Ahrenshooper Spinnenweg

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8. Urocoras nicomedis

Die Möwe fixierte Zimmermann. Genauer gesagt das Gebäckstück in seiner Hand. Entschied dann aber, dass es sich hierbei weder um ein Fischbrötchen – am liebsten mochte sie Matjes – noch um ein Schälchen mit Backfisch handeln würde. Verzichtete daher auf einen Angriff. Verharrte aber weiterhin auf ihrem Posten. Dem Poller. Eine weise Entscheidung. Für beide.

So konnte Robert Aaron Zimmermann sein Teilchen weiterhin ungestört genießen. Seinen Wiecker Wickel, Walnusswickel. Die Spezialität der Wiecker Backstube. Von deren Inhaberin Zimmermann vor einer guten halben Stunde nicht nur ein Tütchen mit vier dieser kleinklebrigen Köstlichkeiten erstanden hatte. Frau Tanja hatte ihm auch die Telefonnummer von Holger Baum zukommen lassen. Und erfreulicherweise hatte er den Wiecker Ortchronisten sogleich erreicht. Nicht nur das. Baum hatte sich auch zu einem Gespräch unter vier Augen bereit erklärt und als Treffpunkt den kleinen Hafen des Jachtclubs am Ende des Johann-Segebarth-Weges vorgeschlagen.

Nun wartete Zimmermann gespannt. Schaute den Möwen zu, den emsig flatternden Schwalben sowie einer Handvoll Segelschiffe und kleiner Motorboote, die im sanft kräuselnden Boddenwasser vor sich hin dümpelten.

Richtig aufgeregt war er. Endlich würde er mehr über den Darß unterm Hakenkreuz erfahren. Seine weiteren Versuche, den Herrn von Stenglin zu erreichen, waren leider erfolglos geblieben. Er weilte zur Erholung in der Karibik. Wo er weder telefonisch noch via E-Mail zu erreichen war. Beziehungsweise erreicht werden wollte. Wie Zimmermann von dessen Sohn erfahren hatte. Herr von Stenglin wollte einmal andere Wellen sehen. Ungestört.

Gleiches galt für Hildegard Fretwurst, seinem zweiten Strohhalm der Erinnerung. Zwar hatte ihm Lore Bradhering bereitwillig Namen und Adresse der letzten noch lebenden Freundin ihrer Tante Wilhelm mitgeteilt. Nur vergnügte sich auch die »wilde Hilde«, wie sie Lore mit einem bezeichnenden Augenaufschlag nannte, fernab der heimischen Gefilde. Die muntere Dame kreuzte an Bord der AIDA auf der Hurtigruten durchs Nordmeer. Bemerkenswert, je oller, desto doller. Unter den betagteren Eingeborenen schien es einen gewissen Hang zu Fernreisen zu geben. Senile Nestflucht, sozusagen.

Eine Fahrradklingel unterbrach seine Gedankenspielereien. Er drehte sich um. Erkannte den Heimatkundler mit der Prinz-Eisenherz-Frisur, der auf klapprigem Drahtesel über die Wiese gerumpelt kam.

»Morgen, Herr Zimmermann, dann wollen wir mal in See stechen! Zur kleinen Zeitreise durch den braunen Sumpf.« Behände sprang Holger Baum vom Rad. Lehnte es leger an eine Laterne. Verzichtete auf irgendeine Sicherung. Wechselte dann das Gefährt. Und begann die diversen Taue eines nussschaligen Seelenverkäufers zu lösen.

Zimmermann beschlich ein mulmiges Gefühl. Auf eine Seereise war er nicht vorbereitet. Nur gut, dass er erst einen der Wiecker Wickel verspeist hatte. Und wenigstens musste er nicht an Bord eines Seglers seinen Mann stehen. Der in einem solchen Falle mit Sicherheit ein Klabautermann werden würde. Mit zaghaften Schritten näherte er sich über den schmalen Steg dem urigen wie uralten Boot in Blaugelb. Kletterte etwas unsicher über die Reling. Ergriff Baums Hand zur Hilfe wie zum Gruße.

