Bin ich mein Gehirn?

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»Und Sie schließen daraus, dass die Kinder Kategorien unterscheiden können. Aber vermutlich wissen sie nicht, dass sie Kategorien unterscheiden.«

»In mehreren Experimenten haben wir verschiedene typische Reaktionen auf Gegenstände, Tiere und Menschen aufgezeichnet, und auf Männer und Frauen, die ein Bewusstsein für unterschiedliche Kategorien nahelegen. Und zwar schon in einem früheren Alter, als man zuvor angenommen hatte. Daher handelt es sich hier um bahnbrechende Erkenntnisse.«

»Könnte es nicht einfach so sein, dass Männer und Frauen und Tiere verschieden sind und deshalb unterschiedliche Reaktionen auslösen, ohne dass das Kind dafür Kategorien erschaffen muss?«

»Es ist aber so, dass diese unterschiedlichen Reaktionen im Alter von zum Beispiel sechs Monaten nicht auftreten. Da unterscheidet das Baby nicht. In diesen drei Monaten hat sich also etwas verändert, und jetzt reagiert das Kind auf männliche und weibliche Gesichter mit unterschiedlicher Intensität.«

»Wenn Sie es dazu bringen können, sich auf die Fotos zu konzentrieren.«

»Genau.«

Um die Stimmung locker zu halten, bemerke ich, dass ich oft selbst Schwierigkeiten hätte, Männer und Frauen voneinander zu unterscheiden.

Professor Pauen lacht und stimmt mir zu. Sie erklärt, dass die Fotos, ehe sie den Kindern gezeigt werden, von einer Reihe von Psychologiestudenten betrachtet werden, die sie in feminin und maskulin einstufen; alle uneindeutigen oder androgyn wirkenden Gesichter werden aussortiert.

»Sind sich die Studenten in ihrer Einstufung einig?«

»Meistens ja.«

»Dann unterscheiden die Babys im Grunde gar nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen einer kulturellen Norm von Weiblichkeit und Männlichkeit, die eine Gruppe von Psychologiestudenten festgelegt hat.«

»Stimmt, es kommt uns nicht darauf an, ob ein Baby einen Transvestiten von einer Frau unterscheiden könnte, sondern ob die Kinder mithilfe der Erfahrungen in ihrem Umfeld ein allgemeines Konzept von Frauen und Männern entwickelt haben. Deshalb arbeiten wir bei diesem speziellen Experiment auch mit kaukasischen Gesichtern, das heißt mit Gesichtern, die den gleichen ethnischen Hintergrund haben wie die Familien der Babys. Wir wollen nur herausfinden, wann Babys sich dieser Kategorien bewusst werden, und da sie nicht sprechen können, bestimmen wir es anhand ihrer neurologischen Reaktion auf die Gesichter. Wir möchten außerdem wissen, ob sie ein Gesicht wiedererkennen, das heißt, ob sie wissen, dass sie es schon einmal gesehen haben. Und alle Versuche lassen anhand der verminderten Stärke der Gehirnwellenreaktionen beim zweiten Anschauen vermuten, dass sie das Gesicht tatsächlich wiedererkennen, dass sie sozusagen schon an es gewöhnt sind.«

»Aber bedeutet Wiedererkennen, dass sich das Gehirn verändert hat? Dass die kurze Betrachtung eines Gesichts etwas im Gehirn verschoben hat und es deshalb beim zweiten Mal anders reagiert?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja. Darin zeigt sich die unglaubliche Plastizität des Gehirns. Es hat sich angepasst, damit es weiß, dass es das Gesicht schon einmal gesehen hat.«

»Aber weiß das Kind es? Ich meine, das Gehirn des Babys reagiert anders, aber ist dem Baby bewusst, dass es dieses Gesicht schon einmal gesehen hat und dass es jetzt anders reagiert?«

»Die Frage hat mir noch nie jemand gestellt«, sagt sie. Sie überlegt. »Wir nehmen es an, ja. In gewisser Hinsicht.«

»Okay, und würden Sie sagen, dass Wiedererkennen das Gleiche ist wie Erinnern? Ist es irgendwo ›gespeichert‹?«

»Wir können wirklich nicht sagen, ob das Baby eine spontane Erinnerung an das Gesicht erlebt.«

»Und Sie wissen auch nicht, warum Sie den Wiedererkennungseffekt bei weiblichen, aber nicht bei männlichen Gesichtern feststellen.«

»In diesem Alter. Das sollte ich betonen. Ein paar Monate später reagieren die Kinder auch auf männliche Gesichter mit Wiedererkennung. Aber nein. Wir können nur spekulieren, dass ihnen weibliche Gesichter in dem Alter einfach vertrauter sind, da die Welt der Babys hauptsächlich aus Frauen besteht und sie daher ein weibliches Gesicht schneller …«

»… verschlüsseln und eine Repräsentation erstellen.«

Sie lacht.

