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch und schnäuzte. »Und ich will nur gute Vorarbeit geleistet haben, wenn das SEK hier eintrifft. Lang wird es nicht mehr dauern, oder?«

Sito sah zur Uhr und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben vollkommen recht. Es geht sicher nicht um Geld.« Er stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee. »Ich hab mit Moller schon gesprochen wegen der Drohne. Die Möglichkeit besteht natürlich, aber noch nicht jetzt. Der Einsatzleiter vom SEK hat eindeutig davon abgeraten, vor der ersten Forderung hier aktiv zu werden. Wir müssen erst wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

»Ja, verstehe.« Jägers Atem klang rasselnd.

Ein Klingelton verkündete eine weitere Nachricht. Sie sahen alle gleichzeitig auf das Smartphone von Sito, das mitten auf dem Tisch lag. »Roman Enzig«, stand da. Sito ballte kurz die Fäuste. Er wusste, dass er ab jetzt bei jedem Klingeln seines Handys zusammenzucken würde, immer mit dem Gefühl, Roman sei aufgeflogen. Die neue Nachricht von Enzig war schon klarer verfasst: »Ein Geiselnehmker nent sic Hnas. Mitihn kannman reden. Ein alter Mann ist hier. Merkwürddg. Passt niht dazzzu.«

Sito sah von Jäger zu Busch.

»Das war schnell«, sagte Busch anerkennend.

5

10 Uhr bis 11 Uhr

Der Blick aus dem Fenster auf den Rhein war ihr nicht mehr genug. Fast kam es ihr so vor, als sei das Zimmer in der Pension kleiner geworden. Sie sah noch einmal nach unten auf den Uferweg, grinste und entschied sich für die Freiheit. Schnell packte Sibylle ihre Geldbörse, eine Packung Taschentücher und ein Buch ein. Sie würde gewiss keine Ruhe finden zum Lesen, aber es vermittelte ihr ein Gefühl von Normalität.

Mit einer dünnen Jacke schlenderte sie am Schänzle entlang, betrachtete die Möwen und Enten zwischen all den Booten auf dem Rhein. Ein paar Radler kamen ihr entgegen, auch zwei Mütter mit Kinderwagen. Dass sie ohne ihre Sicherheitsleute unterwegs sein wollte, war vielleicht leichtsinnig, aber notwendig, das spürte sie schon nach wenigen hundert Metern – sofort waren ihre Schultern entspannter. Sie wusste, dass dieser Tag mit der TV-Übertragung des Events und ihrer Rede ihr Leben wieder etwas mehr verändern würde.

Noch war es ruhig. Auf der Rheinbrücke für Radler und Fußgänger allerdings kamen ihr schon wesentlich mehr Leute entgegen. Sie zögerte und fragte sich, ob sie gerade das Richtige tat. Aber es waren alles junge Leute mit Rucksäcken und Umhängetaschen in Gepäckträgern. Gewiss waren die meisten Studenten unterwegs zur Fachhochschule, die in dem Stadtteil mit dem schönen Namen Paradies lag. Die FH befand sich in den Gebäuden eines ehemaligen Schlachthauses. Als Sibylle das bei einer Studentenparty mitbekommen hatte – im Eingangsbereich hingen immer noch Fotos aus der Zeit –, war sie tief schockiert gewesen. Sie glaubte nicht an Seelenwanderung, wohl aber daran, dass gequälte Seelen einen Raum prägten. Doch es kam noch schlimmer: Bis in die neunziger Jahre war die FH nur in eine Hälfte der Gebäude gezogen, in der anderen wurde nach wie vor geschlachtet. Die Studenten jedoch hatten sich beschwert, dass man im Sommer das Fenster nicht öffnen könne, weil man dann das panische Schreien der Tiere höre. Ihre Todesangst. Wie sollte man da lernen?

Die Radbrücke, auf der täglich bis zu fünfzehntausend Radler unterwegs waren, mündete genau in den Herosé-Park, ein ehemaliges Firmengelände. Bis 2000 wurden hier Textilien veredelt. Das Wissen huschte an Sibylle vorbei, stolperte aber über ihre innere Unruhe.