»Willkommen an Bord der KUBA, einst von mir und anderen Lehrlingen der ehrwürdigen Bootswerft Kraeft in Eigenarbeit geschaffen. Hier vorne gleich. Einer der letzten Erben der einst ruhmreichen Wiecker Werftentradition. Wussten Sie in diesem Zusammenhang, dass Wieck im frühen 18. Jahrhundert mehr Schiffe als die große Stadt Barth unter Segeln hatte? Ja, hier lief so einiges. Nicht nur vom Stapel. Doch, setzen Sie sich und genießen Sie unseren Törn. Frische Luft und weiter Himmel sind meines Erachtens die besten Rahmenbedingungen für ein so düsteres Thema.«

Baum startete den Motor und manövrierte den kleinen Pott geschickt aus der engen Liegebox. Man nahm Fahrt auf. »Ist schon schön.« Zimmermann blinzelte übers glitzernde Wasser. »Allerdings ist Genuss nicht mein vorrangiges Anliegen. Ich möchte ja eigentlich …«

»Ich weiß, ich weiß. Und muss Sie gleich enttäuschen. Von einem Olaf Hegerdorp habe ich noch nie etwas gehört. Konnte den Namen auch nicht in meinem Archivregister entdecken. Doch das will nichts heißen. Gerade dieses Kapitel unserer Geschichte weist noch viele weiße Seiten und offene Fragen auf. In dieser Hinsicht macht unsere Gegend keine Ausnahme. Zudem ist »faschistische Vergangenheit« nicht unbedingt etwas, was sich touristisch erfolgreich vermarkten lässt. Da ziehen Kraniche und Künstler, Weststrand und Windflüchter schon besser. Und Forstmeister Mueller-Darß sieht man lieber als gemütlichen Rauschebartförster mit Pfeife und Jägerhut als denn in der Uniform und Denkungsart eines SS-Brigadeführers. Doch, warum in den Darß abschweifen, wenn …« Der Heimatkundige drosselte den Motor, steuerte in eine kleine Bucht und wies zum Ufer; sie waren gerade einmal wenige hunderte Meter in östlicher Richtung gefahren. »Dort vorne, Müggenberg Ecke Kielstraße, stand einst der Alte Krug, der schon in Segebarths maritimer Räuberpistole ›De Darßer Smuggler‹ eine wichtige Rolle als Gerichtsgebäude spielt. Und der über viele Jahrzehnte geselliger Mittelpunkt des Dorfes gewesen ist. Hochzeiten und Maskenbälle, Vereinssitzungen und Chorauftritte, im Krug war immer was los. Um 1930 warb der damalige Wirt in seinem Prospekt explizit mit dem ›schönen großen Saal‹. Der dann nur elf Jahre später zum Außenlager des KZ-Neuengamme werden sollte. Etwa Anfang Januar 1941 wurden hier rund 50 Häftlinge einquartiert. Überwiegend Zeugen Jehovas. Die dann zum Schilfschneiden ins Röhricht geschickt wurden. Wo sie in dünnen Drillichanzügen und schadhaftem Schuhwerk den ganzen Tag im eiskalten Wasser standen. Nach der »Ernte«, Rohr lässt sich am besten bei Frost bearbeiten, wurden die Männer Ende Februar wieder nach Neuengamme zurückgebracht. Viele von ihnen krank und mit Erfrierungen. Und …« »Entschuldigung …« unterbrach ihn Zimmermann, »aber ist bekannt, wer zur Wachmannschaft gehörte?«

