Toter Kerl

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V

Rieder, sagen Sie, dass das nicht wahr ist“, brüllte Bökemüller ins Telefon.

„Schneider ist verschwunden. Es gibt Blutspuren auf dem Kahn und zwei Kugeln stecken in der Schiffswand.“

„Können Sie sich vorstellen, was das für einen Aufstand gibt, wenn dem Schneider was passiert ist? Gestern noch vom Minister geadelt, heute vermisst, vielleicht tot, ermordet.“ Die Stimme des Polizeipräsidenten war immer dramatischer geworden. „Ich glaube, das ist eine Nummer zu groß für Sie und Damp. Da werde ich das LKA einschalten müssen.“

Rieder versuchte zu beschwichtigen. „Vielleicht sollten wir nicht gleich die Pferde scheu machen. Vielleicht hat sich Schneider an Land geschleppt und ist bei jemandem hier auf der Insel untergekommen. Der kennt hier doch Hinz und Kunz.“

Rieder konnte förmlich spüren, wie Bökemüller auf der anderen Seite der Leitung abwog, gleich Alarm zu schlagen oder den Fall erst mal auf Sparflamme zu kochen.

„Okay, fahnden Sie nach Schneider. Aber vorsichtig. Wühlen Sie nicht zu viel Staub auf, bevor wir nicht wissen, was wirklich passiert ist. Ich schicke Ihnen Behm. Der soll sich die Sache mal genauer ansehen.“ Das war Rieder sehr recht. Holm Behm war Chef der Stralsunder Spurensicherung. Bei den Ermittlungen zum Mord an dem Kunsthistoriker vor wenigen Monaten am Gellen hatten sich die beiden Beamten angefreundet.

„Und hören Sie, Rieder, News nur an mich. Wenn Sie mich nicht telefonisch erreichen, eine Message übers Mobile. Klar?“

Diese englischen Begriffe in Bökemüllers Sprachgebrauch waren die Spätfolge seiner Zusammenarbeit mit den amerikanischen Sicherheitsbehörden beim Besuch des US-Präsidenten im Frühsommer in Stralsund. Rieder lächelte darüber, versicherte aber im todernsten Ton, sich an die Anweisungen zu halten. „Sie können sich auf mich verlassen … Aber müssen wir nicht die Küstenwache einschalten. Das ist immerhin so eine Art Schiffsunglück?“

Brummen auf der anderen Seite der Leitung. „Dann haben wir gleich die Bundespolizei am Hacken und …“

„Aber das Schiff muss irgendwie geborgen werden“, fiel Rieder seinem Vorgesetzten ins Wort.

„Da werden Sie ja wohl eine Lösung finden. Und zwar just in time. Ich schicke Ihnen Behm mit Gebauers Boot. Vielleicht kann der helfen.“ Gebauer war der Kommandant des Wasserpolizeibootes, das im Schaproder Bodden patrouillierte.

Aus den Augenwinkeln hatte Rieder beobachtet, wie Thilo Preil versucht hatte, etwas von seinem Telefongespräch aufzuschnappen. „Und was machen Sie nun“, fragte er den Polizisten. „Wo ist der Kerl abgeblieben? Ist er abgesoffen? Das geschieht diesen Saufbolden ganz recht. Es gibt noch eine Gerechtigkeit.“ Beifälliges Gemurmel kam dazu von den Umstehenden. Die Gruppe war mittlerweile ganz schön angewachsen.

Rieder riss der Geduldsfaden. „Können Sie nicht einfach mal den Mund halten?“

„Das hätten Sie wohl gern. Aber die Zeiten sind lange vorbei!“

Rieder verdrehte die Augen. Damp schritt zur Tat. Mit ausladenden Armen ging er auf die versammelten Leute zu und trieb sie so langsam in Richtung Enddorn. Rieder schüttelte zwar den Kopf, als Damp ein Strandverbot verhängte, war aber auch froh, die Meute endlich los zu sein.

„Gibt es eine Chance, das Schiff freizubekommen ohne technische Hilfsmittel?“, wandte sich Rieder an Förster. Der schüttelte den Kopf. „Bis heute Abend soll zwar der Wind drehen und dann wird hier der Wasserstand wieder steigen, aber das wird nicht reichen, dass der Bootskörper aufschwimmt. Der Kahn ist zu schwer. Eigentlich geht nur was von Land aus, denn hier kommt kein Schiffskran heran. Außer …“ Sein Gesicht hellte sich auf. Offenbar hatte er eine Idee, denn Förster nahm sein Telefon und wählte eine Nummer.