Ich stelle die allgemeinere Frage, wie die Eltern der Babys das Experiment und sie sehen. Ist es nicht ein bestimmter Elterntypus, der ein Kind hierherbringt, obwohl es dafür kein Geld gibt? Hoffen die Eltern nicht vielleicht, dass ihr Kind der Konkurrenz voraus ist? Oder ihr voraus sein wird? Beeinflusst das nicht das Testergebnis? Was, wenn die Kinder sich gar nicht für die Fotos interessieren?

»Oh, sie sind sehr oft kein bisschen interessiert!«

Es scheint öfter vorzukommen, dass Pauens Team ein Kind nach Hause schicken muss, ehe das Experiment abgeschlossen ist.

»Es geht aber darum, dass wir, wenn wir zwanzig oder dreißig Testergebnisse bekommen, die alle in die gleiche Richtung weisen, nachdem wir die Ergebnisse durchgerechnet haben, eine Studie veröffentlichen können, in der wir sagen, in diesem Alter unterscheiden Babys A von B.«

»Diejenigen, die den Test nicht abgeschlossen haben, tun das womöglich aber nicht.«

»Womöglich nicht, nein. Aber das Wichtige ist die Feststellung, dass einige es tun, selbst in diesem frühen Alter.«

»Wozu ist all das letztendlich gut?«

Die Aufgabe, »ein Interview zu führen«, zwingt einen, solche Fragen zu stellen. Mir ist schon während ich frage klar, dass mich die Antwort eigentlich nicht interessiert, sondern nur, wie Pauen die Frage einordnen wird, obwohl keines meiner Anliegen – weder die offizielle Frage »Ersetzt die Wissenschaft die Religion?« noch die inoffiziell verfolgte Frage »Was ist das Wesen des Bewusstseins?« – es erforderlich macht, Pauen auf diese Weise zu testen oder darüber nachzudenken, wie gut ihre Forschungsgelder angelegt sind. Ich lasse mich hier also von einer gewissen kulturellen Trägheit ablenken: Dies ist die Art von Frage, die ein potenziell empörter Vertreter der Öffentlichkeit einem Wissenschaftler stellen könnte.

»Das ist ein heikles Thema«, gibt Pauen zu und schaltet ebenfalls sofort auf Autopilot, erkennt und kategorisiert meine Frage, genau wie ihre Babys männliche und weibliche Gesichter erkennen und zuordnen. Etwas in ihrem Gehirn war darauf vorbereitet; sie hat das schon erlebt. Sie persönlich, sagt sie, empfinde ihre Arbeit als reine Forschung, sie verfolge keine Ziele jenseits der Bestätigung gewisser Hypothesen und der Veröffentlichung entsprechender Studien. Andererseits fragten die Leute sie immer wieder nach praktischen Anwendungsmöglichkeiten, und wenn ihr Team sich um Forschungsgelder bewerbe, sei es natürlich verlockend, einen direkten praktischen Nutzen der Forschungsergebnisse in Aussicht zu stellen, denn damit lie-ßen sich die hohen Kosten wesentlich leichter rechtfertigen.

»Ich schätze«, fasst sie zaghaft zusammen, »wenn wir feststellen können, wie die normale kindliche Entwicklung abläuft, in welchem Alter Kinder zwischen A und B unterscheiden, in welchem Alter sie lernen, dieses oder jenes Werkzeug zu benutzen, oder zum Beispiel zwischen einer funktionalen Eigenschaft eines Werkzeugs, wie seiner Länge oder seiner Form, und einer anderen zwar reizvollen, aber nichtfunktionalen Eigenschaft wie seiner Farbe zu unterscheiden, dann können wir sagen, ob ein bestimmtes Kind sich mehr oder weniger innerhalb der Norm bewegt, und wo jedes Kind in einem bestimmten Alter in der kognitiven Entwicklung stehen sollte, und wenn wir wollten, könnten wir aus diesen Erkenntnissen pädagogische Aktivitäten entwickeln, um die Kinder im richtigen Moment in die richtige Richtung zu lenken. Wir könnten ihre Entwicklung ein bisschen unterstützen.«

»Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie besorgte Eltern noch darin bestärken, übertrieben viel Aufhebens zu machen? Wie macht sich mein Baby, wie kann ich es in seiner Entwicklung maximal fördern?«

»Das wäre natürlich zu bedenken«, sagt sie lachend, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich sie mag.