»Ja, weitgehend. Da die Lagerleitung davon ausging, dass die sogenannten »Bibelforscher«, die SS übernahm die ursprüngliche Selbstbezeichnung dieser Glaubensgemeinschaft ironisierend gemeint in ihren KZ-Jargon, aus Gründen ihrer Religion nicht fliehen würden, kam man mit relativ wenig Bewachung aus. Eine Handvoll Männer reichten. Geführt vom SS-Kommandoführer Ewald Jauch. Als sein Stellvertreter wird ein Wiehagen angeführt. Und als Postenführer ein SS-Hauptscharführer Braun. Der von Überlebenden als jähzornig und sadistisch geschildert wird. Ebenso wie der Funktionshäftling Kreft, der als Kapo fungierte. Doch ein Olaf Hegerdorp wird weder in den offiziellen Akten noch in den später aufgezeichneten Zeugenberichten erwähnt. Das gilt leider auch für das Folgelager, das im Dezember 1941 auf dem Zingst errichtet wurde. Mutmaßlich in einem Kuhstall eines verlassenen Gehöfts im Bereich der Sundischen Wiesen. Das Gebiet wurde seinerzeit von der Luftwaffe unter anderem als Bombenabwurfgelände benutzt, sodass die Bevölkerung bereits 1937 umgesiedelt worden war. Wieder war die Mehrzahl der abermals zum Schilfrohrschneiden eingesetzten Gefangenen Zeugen Jehovas. Die allerdings länger blieben. Bis April 1942. Im Stammlager war eine Fleckfieberepidemie ausgebrochen. Merkwürdigerweise wurde bei dieser Aktion die Stärke der Wachmannschaft deutlich erhöht. Ein Augenzeuge berichtete von etwa 50 Posten. Warum auch immer. Einen Hegerdorp habe ich aber in den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht finden können. Doch …«

Trommelschlag ertönte. Fanfarenklänge. Und undeutliche Stimmen. Schnarrend. Dumpf. Ein bisschen übersteuert. Undeutlich:

»Ahndungsgrau …, … mutig. … icht der … oße Morgen an. … die Sonne, … alt und blutig, leuchtet … blut’gen … nächsten Stunde … … liegt das … einer Welt. … zittern schon … … Würfel … … legt noch die … feig’ … Schoß? … legt noch die … feig’ … Schoß? … Volk steht … Sturm bricht …«

Zimmermann erkannte das Lied dennoch. Den Text. Den Kontext. Da ertönte eindeutig jener Theodor Körner-Mix aus der Innentasche von Baums Lederjacke, der einst dem Lieblingsfilm Joseph Goebbels Sound und Seele verliehen hatte: ›Kolberg‹. Jener patriotische Streifen mit dem der Propagandaminister dem deutschen Volke im Frühjahr 1945 die Zuversicht des nahen Endsieges ins Blut treiben wollte. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!«

Ein solcher Klingelton bei einem Menschen, der ihm gerade von KZ-Außenlagern berichtet hatte, irritierte Zimmermann. Mehr als nur ein wenig. Zumal das Lied nun bereits zum dritten Mal übers Boot schmetterte. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!«

»Entschuldigen Sie bitte, aber das Scheißding ist mal wieder ins Innenfutter geflutscht und hat sich irgendwie verheddert.« Holger Baum kämpfte immer noch mit seiner Jacke und den Tücken des Objekts. »Und, sorry, aber ich habe nun mal einen etwas speziellen Humor. Das ist nur meine Wetter-App, die mich warnt, wenn ich auf dem Bodden bin und es ungemütlich wird. Fand ich passend …«

Auch Zimmermann hatte einen etwas eigenen Humor. Dennoch ließ ihn der Vorfall ein wenig misstrauisch werden. Vorsichtig. Wenn nun Baum womöglich Hegerdorp kannte? Vielleicht ja sogar ein Gesinnungsgenosse war? Und Olaf seinen jungen Freund im Geiste auf ihn angesetzt hatte? Er schüttelte sich kurz. Seinen Argwohn ab. Bemühte sich, die angenehme Atmosphäre von zuvor wieder aufleben zu lassen. »Und was sagt der Wetterfrosch in Ihrem Telefon nun?«

»Gar nichts Gutes.« Endlich war es Baum gelungen, sein Smartphone zu befreien. Es kommt tatsächlich ein kleiner Sturm auf uns zu. Acht Beaufort und Regenböen. Wir sollten zusehen, dass wir wieder in den Hafen kommen. Leider …«

 

Wie zur Bestätigung seiner Prognose dröppelten bereits die ersten Regentropfen aufs Deck.