„Hallo, Gerd. Wie geht’s? Brummt der Laden?“ Er schilderte kurz die Lage. „Ja, ja, am Enddorn. Genau. Habt ihr noch diese Luftkissen. Damit könnte man das Schiff vielleicht anheben, wenn das Wasser wieder steigt?“

„Okay. Ich melde mich wieder.“

Rieder hatte mit ungutem Gefühl zugehört. Das verstand Bökemüller sicher nicht unter „keinen Staub aufwirbeln“, aber wie er die Insel in den letzten Monaten kennengelernt hatte, pfiffen das Lied vom gestrandeten Schiff des Pfarrers schon die Möwen von den Schilfdächern.

„Das war Gerd Barnhöft von der freiwilligen Feuerwehr. Die könnten das Schiff vielleicht mithilfe von Luftkissen bei ansteigendem Wasser durch anlandigen Wind wieder flottbekommen.“

Rieder war unentschieden. „Gute Idee, aber …“

Förster beruhigte ihn. „Rufen sie Barnhöft an. Einen anderen Weg ohne viel Aufhebens gibt es nicht. Und die Jungs sind zuverlässig.“ Damit verabschiedete sich Förster. Er tippte kurz mit zwei Fingern an die Stirn. „Mich finden Sie im Nationalparkhaus.“

Rieder stimmte ihm innerlich zu und Bökemüller mit seinen Bedenken war ihm deshalb auch im Moment ziemlich egal.

VI

Rieder und Damp waren ins Revier zurückgekehrt, nachdem Gebauer und Behm mit dem Polizeiboot am Enddorn eingetroffen waren. Die Besatzungsmitglieder von Gebauers Polizeiboot hatten die Absperrung der Unglücksstelle übernommen. Behm hatte sich ausgebeten, das Schiff, die Einschüsse und die Spuren auf Deck allein zu inspizieren. „Ich kann es nicht leiden, wenn ihr mir da dauernd auf die Finger schaut oder um mich herumscharwenzelt. Habt ihr nix in eurem Revier zu tun?“

Damp hackte auf die Tasten seines Computers ein. Kaum hatte er die Entertaste gedrückt, folgten ein kurzes Klingeln und kurz danach ein heftiger Fluch des Polizisten. Seit gut einer viertel Stunde wiederholte sich dieses Schauspiel im Abstand von einer Minute. Jetzt allerdings war eine neue Eskalationsstufe erreicht. Damp hob nach dem letzten Klingeln seine Tastatur an und warf sie wieder auf den Schreibtisch. Rieder blickte erschrocken auf.

„Ich verstehe es nicht“, brüllte Damp. „Warum nimmt diese verdammte Personendatei nicht die Daten des Pfarrers an, sondern meldet mir immer ‚Zugriff verweigert‘?“

Rieder ging um den Schreibtisch herum und sah Damp über die Schulter. „Vielleicht ist Ihr Passwort abgelaufen?“

Damp blickte beleidigt zu seinem Kollegen auf. „Für wie blöd halten Sie mich eigentlich? Das habe ich natürlich schon überprüft. Aber bitte, versuchen Sie es doch selbst.“

Er schob die Tastatur zu Rieder hinüber. Der begann seine Zugangsdaten für die Personendatei einzugeben und wurde auch sofort auf die Seite mit der Suchmaske weitergeleitet. Rieder konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wo sind die Daten von Schneider?“

Damp reichte ihm einen Zettel. Rieder tippte die Daten ein und drückte „Enter“. Es folgte ein kurzes Klingeln und auf dem Bildschirm erschien der Hinweis „Zugriff verweigert“.

„Das ist ja komisch“, bemerkte Rieder, nun auch ratlos.

Damp triumphierte. „Tja, da sind Sie mit Ihrem Berliner Polizistenlatein wohl auch am Ende?“

„Vielleicht stimmt was mit der Leitung nicht“, versuchte Rieder seinen Fehlversuch zu rechtfertigen.

„Das ist unlogisch, lieber Kollege, dann würde die Datei auch nicht unsere Zugangsdaten akzeptieren, oder?“

Rieder nickte. Er stützte sein Kinn auf seine Hand und starrte in den Computer. „Irgendetwas stimmt hier nicht.“

In diesem Moment betrat Behm das kleine Revierzimmer im Hiddenseer Rathaus. Er hatte noch die letzten Worte von Rieder gehört.