»Übrigens«, sage ich zu ihr, »die Texte sind in ausgezeichnetem Englisch geschrieben. Ist es schwierig, auf Deutsch zu forschen und dann alles in Englische übertragen zu müssen?«

Seltsamerweise entpuppt sich dieses Kompliment, geboren aus dem Gefühl, dass ich Sabina Pauen mag und ihr gerne etwas Nettes sagen möchte, als meine lohnendste Frage bisher. Das Sprachproblem spiele eine große Rolle, sagt sie, vor allem wenn man etwas veröffentlichen möchte, das den sogenannten herrschenden Erkenntnissen vollkommen zuwiderläuft. Zum Beispiel behaupten sie und ihr Team Dinge über neun Monate alte Babys, die zuvor nur für ältere Kinder galten, nämlich dass sie schon vor dem Spracherwerb Kategorien unterscheiden können, was bedeutet, dass das Konzept der Kategorie auch ohne Sprache schon möglich ist. Eine Aussage, die viele anfechten.

»Wenn man Ergebnisse wie diese erzielt, stößt man auf Widerstand seitens der Gutachter, die die Studien lesen, das sind Leute, die sich womöglich einen Namen damit gemacht haben, etwas anderes zu behaupten, oder die einfach ihr Leben lang etwas anderes gelehrt haben. Sie wollen nichts wissen von Forschungsergebnissen, die ihnen zeigen, dass sie sich geirrt haben. Also behaupten sie, Ihr English sei schlecht und Ihr Artikel könne so nicht veröffentlicht werden. Oft denke ich, da wird eine leicht inkorrekte Sprache mit Dummheit gleichgesetzt.«

Das ist definitiv eine Reaktion, die ich in meinen ersten Jahren in Italien selbst kennengelernt habe.

»Die Wissenschaft hat also auch eine orthodoxe, konservative, dogmatische Seite?«

»O ja, auf jeden Fall.«

»Und in dieser Hinsicht gleicht sie tatsächlich einer Religion. Sie will nicht, dass ihr Glaube infrage gestellt wird.«

 

»Vermutlich, ja. Obwohl die wissenschaftliche Methodik vorschreibt, dass alle Fakten durch Experimente überprüfbar sein müssen, die beweisen könnten, dass sie falsch sind. Sie müssen widerlegbar sein, so sagt man, anfechtbar. Manchmal haben wir Studien mit aufregenden Ergebnissen rausgeschickt, die wir für absolut wasserdicht hielten, und sie wurden uns mit Kommentaren zur englischen Sprache zurückgeschickt. Daher ist es wohl ermutigend, aber zugleich auch deprimierend, dass Sie, ein Schriftsteller und Übersetzer, mir sagen, das Englisch sei ausgezeichnet.«

»Ja, es ist gut. Ich hatte absolut kein Problem damit.«

Es gibt keinen besseren Weg, Freundschaft zu schließen, als dem anderen die Möglichkeit zu geben, seinem Unmut Luft zu machen, und dann zuzustimmen, dass er oder sie schlecht behandelt worden ist. »Ich habe einen Freund«, fange ich an, »der jedes Mal wie ein Wahnsinniger darum kämpfen muss, dass seine Sachen veröffent licht werden.«

Aber ehe ich mir anschaue, wie sie auf Riccardos ernstlich radikale Ideen reagiert, denke ich, es könnte klug sein, sie zum Mittagessen einzuladen. Sie nimmt sofort an.

KEINE BILDER

»Es gibt keine Bilder!«

Damals fiel mir Riccardo Manzotti zum ersten Mal auf. Er war im Publikum, stand auf und sagte diesen Satz, auf Englisch, mit viel Nachdruck und einem starken italienischen Akzent.

Das war im September 2009, auf einer Konferenz über Kunst und Neurowissenschaft an meiner Uni in Mailand, einem von diesen Foren, zu denen Leute aus unterschiedlichen Forschungsbereichen eingeladen werden, um die Detailstudien ihrer jeweiligen Disziplin vorübergehend außer Acht zu lassen und ihre Arbeit in den allgemeineren Kontext menschlicher Erfahrung zu stellen. Der offizielle Titel, »Neuro-Ästhetik: Wenn Kunst und Gehirn kollidieren«, klang nicht direkt vielversprechend. Vielleicht lag es daran, dass die Stimmung ungewöhnlich an gespannt war; die Kunsthistoriker und Kritiker waren besorgt, dass sie den Wissenschaftsjargon nicht verstehen würden, die Wissenschaftler fürchteten, ihre Arbeit könne allzu nüchtern und starrsinnig wirken.