»Ich schlage vor, dass wir unsere Exkursion abbrechen und in den nächsten Tagen fortsetzen. An Land. Und zwar in Born.«

»Gerne, aber warten Sie bitte einen Moment.«

Nun hatte Zimmermann sein Smartphone gezückt. Wählte Sonntags Nummer und bat den Freund, ihn aus Wieck abzuholen. Wenn es denn möglich wäre. Es war. Für Zimmermann machte Richard Sonntag alles möglich. Fast alles. Das kleine Gerät verschwand wieder.

»Danke. Und was erwartet mich dort?«

»Zunächst ein weiterer Gasthof. Der ebenfalls von der SS beschlagnahmt wurde. Der Borner Hof. Im Frühjahr 1944. »Umgenutzt«. Wiederum als Außenlager des KZ-Neuengamme. Wobei die Häftlinge hier für die Holzkohleherstellung eingesetzt wurden. Ausgenutzt.«

»Holzkohle?« Zimmermann schaute etwas irritiert.

»Ja, als Treibstoff. Vor allem für die Lkw. Räder müssen rollen für den Sieg. Das war damals ein großes Problem, besonders in den letzten Kriegsjahren. Die Treibstofffrage hat die Oberste Heeresleitung ebenso beschäftigt wie den inneren Zirkel um Hitler. Holzkohle war da ein echter Hoffnungsträger.«

9. Gnaphosa taurica

Kempowski blickte in die glühende Holzkohle. Gedankenvoll. Es ging ihm so manches durch den Kopf. Da kam ihm eine Runde meditatives Grillen auf der Terrasse durchaus zupass. Auch wenn er eigentlich alles andere als ein Barbecue-King war und sich nicht mit Hakala-Holappa messen konnte, der ein wahrer Meister mit Zange am Rost war. Und so ein Monstergrill wie dessen Bredow würde ihm auch nicht ins Haus kommen. Wobei die hübsche Villa am Ahrenshooper Weg zum Hohen Ufer zugegebenermaßen eigentlich Elisabeth gehörte. Was ihm auch recht war, obwohl sie ja nun bereits seit gut fünf Monaten verheiratet waren.

Doch diese uralte Konstruktion aus Ziegelsteinen und Metallgestängen, die noch aus den Tagen ihrer Großtante Elfriede Paul stammte, hatte er wieder fit gemacht. Eigenhändig.

Es zischte. Fett spritzte auf. Und holte Kempowski in die Gegenwart zurück. Die Schweinemedaillons wollten gewendet werden. Außerdem musste er sich um den ausgelösten Rehrücken kümmern. Sowie um die Spieße mit Garnelen und Lachs. Es würde köstlich werden und seiner Ansicht nach perfekt zum Spargel passen, um den sich Elisabeth in der Küche kümmerte. Zimmermann und Sonntag würde es munden. Da konnte Lore Bradhering sagen, was sie wollte. Die wiederum seine Einladung kopfschüttelnd abgelehnt hatte. »Komm mir nicht mit so einem Schnickschnack. Spargel mit Grillfleisch. Das ist doch barbarisch. Zu Spargel gehören nur Salzkartoffeln und braune Butter. Höchstens noch eine Scheibe Schinken. Alles andere ist überflüssig. Nee, esst man euren neumodischen Krams alleine. Und am nächsten Sonntag kommt ihr beiden zu mir. Dann zeige ich euch mal, wie man das richtig macht.«

Richtig beleidigt hatte sie geklungen. Das Telefonat abrupt beendet. Als ob sie seine Experimentierfreude als persönlichen Angriff empfinden würde. Merkwürdig. Kempowski erschien es, als ob allesamt in der letzten Zeit dünnhäutiger geworden wären. Empfindlicher, gereizter. Das galt für Lore ebenso wie für das Team vom Partikel-Hof, wo die Spannungen zwischen Johanna Riese und Ann-Kathrin Seegers von Tag zu Tag mehr die Stimmung beeinträchtigten. Hakala-Holappa war auch nicht viel besser mit seiner geradezu manischen Besessenheit, mit der er das Schweigen Hans von Wustrows brechen wollte. Doch das hatte sich ja nun erledigt …