„Da habt ihr recht, hier stimmt etwas nicht!“

Er holte ein kleines Tütchen aus seiner Jackentasche, in dem sich zwei Projektile befanden, und zeigte sie den beiden Inselpolizisten.

„Ich musste ziemlich lange in meinen schlauen Dateien kramen, bis ich ein Vergleichsstück für diese Munition gefunden hatte. Die ist nämlich steinalt, aber original, stammt aus den Dreißigerjahren und passt nur zu einer Waffe, einer Luger P08.“

„Eine Luger P08? Was soll das sein?“, fragte Damp.

„Eine Armeepistole, verwendet bis Ende der Dreißigerjahre. Wer heute noch so eine besitzt, verwendet sie eigentlich nicht zum Schießen, sondern verwahrt sie in einer Vitrine. Und soweit es meine ersten Untersuchungen zeigen, wurde auch die hier benutzte Luger wahrscheinlich gehegt und gepflegt.“

Rieder und Damp waren einigermaßen beeindruckt von Behms Vortrag.

Rieder nahm das Tütchen und hielt es gegen das Fenster. „Eine alte Waffe und eine breite Streuung der Einschüsse. Vielleicht auch ein alter Schütze?“

Behm winkte ab. „Das ist gut kombiniert, aber kein Beweis. Die Luger P08 galt nicht unbedingt als Präzisionswaffe und ihr schlechtes Treffverhalten auf größere Entfernungen führte zu ihrem Ende als Dienstwaffe im deutschen Militär.“

„Was ist mit dem Blut?“

„Da müsst ihr euch gedulden. Ich habe die Blutspur gesichert. Auf dem Holm über der Kabinendecke fanden sich auch noch einige Haare. Ich werde sie mit denen von einer Bürste vergleichen, die ich im Kulturbeutel im Bad auf dem Boot gefunden habe. Ich nehme an, dass die Sachen von Schneider stammen. Aber die Staatsanwaltschaft wird wohl kaum einem DNA-Test zustimmen, wenn nicht auch ein Verbrechen vorliegt. Das könnte also dauern. Noch Fragen?“

„Wie bist du eigentlich hierhergekommen?“

„Dein Nachbar.“

„Malte?“

„Genau. Er kam mit seinem Motorboot vorbei. Da ihr den Strand gesperrt habt, kommen die Schaulustigen mit allem, was schwimmen kann, und beobachten unser Treiben rund um den gestrandeten Pott eben von der Ostsee aus. Fittkau traute sich am nächsten heran. Da habe ich ihn gefragt, ob er mich nach Vitte bringen kann. Zwanzig Euro und die Sache war perfekt.“

 

Rieder grinste über die Geschäftstüchtigkeit seines Nachbarn. Eigentlich betrieb er eine kleine Ferienpension, aber den einen oder anderen Euro verdiente er noch nebenbei mit selbst gemachter Marmelade, geräuchertem Aal oder „neuen“ Marktlücken, wie dem Transport von Polizisten mit dem eigenen Boot.

„Gebauer ist weiter vor Ort, um das Boot freizuschleppen, wenn das mit den Luftkissen klappen sollte. Sieht aber gut aus. Der Wind hat gedreht und der Wasserstand steigt. Die Feuerwehrleute sind jedenfalls Feuer und Flamme.“ Behm lachte über seinen Gag, allerdings allein. „Ihr seid ja echt gut drauf. Aber ich mache euch noch eine Freude.“

Holm Behm zog eine Plastikfolie aus seiner Jacke. Darin befanden sich ein Briefumschlag und ein Schreiben. „Ich habe das sicherheitshalber gleich mal eingetütet, falls es zum Äußersten kommt und unter mein Mikroskop geschoben wird.“ Damit reichte er die Hülle Rieder. Damp stand auf, um auch einen Blick auf das mutmaßliche Beweisstück zu erhaschen.