Von meinem Institutsleiter zwangsverpflichtet, brachte ich einen Beitrag zum Thema »Die Substanz der Wörter« ein, in dem ich mich damit beschäftigte, wie schwierig es ist, sich überhaupt vorzustellen, auf welche Weise die Sprache dem Gehirn und dem Körper sozusagen anhaften und dadurch zu einem realen Teil unserer physischen Erfahrung werden könnte. Im Allgemeinen, argumentierte ich, schien die Sprache dazu berufen, eine separate Welt aufzubauen, indem sie uns aufforderte, uns von der Welt zugleich zu abstrahieren und mit ihr zu verknüpfen, uns in einem Umfeld aus Wörtern, Rhythmen und Syntax zu bewegen, und unsere Erfahrung in zwei Kategorien aufzuteilen, einerseits die geistige, andererseits die körperliche.

Insbesondere hatten wir, nachdem wir alles, was wir sehen und anfassen konnten – Vögel und Säugetiere, Steine und Bäume, Alltagsgegenstände –, und dann auch alles, was wir als Emotionen erlebten – Angst, Hoffnung, Glück, Trauer –, mit Wörtern belegt hatten, uns auch noch angewöhnt, Wörter für Dinge zu erfinden, die wir weder je gesehen noch je gefühlt hatten, von denen wir aber gerne glauben wollten, dass sie trotzdem existierten: Engel, Teufel, Feen, Gott. Das Ich war auch eines dieser erfundenen Wörter, erklärte ich, eine Entität, die niemand je wirklich bezeugt oder erfasst hatte, und »Identität«, »Persönlichkeit«, »Charakter«, »Seele« gehörten ebenfalls in diese Reihe – je mehr Wörter man dafür hat, desto glaubwürdiger wird die Schimäre –, und so war die Illusion entstanden, dass wir als moderne Individuen irgendwie von der physischen Welt getrennt existierten, dass wir nicht dem beständigen Wandel unterworfen waren, dem alle Phänomene um uns herum unterliegen, sondern uns auf einem Strahl von Wörtern durch die Zeit projizieren konnten. Identität war also, kurz gesagt, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählten; Sprache und Wörter bildeten dabei eine enge Allianz mit der internalistischen, kartesianischen Sicht auf die Wirklichkeit: Erfahrung gab es nur in unserem Kopf, wo wir mit uns selbst sprachen, uns im Grunde erst ins Dasein hineinredeten.

Der Vortrag brachte mir zaghaften Applaus ein, aber dann stellte sich heraus, dass sich keiner der anwesenden Neurowissenschaftler mit Sprache, mit Gedichten oder Romanen, beschäftigt hatte und daher niemand etwas zu dem Thema sagen konnte. Die Anwesenden waren mit dem Visuellen befasst, vor allem mit den Reaktionen des Gehirns auf Gemälde und Skulpturen. Star der Show war Semir Zeki, Professor für Neuroästhetik (ein von ihm selbst geprägter Begriff) am University College London. In seinem Vortrag, voller PowerPoint-Bilder, welche komplexe grafische Darstellungen neurologischer Vorgänge und undeutliche Abbildungen unseres Gehirns zeigten, konzentrierte er sich auf die Frage, wie wir auf Ambiguität reagieren, eine Qualität, die für ihn den Kern der ästhetischen Erfahrung darstellt. Einer Gruppe von Freiwilligen war die rubinsche Vase gezeigt worden – das Schwarz-Weiß-Bild, das sowohl aussieht wie eine Vase als auch wie zwei Gesichter im Profil, deren Nasen sich beinahe berühren.


Während die Freiwilligen es sich ansahen, zeichneten die üblichen ausgefeilten technischen Geräte die Aktivität in den verschiedenen Zonen ihrer Gehirne auf. Und tatsächlich sprang die Hirnaktivität der Betrachter, während sie versuchten festzustellen, was sie da sahen, eine Vase oder zwei Gesichter, hin und her zwischen zwei verschiedenen Bereichen im Gyrus fusiformis (der sich im unteren Teil des Gehirns befindet), nämlich den Bereichen, die man seit Langem mit Objektwahrnehmung und Gesichtserkennung in Zusammenhang bringt. Das zeige, sagte Zeki, dass ästhetischen Reaktionen neurologische Vorgänge zugrunde lagen und Künstler in gewisser Hinsicht auch Neurologen waren, die die Möglichkeiten des Gehirns zur Produktion visueller Erfahrungen ausloteten und uns herausforderten, immer subtiler auf unsere komplexe Umgebung zu reagieren. Kunst trug also zu unserem Evolutionsprozess bei, ja sie war sogar Teil davon.