Im Park angekommen, hielt sie inne. Sie tastete nach dem Buch in ihrer Tasche. Es war tatsächlich gut, es dabeizuhaben. Sie sah in beide Richtungen, unschlüssig, wohin sie gehen sollte. Rechts lag die Villa Rheinburg, irgendwo auch das Rheinstrandbad. Sibylle entschied sich für die andere Seite. Sie ging auf den breiten Wegen nach Westen in Richtung der Villa Schneckenburg. Die Bäume säumten den Weg am Rhein entlang und leuchteten goldgelb um die Wette. Am Boden lagen die bunten Blätter, die sich vom Sommer verabschiedet hatten. Ihre zarten Adern waren wie filigrane Kunstwerke überall verteilt. Zwei Birken hatten sich einander zugewandt, es sah aus, als wollten sie tanzen.

Sibylle genoss die Ruhe, die von der Allee ausging. Niemand würde sie hier ansprechen. Sie setzte sich auf eine der Bänke und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Nach einigen Minuten fühlte sie sich einigermaßen entspannt. Sie nahm sogar das Buch aus ihrer Tasche und schlug es auf. Nach ein paar Zeilen jedoch legte sie es neben sich auf die Bank und genoss einfach den Ausblick.

Sie war in Konstanz aufgewachsen, und doch kam ihr der Ort in diesem Moment vollkommen neu vor, als würde er sich mit ihr verändern. Sibylle wusste, dass sie Angst hatte. Weniger vor denjenigen, die ihren Hass laut herausriefen, als vor denjenigen, die ihr ins Gesicht lächelten, ihr die Hand reichten und viel Glück wünschten, insgeheim aber gewiss das Gegenteil hofften. Sie waren überall und doch unsichtbar. Sie schüttelte den Kopf, dann hörte sie ihren Magen knurren.

Der Ebertplatz war nicht weit entfernt, dort gab es ein vegetarisches Restaurant. Mit schnellen Schritten lief sie durch den Park und stand wenig später vor dem imposanten Gebäude mit halbrunden großen Fenstern, einem Erkerturm und schönen Voluten in der Fassade. Sibylle sah hinein. Der rote Schriftzug vom Fenster wiederholte sich in einzelnen roten Hockern und Kissen, das gefiel ihr. Die Aussicht, jetzt zur Stärkung einen Kaffee zu genießen und – sie sah auf die Speisekarte – ein Panini mit Auberginencreme, bestätigte ihr, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Sie hatte in den letzten Wochen so viel über ihre eigene Sicherheit nachgedacht, über das Leben, das sie eigentlich führen wollte, über Mut und Zuversicht, dass sie jetzt froh war, endlich einmal wieder allein unterwegs zu sein.

Sie wollte gerade hineingehen, als sie die beiden roten Busse der Linie 9 entdeckte. Sie fuhren hintereinander, ruckartig, irgendwie auffällig. Voll besetzt kamen sie an ihr vorbei in Richtung Sternenplatz, um wenig später zum Benediktinerplatz abzubiegen. Kamen die nicht von der Universität?

Sie hatte von dem Überfall gehört, davon, dass fünfzig Menschen in der Gewalt von Geiselnehmern waren und man noch nicht wusste, wie viele Menschen sich sonst noch an der Universität aufhielten. Der Busverkehr war offiziell eingestellt, aber woher kamen diese Busse, wenn nicht von der Universität? Sibylle spürte die Gänsehaut auf ihrem Rücken. Die Gleichzeitigkeit machte ihr nicht zum ersten Mal Angst und jetzt auch ein schlechtes Gewissen. Während sie hier über ein spätes Frühstück nachdachte, waren knapp zwei Kilometer weiter Menschen in Lebensgefahr. Schlagartig verlor sich das Gefühl von Freiheit. Umgehend suchte sie nach ihrem Handy, um ihren Personenschützer, Otto Behringer, anzurufen. Während sie wartete, fiel ihr auf, dass sie ihr Buch auf der Parkbank vergessen hatte – der kurze Anflug von Normalität war buchstäblich verloren gegangen.

***

Während Busch sich bemühte, Zugriff auf die Kameras der Verkehrsüberwachung rund um die Universität zu erlangen, saß Sito an seinem Schreibtisch und suchte nach Enzigs letzten Fällen. Gab es vielleicht doch einen persönlichen Zusammenhang? Was hatte es mit diesem älteren Herrn auf sich? Wenn Enzig es für so wichtig hielt, dann war es mehr als ein merkwürdiges Gefühl – mindestens Intuition, vielleicht sogar ein konkreter Verdacht.