Der Briefumschlag war an Jens-Uwe Schneider adressiert, der Poststempel stammte aus Stralsund. Aber es gab keinen Absender. Rieder las laut vor, was auf dem weißen Briefbogen stand: „Darum bekenne ich dir meine Sünde und verhehle meine Missetat nicht. Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Sünden bekennen.“

Rieder sah Behm fragend an. „Der Anfang einer Predigt vielleicht?“

„Und den hat sich der Herr Pfarrer selbst mit der Post geschickt.“ Behm tat so, als müsste er sich schütteln. „Rieder, enttäusch mich nicht! So lange bist du doch noch nicht auf der Insel. Allerdings trennt sich hier die Spreu vom Weizen, oder besser gesagt, der Atheist vom Christen.“

„Ist aus der Bibel“, mischte sich nun Damp zum Erstaunen Rieders ein. „Weiß jetzt nicht ganz genau wo. Aber ist aus der Bibel. Ganz bestimmt.“

„Eins! Setzen!“, spottete Behm, hob aber gleichzeitig anerkennend den Daumen.

„Wo hast du’s gefunden?“, fragte Rieder.

„In dem Buch, das auf dem Tisch lag.“

Rieder las den Text noch einmal. „Na ja, Schneider war Pfarrer.“

Behm wiegte seinen Kopf hin und her. „Keine Erklärung dazu. Keine Notizen, ob er es in eine Predigt einfügen wollte. Ich will ja mal nicht die Pferde scheu machen, aber das wirkt für mich eher wie ein Drohbrief.“

„Wer sollte Schneider drohen?“, überlegte Rieder. „Einer der verrissenen Schriftsteller?“

Behm zuckte mit den Schultern. „Das ist ja wohl eher euer Job, das herauszufinden.“ Damit wollte sich Behm verabschieden. „Ich würde versuchen, die Fähre nach Stralsund zu bekommen.“

„Wart mal … Wir wollten Schneiders Daten abgleichen, um nachzuforschen, ob er noch Angehörige hat“, erzählte Rieder, „aber wir bekommen keinen Zugriff auf die Personendatei. Vielleicht ein technisches Problem?“

„Gebt mir die Daten. Ich schaue, ob ich von unserem Computer in Stralsund mehr Glück habe.“

Damp kopierte den Zettel und gab ihn Behm. „Melde mich ab. Falls es was Neues gibt, ruft mich an. Irgendwie ist das eine komische Geschichte.“

VII

Immer heftiger wurde der Wellengang auf der Ostsee. Der Wind drückte das Wasser an den Strand von Hiddensee. Und so gelang es den Feuerwehrmännern, durch die angebrachten Luftkissen die „Antonie“ so weit anzuheben, dass sie auf die offene See gezogen werden konnte. Kommandant Uwe Gebauer stand im Führerhaus der „Antonie“, gab über Funk Kommandos an seine Kollegen auf dem Polizeiboot, alle Klippen aus Findlingen und den Resten der alten Metallbuhnen zu umschiffen. Dann nahm der Konvoi Kurs auf Vitte. Dort wurde die „Antonie“ am Steg des Anglervereins festgemacht. Diese Anlegestelle war durch ein eisernes Tor mit Schloss vor dem Zutritt von Fremden geschützt. Jedenfalls von Land aus.

Der Pfarrer allerdings blieb verschwunden. Birgit Thurow hatte auf Bitten von Damp alle Mitglieder des Gemeindekirchenrates abtelefoniert. Keiner hatte Schneider nach der Feier im Gerhart-Hauptmann-Museum gesehen oder gesprochen. Ansonsten kannte sie angeblich auch keinen Menschen weiter auf der Insel, zu dem Pfarrer Schneider näher Kontakt gehabt hätte. Seine engeren Bekannten seien die Schriftsteller gewesen, von denen einige zwar gestern zur Preisverleihung gekommen, aber nun auch schon wieder abgereist seien.

Rieder war zu den alten Häusern der Leuchtturmwächter nördlich von Grieben gefahren, dieses Mal mit dem Polizeiauto. Sie lagen in einer Senke unterhalb des Bakenberges, auf dem der weiße Leuchtturm Dornbusch mit seiner roten Kuppe thronte. Die alten Backsteinhäuser waren zu Ferienwohnungen umgebaut worden. Doch die derzeitigen Mieter hatten in der Nacht keine Hilferufe vom nahen Steilufer gehört und es hatte auch niemand an ihre Tür geklopft.

Auch in Grieben, der nördlichsten Siedlung auf Hiddensee, hatte den Pfarrer seit Sonntag niemand mehr gesehen. In den Gaststätten und in den Geschäften, überall nur Kopfschütteln und Schulterzucken, wenn Rieder nach dem Verbleib von Schneider fragte.