»Professor Zeki«, warf ein gewisser Ron Chrisley, Experte für künstliche Intelligenz, ein, als der Redner zurück an seinen Platz ging, »wenn Sie mir erklären, welche Schaltkreise eines Computers aktiv sind, wenn dessen Schachprogramm den Springer auf c3 zieht, dann haben Sie mir nicht sehr viel über Schach erzählt, oder?«

Noch Jahre später erinnere ich mich daran, wie sehr mich dieser Einwand begeisterte. Allein schon die Furchtlosigkeit des Mannes, die Tatsache, dass er absolut unbeeindruckt war von den Befunden all dieser klugen Geräte. Aber mehr noch die offensichtliche Feststellung, dass zwischen dem subjektiven Erleben des visuellen Rätsels, das man den freiwilligen Testpersonen gezeigt hatte – die beiden Gesichter, die Vase –, und der Aufzeichnung elektrischer Impulse in diesem oder jenem Bereich ihrer Gehirne ein Abgrund klaffte. Wie konnte man sagen, das Erleben sei von dieser Aktivität verursacht worden, oder irgendwie aus ihr entstanden, oder sei gar selbst diese Aktivität, nur weil diese Aktivität stattfand? Schließlich war noch alles mögliche andere im Spiel, nicht zuletzt die zweideutigen Bilder selbst und die unruhigen Blicke ihrer Betrachter.

Aber diese Begeisterung war nichts verglichen mit Riccardo Manzottis plötzlichem Ausbruch während der offenen Diskussion, die am folgenden Nachmittag die Konferenz abschloss. In dem für hundert Menschen ausgelegten Raum saßen etwa dreißig Leute locker über die Sitzreihen verteilt, alle erschöpft nach acht Stunden heterogenem Informationsinput aus Studiengebieten, mit denen sie nicht vertraut waren. Zeki stand erneut im Mittelpunkt, sprach über den Beitrag, den die Neurowissenschaft zur Ästhetik liefern könne, ihre Fähigkeit, den Prozess zu analysieren, und zwar objektiv, beharrte er, mit wissenschaftlichen Geräten, durch die wir die Bilder erzeugten, die wir sahen. In diesem Moment sprang Manzotti von seinem Stuhl auf und erklärte: »Aber Professor Zeki, es gibt keine Bilder!«

Er redete etwa fünf Minuten lang. Alle, sagte er, konzentrierten sich auf das, was im Gehirn passierte. Alle redeten von Input und Output und Informationsverarbeitung. Alle stellten sich ein von einem Objekt völlig getrenntes Subjekt vor und mussten deshalb annehmen, dass es im Gehirn des Subjekts kleine Bilder gab, welche die Welt au-ßerhalb des Gehirns repräsentierten, kleine Geräusche und Gerüche im Gehirn, Farben im Gehirn, Formen im Gehirn und so weiter. Aber nichts davon ließ sich zeigen. Wissenschaftler hatten nach Bildern im Gehirn gesucht und keine gefunden. Sie hatten nach Erinnerungen gesucht und keine gefunden. Das Gehirn war eine graue Masse, die aus Milliarden von Nervenzellen und allen möglichen chemischen Substanzen bestand. Die Welt war darin nicht enthalten. Wenn man die Augen schloss, verschwand die Welt. Man konnte den Raum, in dem man sich befand, mit geschlossenen Augen nicht durchqueren. Um eine visuelle Erfahrung zu machen, brauchte man die Welt. Ästhetische Erfahrung war, ebenso wie jede andere Erfahrung, nicht im Kopf eingeschlossen; die Erfahrung der Mona Lisa war die Mona Lisa, wie unser Wahrnehmungssystem sie existieren ließ, wenn wir davorstanden. Deshalb fuhren die Leute hin, um sich die Mona Lisa anzuschauen, anstatt sich an den Bildern von ihr zu weiden, die in ihrem Gedächtnis gespeichert waren, oder auch auf ihrem Computer.