 

Sito überprüfte die Werbung, die für den Kurs gelaufen war. Es war eine öffentliche Veranstaltung, nicht nur für Studenten. Die Sekretärin hätte weiterhelfen können, aber es gab keine Verbindung mehr zur Universität. Die Beamten, die versucht hatten, sich über den Wald oberhalb der Mainau nach oben zu arbeiten, hatten noch keine brauchbaren Hinweise. Am Eingang hatten sie einen bewaffneten Mann gesehen, damit stieg die Zahl der Geiselnehmer auf sieben, und dass am Haupteingang ebenfalls Männer standen, daran hatte Sito keinen Zweifel. Welche Gruppe konnte im Stillen einen solch großen Einsatz planen?

Er rief bei Zimmermann an und teilte ihm die Neuigkeiten mit, während er zu dem Foto von Miriam auf seinem Schreibtisch blickte. Die Glückliche saß irgendwo in Gaienhofen.

»Wir haben weitere Waffenkäufe im Darknet gefunden«, erzählte Zimmermann. »Mit Modellbezeichnung. Wir glauben, einen Verkäufer zu kennen, allerdings kollidiert diese Info mit einer lang angelegten Beobachtung von Waffenhändlern. Das wird noch nicht freigegeben.«

»Himmel«, rief Sito aus, »da geht es um über fünfzig Menschenleben!«

»Im anderen Fall vielleicht um viel mehr. Paul, schimpf nicht auf mich, ich bin nur der Bote. Ich schau, was ich tun kann. Ich hab die Kollegen aus München und Duisburg an der Strippe. Kann Enzig vielleicht ein Modell benennen?«

»Er weiß, worauf es ankommt. Wenn er was Neues hat, dann schreibt er uns, da bin ich sicher«, erklärte Sito.

»Du willst ihm keine Infos zukommen lassen? Ich würde das versuchen.«

Sito tippte auf seinen Schreibtisch. »Ich bin unschlüssig, was, wenn er sein Handy nicht auf lautlos gestellt hat?«

Am anderen Ende hörte er Zimmermanns Finger knacken. »Unterschätz ihn nicht.« Ein Räuspern übertönte das erneute Knacken. »Nein, Quatsch, Paul. Enzig war dort für einen Vortrag! Der hatte sein Handy auf jeden Fall aus. Schreib ihm zurück. Er muss wissen, dass wir seine Nachrichten lesen.«

Sito nickte. »Du hast recht. Ich werde ihm schreiben. Unter uns, Karl: Du gehst nach wie vor davon aus, dass eine rechtsradikale Gruppierung für die Geiselnahme verantwortlich ist, nicht wahr?«

Zimmermann blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich wurde Sitos Zimmertür aufgestoßen, und Rosa stürmte herein. »Unten sind zwei Busse. Wir sollen sofort …« Sie stand im Raum, plötzlich wie eingefroren mitten in der Bewegung. Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen, und Rosa fuhr sich mehrmals nervös durch die Haare.

Sito sprang auf und rannte zum Fenster. Da standen zwei rote Busse der Neuner-Linie von der Universität. Innerlich schlug Sito sich gegen die Stirn. Sie wussten doch, dass Busse unterwegs waren. Sie hatten die Linie zwar gestoppt, aber da hätte doch bereits klar sein müssen, dass noch welche an der Universität standen. Der Takt der Busse, die Vorgabe für die Straßensperren, sie hatten sich ein Schlupfloch gelassen … »Himmel, weshalb haben wir daran nicht gedacht?«

»Paul, kommst du?«

Sito drehte sich zur Tür. Neben Rosa stand nun auch Marc Busch. Im selben Moment ertönte der interne Alarm.

»Was wissen wir?«, fragte Sito und folgte im Laufschritt Busch und Rosa nach draußen auf den Flur. Rosa ging zurück in ihr Büro und telefonierte mit den städtischen Krankenhäusern, damit die sich für den Ernstfall rüsteten.

»Nichts«, rief Busch über die Schulter. »Wir wissen nichts«, seine Stimme überschlug sich. »Wir wissen nur, dass da draußen zwei Busse voll mit Menschen stehen.«

»Voll?«

»Sieht – so – aus.« Buschs Worte kamen stoßweise, während er immer zwei Stufen auf einmal nahm.

Sie rannten durch die Eingangshalle auf das Hauptportal zu. Zahlreiche Kollegen waren dort bereits versammelt. Sito wagte kaum zu atmen.