Bökemüller war bei Rieders Bericht über die erfolglose Suche nach dem vermissten Pfarrer immer nervöser geworden. Er überlege, den Innenminister zu informieren, die Sache werde ihm langsam zu heiß.

Rieder schwankte in seinen Gefühlen. Einerseits reizte ihn ein neuer Fall, andererseits hatte er keine Lust, sich mit Beamten und Hierarchen des Landeskriminalamtes von Mecklenburg-Vorpommern herumzuschlagen und von denen als Inselpolizist wie ein Laufbursche behandelt zu werden. Er war immerhin Kriminalhauptkommissar.

Bökemüller und Rieder einigten sich, die Nacht noch abzuwarten und dann am nächsten Morgen eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen.

Es war schon früher Abend, als Rieder erschöpft von den Touren wieder ins Revier nach Vitte kam. Damp packte gerade seine Sachen zusammen. „Feierabend für heute“, meinte er. Rieder war noch etwas unschlüssig, was er tun sollte. Konnte er jetzt einfach nach Hause gehen, obwohl es immer noch keine Spur vom Pfarrer gab?

Damp setzte seine Mütze auf und straffte die Uniform. „Was machen Sie?“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Sie können mich mit nach Neuendorf nehmen.“

Das Polizeiauto kam nur langsam voran. Zu dieser Tageszeit waren nicht nur die Urlauber zwischen Neuendorf und Vitte unterwegs. Die meisten Pferdekutschen rollten wie eine Karawane in Richtung Inselsüden, nachdem sie die letzten Tagestouristen in Vitte oder Kloster zu den Ausflugsschiffen und Fähren gebracht hatten. Damp konnte nicht überholen und musste Schritt fahren, denn die Pferde machten kaum noch Tempo. Sie trabten nach dem langen Tag und mehreren Touren von Neuendorf im Süden bis ins Hochland beim Leuchtturm Dornbusch im Norden müde vor sich hin.

„Kannten Sie eigentlich Pfarrer Schneider besser?“, fragte Rieder.

„Kaum“, antwortete Damp, „wir hatten manchmal miteinander zu tun, wenn was los war oder er eine größere Veranstaltung hatte und nun bei der Vorbereitung der Preisverleihung, aber sonst …“, Damp räusperte sich. „Der hat mich doch auch nicht ernst genommen.“ Das klang bitter.

„Ich habe ihn eigentlich auch nur einmal gesprochen“, meinte Rieder nachdenklich, „letzten Samstag. Und da wirkte er nicht wirklich glücklich. Trotz Preisverleihung.“

Vor zwei Tagen hatte Rieder einen Streit zwischen dem Fernsehteam und den Fuhrleuten schlichten müssen. Der Übertragungswagen für die Preisverleihung sollte zwar auf dem Park- und Wendeplatz der Fuhrleute neben der Kirche stehen, aber nicht gleich den ganzen Platz einnehmen. Die Fuhrleute bestanden auf ihrem Recht, dort zu parken wie sonst auch, und blockierten dann aus Protest den Kirchweg, die Hauptstraße von Kloster. Der Begriff Hauptstraße war allerdings für den ungepflasterten, mit Schlaglöchern übersäten Weg vom Friedhof bis zum Inselmuseum eigentlich nicht angebracht. Damp hatte im Hafen mit den Vorbereitungen für die Ankunft der vielen Gäste zu tun und stritt sich dort außerdem mit den Vermietern von Ferienwohnungen herum, die ihre Gepäckwagen nicht wegräumen wollten. So eilte Rieder zur Kirche, um dort die Gemüter zu beruhigen. „Scheißorganisation! Wo ist Damp?“, riefen ihm die Kutscher schon zu, als er von der neuen Pension „Zur Post“ kommend auf den Kirchweg einbog. Dort standen ein Dutzend Planwagen, immer drei nebeneinander. Die Leute kamen weder rechts noch links und schon gar nicht „mittenmang“ durch. Klaus Treue, ein Fuhrunternehmer aus Neuendorf und eher ein friedlicher Typ, kam auf den Polizisten zu.