Das war ganz schön aggressiv. Manzotti hatte einen ziemlich wilden Gesichtsausdruck, eine wirre Mähne und tiefblaue Augen. Er war leidenschaftlich, ironisch, verächtlich. Er konnte wirklich kaum glauben, wie dumm wir alle waren, sagte er, dass wir diese absurde Geschichte über Bilder in unseren Köpfen glaubten. Als er sich wieder setzte, fragte ich die junge Frau neben mir, wer er war. »Er baut Roboter«, flüsterte sie. »Er ist ein Genie.«

Einige Tage nach der Konferenz versuchte ich, den Wahrheitsge-halt von Manzottis Rede zu überprüfen. Ich setzte mich ein paar Minuten hin, schloss die Augen und versuchte festzustellen, ob in meinem Kopf Bilder waren oder nicht. Ich hatte immer angenommen, dass es so sein müsste. Schließlich ist es doch total gängig, jemandem zu sagen, ich sehe immer noch das Bild vor mir, wie du ausgesehen hast, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Oder, ich habe noch genau vor Augen, wie Soundso damals in den letzten Spielminuten dieses Tor gemacht hat. Oder, ihr Gesicht geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Aber ist es wirklich so? Oder kann es sein, dass Manzotti recht hat?

Hinter geschlossenen Augenlidern versuchte ich, die Gesichter meiner Mutter, meines Bruders, meiner Kinder heraufzubeschwören, Menschen, von denen ich mit Sicherheit ein Bild habe. Und wohlbekannte Orte: Ich versuchte, mir mein Büro vor Augen zu führen, die Bank in unserem Garten, das Café, in dem ich gern einen Cappuccino trinke. In jedem Fall hatte ich ganz stark das Gefühl, dass ich wusste, wie der Ort aussieht, aber tatsächlich gesehen habe ich ihn nicht. Was die Objekte und Orte betrifft, so konnte ich sie mir selbst beschreiben, in Worten. Der Schreibtisch rechts von der Tür. Das Bücherregal gegenüber. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich eventuell eine grobe Zeichnung davon zu Papier bringen können. Ich wusste, welche Farbe die Wände und die Stühle hatten.

Aber ich sah sie nicht.

Bei Gesichtern hingegen war es eher wie der Moment im Ankunftsbereich des Flughafens, wenn man auf jemanden wartet, der einem nahesteht. Ich erinnere mich besonders gut an ein Mal in Heathrow, als meine jüngere Tochter Lucia aus Japan zurückkam. Sie war damals erst fünfzehn, und ich konnte es kaum erwarten, sie nach einem Monat Abwesenheit wiederzusehen. Man steht an der Absperrung, während die Leute durch die Drehtüren strömen, und sucht in der Menge von Gesichtern, die einem nichts bedeuten, nach dem einen geliebten Gesicht, will unbedingt, dass es erscheint. Man denkt intensiv an die Person. Man weiß ganz genau, auf welches Gesicht man wartet. Das Gesicht. Es ist ausgeschlossen, dass man sie nicht erkennt. Das wäre undenkbar. Etwas im eigenen Kopf wartet angespannt darauf, aktiviert zu werden. Man spürt es körperlich. Wenn das Gesicht erscheint, wird es so sein, als würde ein Schlüssel im Schloss umgedreht und eine Tür aufgestoßen, die den vollen Blick freigibt. Und dennoch, bis zu dem Sekundenbruchteil, in dem das Gesicht endlich auftaucht, sieht man es nicht wirklich. Das Gesicht ist eine Anspannung, ein Potenzial. Aber man besitzt es nicht. Man kann es nicht willentlich hervorbringen. Das ist vermutlich der Unterschied zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Ganz einfach: Wenn jemand abwesend ist, dann sieht man die Person nicht. Darin besteht der Schrecken der Abwesenheit. Oder in manchen Fällen das Glück. Es gibt kein Foto in den Aktenschränken des Kopfes. Wäre dort eines, dann bräuchte man die gewöhnliche Fotografie nicht. Höchstwahrscheinlich gibt es dort auch keine Aktenschränke. Manzotti hatte recht. Zumindest im Wesentlichen.

 

Aber was ist mit Träumen?