***

Die Busse standen nebeneinander wie dampfende Tiere, lauernd. Der Motor aus, die Menschen darin starr. Sito und Busch liefen langsam nach draußen. Sito hatte ein Megafon in der Hand und bat die Menschen, mit erhobenen Händen auszusteigen. Nichts passierte. Er sah zu Busch, dessen Mundwinkel zuckten. Er rieb sich mit der linken Hand über das Gesicht, seine Stirn legte sich in Falten.

»Was sollen wir machen?«, fragte Sito leise. »Kommen Sie mit erhobenen Händen langsam aus dem Bus«, rief er noch einmal durch das Megafon, sah zu Jäger, der seine linke Hand mit der rechten festhielt.

»Wenn es nun trojanische Pferde sind?«, murmelte Busch, und Sito wusste sofort, worauf er hinauswollte.

»Wir holen uns den Feind ins Haus.«

Plötzlich kam Bewegung in den ersten Bus. Die Tür wurde geöffnet, und der Busfahrer erhob sich, ein Smartphone in der Hand. »Nicht schießen«, rief er nach draußen, seine Stimme überschlug sich fast.

Sito sah, dass er durchgeschwitzt war, die Ränder unter den Armen reichten bis zum Hosenansatz. Die Haare klebten am Kopf. Die verfügbaren Polizisten hatten sich um die Busse postiert.

»Wir dürfen aussteigen«, sagte der Busfahrer und wedelte mit dem Smartphone.

»Kommen Sie langsam heraus«, rief Sito und sah, dass alle um ihn herum in Alarmbereitschaft waren, die Polizisten hielten die Waffen schussbereit.

Die Menschen im Bus standen alle, sie drängten zu den Türen. Der Busfahrer hob seine Hände, trat langsam aus dem Bus und stieg die Treppen nach unten. Sein Gang war wacklig, als gehörten seine Beine nicht zu seinem Körper. Als er unten ankam, sackte er in sich zusammen. Hinter ihm kamen die anderen Insassen. Auch sie wirkten allesamt apathisch. Ängstlich sahen sie sich um und betraten vorsichtig die Treppen aus dem Bus ins Freie.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, raunte Sito zu Busch und gab den Einsatzkräften ein Zeichen, dass sie vorrücken sollten.

Allmählich kamen immer mehr Menschen aus dem Bus, es wurde unübersichtlich. Sito versuchte, den Überblick zu behalten, beobachtete die Personen, versuchte, sich einzuprägen, wie sie reagierten auf die gewonnene Freiheit. Busch lief langsam auf die Gruppe zu. Einer hatte dem Busfahrer zwar aufgeholfen, aber andere waren ebenfalls gestürzt. Gerade stieg der letzte sichtbare Fahrgast aus dem Bus.

»Was ist mit dem zweiten Bus?«, sagte Sito laut vor sich hin. »Was ist mit dem zweiten?«, wiederholte er. Die Gruppe wurde umringt von Polizisten und zum Gebäude geführt. »Was ist mit dem zweiten Bus?«, schrie Sito. Er beobachtete die Szene, starrte zum zweiten Bus, der nach wie vor einfach nur dastand. Die Menschen klopften gegen die Scheiben, als würden sie um Hilfe rufen, sie hielten sich die Hände vors Gesicht, und Sito meinte, einige weinen zu sehen.

Busch kam zu ihm. »Was ist da los?«

Beide starrten sie gebannt auf die Tür, doch nichts regte sich. Der Busfahrer hatte den Kopf sinken lassen. Sitos Blick wanderte zurück zum ersten Bus. Er rief sich den Busfahrer in Erinnerung, wie er, das Smartphone noch am Ohr, die Tür öffnete. »Wir dürfen aussteigen«, wiederholte er leise, was der Busfahrer gesagt hatte. »Wir dürfen aussteigen.« In Bruchteilen einer Sekunde traf es Sito wie ein Blitz.

»Weg von dem Bus!«, schrie er durchs Megafon. Busch reagierte sofort. Er trieb die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung an, sich schneller zum Gebäude zu bewegen, seine Kollegen folgten ihnen, und plötzlich waren rund hundert Menschen auf der Flucht in Richtung Präsidium. Sie gingen in Deckung und warteten. Sito hatte sich mit Busch hinter einem Wagen verschanzt und beobachtete die düstere Szenerie. Die Menschen in dem zweiten Bus sahen aus den Fenstern, einige klopften noch immer. Gedämpfte Hilferufe drangen nach außen. Sekunden verrannen, nichts passierte. Sekunden, Atemzüge, Schluchzen im Hintergrund, nichts passierte.