„Hallo, Rieder, verstehen Sie uns nicht falsch, aber wir müssen auch unser Geschäft machen können.“ Rieder kramte eine Skizze hervor, die Damp ihm gegeben hatte und auf der der Standplatz des Übertragungswagens eingetragen war, sowie ein Protokoll, in dem sich die Fuhrleute, die Fernsehfirma und Damp schriftlich über die Platzverteilung geeinigt hatten. Statt längs zur Kirche, wie auf der Zeichnung vermerkt, parkte der riesige Übertragungswagen quer über den Platz und hatte nach rechts und links noch kleine Container ausgefahren. Jedenfalls war so kein Platz mehr für die Fuhrwerke, um dort zu wenden. Dicke rote Kabel waren von dem Fahrzeug zur Kirche gezogen worden. Mehrere Männer in dunkelblauen Jacken mit dem Symbol ihres Fernsehsenders auf dem Rücken waren damit beschäftigt, Scheinwerfer und Fernsehkameras zum Gotteshaus zu tragen. Andere saßen auf Campingstühlen um einen kleinen Klapptisch. Alle hatten Papier und Stift in der Hand und hörten aufmerksam einer Frau mit roten Haaren zu.

Rieder hatte sich durch die wütenden Fuhrleute nach vorn gearbeitet. „Oh, der Berliner persönlich“, war ihm nachgerufen worden. „Scheint ja ’ne Chefsache zu werden.“

Rieder wusste, jetzt ging es für ihn ums Ganze. Jetzt würde sich entscheiden, ob er in den Augen der Insulaner Kerl oder Weichei war.

Er marschierte hinüber zu den Fernsehleuten. Die Frau mit den roten Haaren schien ihm hier die Chefin zu sein. Als Rieder sich vorgestellt hatte, nahm sie die halbe Brille ab und musterte den Mann in Jeans, T-Shirt, grüner Windjacke und Baseballkappe von unten bis oben.

„Sie sind also der Inselpolizist?“, stellte sie zweifelnd fest. „Ihr Name ist mir neu. Ich habe immer mit einem Herrn Damp verhandelt.“

Rieder nickte. „Der hat an anderer Stelle zu tun. Ich kümmere mich heute hier um die Vorbereitungen an der Kirche. Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?“

Langsam stand die Frau aus ihrem Campingstuhl auf und streckte dann, geradezu graziös, Rieder die Hand entgegen. „Carmen von Kreuznach. Ich bin die Regisseurin der morgigen Sendung. Und das“, sagte sie darauf mit einer ausschweifenden Bewegung über die Männer am Tisch, „sind meine Kameramänner. Wir machen gerade eine Regiebesprechung.“ Ihr Ton drückte deutlich aus, dass sie sich durch Rieder gestört fühlte.

„Ich will mich nicht lange mit der Vorrede aufhalten, aber so geht es nicht.“

„Was meinen Sie?“

Rieder tippte auf das Protokoll und die Zeichnung.

„Wir hatten erstens mit einem kleineren Ü-Wagen gerechnet und zweitens sollte er längs zur Kirche stehen und hier nicht den ganzen Platz blockieren. Und daran müssen Sie sich bitte halten.“

Die Regisseurin zog die Mundwinkel nach unten und bedachte den Polizisten mit einem Blick, als ob er nicht ganz bei Trost wäre.

„Guter Mann“, rief sie mit Emphase aus, „das ist unmöglich! Schauen Sie, wie weit wir schon mit der Verkabelung sind. Und meinen Sie wirklich, Sie können das einschätzen, was man für eine richtig gute Fernsehübertragung braucht?“ Frau von Kreuznach warf die Haare zurück, stemmte eine Hand in die Hüften und wies mit der anderen auf das Papier in Rieders Hand. „Diese Planung mit dem kleinen Ü-Wagen, der nur drei Kameras an Bord hat“ – sie machte eine Pause, als wollte sie abwarten, ob Rieder ihre Worte auch verstanden hätte – „diese Planung war völlig inakzeptabel. Ich bitte Sie!“ Dann deutete sie in Richtung der Kirche. „Dieses Juwel muss doch richtig in Szene gesetzt werden.“ Wieder eine Pause. „Also unter sechs Kameras geht da gar nichts. Und dazu braucht man eben auch so ein Fahrzeug.“ Dann beugte sie sich ganz nah an Rieders Gesicht und flüsterte ihm verschwörerisch zu: „Äh, diese Fuhrleute. Die werden auch mal einen Tag zu Hause bleiben können.“ Sie drehte sich noch einmal um, um sich zu versichern, dass auch keiner der Umstehenden ihre Worte hörte. „Mal ganz unter uns, können Sie nicht was machen, dass die verschwinden? Sie verderben mir den schönen Außenschuss.“

Rieder trat einen Schritt zurück und wollte gerade antworten, da tauchte hinter dem Übertragungswagen der Arm eines Krans auf, der sich immer weiter in die Höhe schob. Er hatte dieses zweite Fahrzeug hinter dem Übertragungswagen gar nicht gesehen. Am Ende des Kranarms hing eine kleine Gondel mit einer Kamera.