Ich träume oft das Gesicht meiner Tochter. Dann sind meine Augen natürlich geschlossen, und sie ist nicht körperlich anwesend. Dennoch kann ihr Gesicht ganz intensiv da sein. Je weiter jemand in Zeit und Ort entfernt ist, so ist jedenfalls meine Erfahrung, desto wahrscheinlicher ist es, dass man von der Person träumt. Ich träume oft von meinem Bruder in Amerika. Und wenn jemand, der einem nahesteht, stirbt, dann träumt man fast zwangsläufig von dieser Person. Ich habe jahrelang von meinem Vater geträumt. Mein Vater war im Leben ein ernster Mann, oder vielleicht auch nur distanziert, aber im Traum zwinkert er mir zu; er ist mein Komplize, obwohl er komischerweise fast immer seine Robe trägt, die Soutane mit Chorhemd und das Kollar des Geistlichen. Wenn du deine Frau verlassen musst, sagt das Gesicht meines Vaters in meinen Träumen, dann bin ich bei dir und vergebe dir.

Das hätte er im Leben niemals gesagt.

Ich ermittelte Manzottis E-Mail-Adresse und lud ihn auf ein Bier ein, das erste von vielen. In den folgenden Monaten und Jahren machten wir gemeinsam unsere Ehekrisen durch, und er präsentierte mir eine vollkommen veränderte Vision von dem, was Bewusstsein und Erfahrung sind oder sein könnten. Plus eine ellenlange Leseliste, von den Vorsokratikern über Hume, Kant und William James, Ryle und Searle und Dewey und Nagel und Dennett und Ned Bloch und Varela bis hin zu anderen, weniger bekannten Leuten wie Teed Rockwell, Alva Noë, Andy Clark und Mark Rowlands.

Doch wo soll ich anfangen?

Vielleicht bei den Robotern. Manzotti hatte mit dem Bauen von Robotern angefangen. Oder genauer gesagt, er hatte eine Roboter-Version des menschlichen Sehsystems zur Anwendung bei anthropomorphen Robotern mit Stereovision gebaut. Er war an mehreren italienischen Universitäten, unter anderem in Genua, Mailand, Palermo und später am Korean Institute of Science tätig. Sein Hauptziel zur damaligen Zeit war es, zu verstehen, ob und wenn ja wie intelligente Automaten so etwas Ähnliches wie ein menschliches Bewusstsein entwickeln könnten. Dabei wurde ihm zum ersten Mal klar, sagt er, dass das Standardmodell der bewussten Wahrnehmungserfahrung – der Gedanke eines Inputs von außen in einen Kopf, in dem dann Verarbeitungsprozesse und Berechnungen ablaufen – einfach nicht funktionierte. Man konnte auf dieser Basis keinen intelligenten Roboter bauen. »Man sagt, der Roboter speichert mithilfe seiner Videokamera Bilder von der Welt und vergleicht sie mit seiner unmittelbaren Umgebung«, bemerkte er. »Aber das stimmt nicht, er speichert vielmehr digitale Daten. Er hat keine Bilder in seinen Schaltkreisen. Keine Fotos. Wenn dort Fotos wären, bräuchte man jemanden, der sie anschaut.«

Welche logischen Konsequenzen hatte das?

Endlos viele.

Das ist jedes Mal das Problem, wenn ich versuche, Manzottis Ansichten wiederzugeben. Genauso würde es auch sein, wenn ich sie Sabina Pauen beim Mittagessen in Heidelberg darlegte, und dann den beiden anderen Professoren, mit denen ich in der deutschen Stadt verabredet war, dem Philosophen und Psychologen Thomas Fuchs und der Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer. Die Leute haben es eilig, Manzottis Behauptungen sind gigantisch und erfordern ein völliges Umdenken hinsichtlich der Frage, wer und was wir sind und was die Welt sein könnte. Sogar die scheinbar simple Frage, was ein Objekt ist, muss ernsthaft revidiert werden. Ganz zu schweigen vom heiklen Problem der Zeit …

Und wer von ihnen würde schon annehmen, dass eine Theorie, von der sie bisher noch nie gehört haben, noch dazu eine, die ihnen von einem Romanautor nahegebracht wird, einem Mann, der weitaus berühmter für Fiktionen als für Fakten ist, tatsächlich Bestand haben oder zumindest interessant sein könnte? Ist es nicht viel naheliegender, anzunehmen, dass Parks’ Freund Manzotti ein Scharlatan ist, eine Niete, trotz seiner zahlreichen Publikationen in ernsthaften wissenschaftlichen Zeitschriften, seiner Kollaborationen mit angesehenen Universitäten, seinem PhD in Robotik und seiner Professuren in Psychologie und Philosophie?

Oder, alternativ, dass Manzotti durchaus ernst zu nehmen ist, Parks aber nicht richtig verstanden hat, wovon er spricht. Nicht mal annähernd. Oft fürchte ich selbst, dass Letzteres tatsächlich zutrifft. Manzottis Ideen faszinieren mich, in vielen Bereichen überzeugen sie mich – im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern appelliert er immer direkt an die Erfahrung, lebt seine Ideen –, aber in Diskussionen darüber fühle ich mich dennoch angreifbar. Sie wirken wie vom Himmel gefallen, obwohl sie zugleich völlig dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen scheinen. Vielleicht wünsche ich mir ja insgeheim, wenn ich mit jemandem über Manzottis Ansichten rede, mein Gesprächspartner möge dessen Vorstellungen in Grund und Boden stampfen, mich ein für alle Mal von dieser charismatischen Figur befreien. Ich bin hin- und hergerissen. Zweifellos würde ein Neurowissenschaftler, der die Vorgänge in meinem Kopf aufzeichnet, sofort erkennen, dass Manzottis Ideen ähnlich wie die rubinsche Vase mal den einen, mal den anderen Bereich meines Gehirns aktivieren, den Teil, der sagt, dass etwas wahr ist und man sich sofort darum kümmern muss, und den, der sagt, dass etwas nur ein Hirngespinst ist, absurd, und mir nichts als Ärger und Blamage einbringen wird. Immer, wenn ich mich auf Manzottis Denkweise einlasse, gerät meine Welt aus den Fugen.

Was uns zurück zur Frage der Autorität bringt. Die meisten Menschen glauben mehr oder weniger das Gleiche über den Geist, den Körper und unsere Wahrnehmung, und in den meisten Fällen entspricht das dem, was unterschiedliche Autoritäten uns nahelegen. Es gibt kaum einen Ismus oder eine Religion oder eine intellektuelle Elite, vom Platonismus über das Christentum bis hin zum Empirismus und Szientismus, die uns nicht davor warnen, dass besondere geistige Kräfte, besondere Beziehungen mit übernatürlichen Wesen oder ganz einfach besondere und ausgefeilte Maschinen nötig sind, um zu erkennen, was sich tatsächlich zwischen uns und der Welt abspielt. Immer wieder wird uns eingehämmert, dass nur die Hellsichtigen, die Genies, die Priester, die Wissenschaftler, die Supercomputer wirklich Bescheid wissen. Wir hingegen können es nicht verstehen. Wir sind unendlich fehlbar. Das führt dazu, dass wir uns regelmäßig dabei wiederfinden, wie wir Erklärungen der Wirklichkeit akzeptieren, die mit unserer Erfahrung nicht im Geringsten übereinstimmen.

Wenn ich zum Beispiel ein Pfefferminzbonbon lutsche, dann kommt es mir definitiv so vor, als sei diese Erfahrung in meinem Mund zu verorten, am Treffpunkt von Zunge, Gaumen und Bonbon. Aber die zeitgenössische Wissenschaft sagt mir, dass das nicht so ist, dass meine Erfahrung vielmehr in meinem Gehirn stattfindet. »Die einzige Realität, die wir erfahren, ist die Realität des Gehirns«, schreibt Semir Zeki, »die einzigen Wahrheiten, die wir kennen, sind Wahrheiten des Gehirns.« Es gibt keine Geschmäcker, außer in meinem Gehirn, sagt der große Neurowissenschaftler und wiederholt damit ziemlich genau das, was Galileo vor 400 Jahren gesagt hat, obwohl die Neurowissenschaftler bis heute in meinem Gehirn nichts weiter gefunden haben als eine verstörend große Anzahl komplexer chemischer Reaktionen und elektrischer Impulse. Inzwischen bleibt das Pfefferminzbonbon, das nach Pfefferminz riecht und nach Pfefferminz schmeckt, in meinem Mund beziehungsweise löst sich dort langsam auf, und das scheint, solange es da ist, ein durchaus plausibler Ort für mein Minz-Erlebnis zu sein. Aber wie komme ich, oder ein schlichtes Pfefferminzbonbon, dazu, so vielen Experten zu widersprechen? Noch dazu wissenschaftlichen Autoritäten. Hatten sie nicht auch recht mit ihrer Aussage, dass sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht, obwohl es allen normalen Menschen so vorkam, als stehe sie definitiv still? Ehrlich gesagt kommt sie mir auch heute noch still vor. Im Verhältnis zu meinem Körper steht die Erde bekanntermaßen tatsächlich still, und unsere Sinne liegen völlig richtig, wenn sie sie als still empfinden. Nur im Verhältnis zur Sonne und anderen Himmelskörpern bewegt sich die Erde. Wer hätte das im Trubel des Alltags schon gedacht?

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