 

„Was ist das?“, fragte er empört.

„Unser Steiger … eh, Kamerakran“, erklärte Frau von Kreuznach mit unschuldiger Miene. „Hatten wir das vergessen zu sagen?“

Rieder bekam einen richtigen Wutanfall.

„Den können Sie gleich einklappen. Oder hat der eine Genehmigung zum Befahren von Hiddensee?“

„Äh, die Kollegen von der Fähre waren so nett …“

„Okay, einklappen, wegfahren zur Fähre und zurück nach Schap­rode.“

Frau von Kreuznach war die Farbe aus dem Gesicht gewichen. Mit schriller Stimme schrie sie: „Was bilden Sie sich eigentlich ein! Ich werde sofort meinen Direktor informieren und dann läuft das über den Minister und …“

„Okay, bis der Minister entschieden hat oder wer sonst, entscheide ich. Entsprechend der Absprachen und des Protokolls, das Ihre Unterschrift trägt.“ Die hatte Rieder noch rechtzeitig auf dem Protokoll entdeckt. „Also, Kran zurück zur Fähre und dann nach Rügen. Und der Ü-Wagen wird umgeparkt. Sofort!“

„Aber die Kabelwege …“, versuchte die Regisseurin einen letzten Widerstand. Doch Rieder fiel ihr ins Wort: „… sind auch nicht länger, wenn Sie umparken, wahrscheinlich sogar kürzer. Bis Morgen ist noch viel Zeit.“

Pfarrer Schneider hatte die Debatte zwischen Rieder und der Regisseurin aus einiger Entfernung beobachtet. Doch nun hatte Frau Kreuznach ihn entdeckt und stürzte auf ihn zu. Schneider war schlank und hatte ein etwas pausbäckiges Gesicht. Sein dünnes mittellanges Haar war etwas strähnig und er hatte es zurückgekämmt. Wie immer trug er ein schwarzes Hemd und eine schwarze Jeans. Da er immer den Kopf leicht vorbeugte, wirkte er in seiner schwarzen Kleidung wie ein Rabe. Er schaute über seine kleine runde Brille, als wollte er genauer wissen, was dort passiert war. Doch noch ehe die Regisseurin ihn erreichte hatte, drehte er sich um und ging mit schnellen Schritten auf die Kirche zu und verschwand darin. Frau von Kreuznach blieb daraufhin stehen. Eine junge Frau war gerade aus der Kirche gekommen, ebenfalls in einer Jacke wie alle anderen Mitarbeiter des Fernsehteams und mit einem Klemmbrett unterm Arm. Rieder nahm an, dass es sich dabei um die Aufnahmeleiterin handelte, die hier vor Ort alles für die Fernsehleute organisieren musste und nun in ihr Unglück gelaufen war. Denn die Regisseurin ging mit lautem Geschrei und erhobenen Händen auf die junge Frau los. Er befürchtete schon, dazwischengehen zu müssen. Aber es blieb bei lautem Kreischen und leisen Rechtfertigungen. Als er sich umdrehte, hatten auch die Kameramänner die Köpfe eingezogen, einige allerdings mit verschmitztem Grinsen. Zur Linken hatten die Fuhrleute ein Freudengeheul angestimmt und zeigten mit erhobenen Daumen in Rieders Richtung. Das war für ihn ein Sieg auf ganzer Linie gewesen.

Danach war Rieder in die Kirche gegangen. Pfarrer Schneider hatte sich hinter den kleinen Verkaufstisch gesetzt, an dem kleine Mönche aus Ton, eine blaue Kachel mit einer aufgemalten Rosenblüte und Postkarten von Hiddensee angeboten wurden, alles Eigenproduktionen der Kirchengemeinde, um Geld für dringende Sanierungsarbeiten zu sammeln.

„Herr Schneider“, sprach Rieder den Pfarrer an, „es tut mir leid, dass …“

Aber der Pfarrer winkte ab. „Sie machen Ihren Job. Frau von Kreuznach natürlich auch.“ Dann stand er auf und gab Rieder ein Zeichen, ihm auf die kleine Sitzbank an der linken Seite des Altarraumes zu folgen. Dort setzten sie sich ganz hinten hin.

„Mir ist das alles sowieso zu viel. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich freue mich über die Ehrung, aber alles eine Nummer kleiner wäre mir lieber gewesen. Außerdem kann ich jetzt nicht mehr meinem Hobby nachgehen. Und das schmerzt mich sehr.“

Rieder schaute verdutzt.

„Na ja, nachdem jeder weiß, wer sich hinter Jean Jacques Hoffstede verbirgt, traut sich kaum noch einer, mir seine Manuskripte zu schicken. Manche Autoren, mit denen ich sehr freundschaftlich verkehrt habe, fühlen sich hintergangen oder gekränkt. Nicht alle, aber …“

Die Worte des Pfarrers rauschten an Rieders Ohren vorbei, denn plötzlich nahm ihn die Schönheit der kleinen Inselkirche völlig gefangen.

Die Sonne schien gleißend durch die hohen gotischen Kirchenfenster. Die Strahlen ließen die Aufhängung des dicken spärlich gekleideten Taufengels, der im Altarraum von der Decke hing, verschwinden. Und so hatte Rieder den Eindruck, der Engel würde wirklich unter dem Kirchendach schweben wie unter einer Himmelswiese, denn die Holzdecke war in einem sanften Blau gehalten und verziert mit Rosenblüten. Dazu passten die weißen Kirchenbänke mit den abgesetzten blauen Kanten. Das waren die Farben Hiddensees: Weiß, Rosa und Blau.

Wie viele Menschen hatten hier in den letzten Jahrhunderten gesessen und Trost gesucht? Setzte sich jemand auf eine der harten Holzbänke, gab es ein knarrendes Geräusch, als ächzte das Gestühl unter der Last der Gebete und Fürbitten. Der Fußboden bestand aus roten Backsteinen und war so uneben wie die Oberfläche einer rauen See. Eine schmale Treppe führte hinauf zur Orgel in der Empore. In der Mitte ihrer weißen Balustrade hing ein Gemälde. Männer in einem offenen Boot kämpften mit ihren Rudern gegen dunkle Wellen des Meeres. Ob sie wohl das rettende Ufer erreicht hatten?

Dahinter die Orgel in dunklem Holz. Sie war der einzige dunkle Punkt in dieser hellen Kirche. Doch ihre Pfeifen wirkten filigran und schmal, passend zu dem kleinen Gotteshaus.

„Wie haben Sie sich auf der Insel eingelebt?“, riss der Pfarrer Rieder aus seinen Gedanken.

„Geht so. Hier läuft das Leben anders als in Berlin. Ruhiger.“

„Sie sind auch erst ein paar Monate da.“

„Es werden jetzt fünf. Und der Sommer lässt nicht mal den Gedanken auf Langeweile aufkommen. Es ist immer noch schön, abends von meinem kleinen Dachfenster in Vitte den wandernden Lichtstrahl des Leuchtturms zu sehen.“

Der Pfarrer lachte auf. „Klingt wie eine Urlaubspostkarte. Die Winter können lang werden, und wenn man dann nicht fliehen kann …“ Dabei sah er zu einem Kirchenfenster, vor dem sich die Äste der riesigen Bäume vor der Kirche sanft im leichten Ostseewind wiegten. „Eigentlich bin ich hier nie richtig heimisch geworden.“

„Kamen Sie auch aus einer Großstadt?“

„Nein, aus einem kleinen Nest. Aber es ist nicht nur das“, antwortete Schneider nachdenklich. Dann wandte er sich wieder Rieder zu. „Die Hiddenseer sind einfach schwer zu knacken. Und wir sind nie richtig miteinander warm geworden. Was schlecht ist für einen Pfarrer. Verstehen Sie.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Aber es ist auch noch nicht ausgemacht, dass ich mein ganzes Leben hier verbringen werde.“

„Das kann ich Ihnen auch kaum raten. Sie sind zu verschieden von dem Menschenschlag hier.“ Nach einer kurzen Pause fügte der Pfarrer hinzu: „Man kann schnell sehr einsam werden auf der Insel.“

Dann aber war Schneider mit Schwung aufgestanden, als hätte er sich dieses Eingeständnis nicht erlauben dürfen. „Aber es gibt kaum einen schöneren Platz auf dieser Erde.“