Dann noch Zimmermann und seine grüblerische Art. Aber er selbst konnte, musste sich ebenfalls an die eigene Nase fassen. Seitdem er wusste, dass er einen Halbbruder hatte, war er auch zumeist mit seinen Gedanken ganz woanders. Schließlich ging es ja nicht nur um einen Seitensprung seiner Mutter vor vielen Jahren, von dem sie ihm nie etwas erzählt hatte. Das war nicht das Problem. Aber zu wissen, durch Untersuchungen belegt, dass man mit einem Serienmörder verwandt ist, ihm zudem sogar äußerlich ähnelt, das beschäftigte ihn schon sehr. Was wäre, wenn ihn dann womöglich mehr mit dem Mann aus Müggenburg verbinden würde als nur die äußere Ähnlichkeit? Erst in der letzten Nacht hatte ihn diese Ungewissheit in schweißnasse Träume getrieben. Die frisch gewaschene Bettwäsche auf der Leine unterm Lindenbaum zeugte davon. Auch wenn sie scheinbar fröhlich im linden Maienwind flatterte. Erfreut beobachtet von Akeleien, Pfingstrosen, ersten Klatschmohnblüten. Ein friedliches Bild. Scheinbar. Doch trügerisches Postkartengartenidyll.

Denn hinzu kam, dass er Elisabeth noch nichts davon erzählt hatte. Aussprachen über Probleme waren nun mal nicht seine Art. Allerdings führte dies wiederum dazu, dass sein geliebtes Elseken ihm vermehrt zusetzte, seine Schweißattacken auf sein Rauchen zurückführte, seine Vorliebe für große Weine und kleine Brände. Was seine Seelennot weiter verschlimmerte.

»Kemp, wie sieht es aus, Robert hat gerade angerufen, sie werden in gut zehn Minuten da sein.«

Schon stand sie auf der Terrasse, richtete mit geschickten Griffen die Jasminblüten in kleinen Silbervasen, das gute Besteck in gleichem Material, die kunstvoll gefalteten weißen Servietten auf feinstem Tischtuch. Tauben, Schwäne und ein Pfau; Elisabeth Müller-Paul wusste um die Affinität Zimmermanns zur Vogelwelt.

»Wunderbar, mein Elseken, ich denke, in gut zwanzig Minuten wäre ich soweit. Dann passt das doch bestens und wir haben noch Zeit für einen Hugo.«

»Aber halt dich bitte zurück, ja, mein geliebter Kemp. Denk an die vergangene Nacht!« Sie versuchte neckisch mit dem Zeigefinger zu drohen. Ihr Blick zur tanzenden Wäsche sprach eine andere Sprache. Glücklicherweise verhinderte die schellende Türklingel weitere Reglementierungen. Sie enteilte.

Kehrte wenige Augenblicke später mit Zimmermann und Sonntag im Gefolge zurück. »Schau mal, mein Lieber, was die beiden Herren mitgebracht haben!«

Sie schwenkte einen riesigen Blumenstrauß vor ihrem Gesicht. »Lisianthus und Levkojen. Was für eine Pracht! Vielen …« »Besser als Jauche und Levkojen.« Zimmermann fiel ihr ins Wort und schmunzelte. Er wusste um die Freude der Bibliothekarin an literarischen Anspielungen und Verweisen. »Apropos Landidyllen. Die Herren Bernhard und Johannes lassen sich nochmals wie vielfach entschuldigen. Sie müssen zur Probe. Seitdem ihre Liebe zur Bühne erwacht ist, gibt es für die beiden nur noch eine Muse. Rund um die Uhr nahezu. Und gegen Thalias Charme sind selbst Sie machtlos, verehrte Elisabeth.«

Bernhard Gutzeit und Johannes Clauert waren tatsächlich erst vor wenigen Tagen als neue Sterne am Bühnenhimmel der Darß-Festspiele entdeckt worden. Im Borner Hafenbistro. Dort hatte Hermann Hutsch, der Intendant der Freilichtbühne, beobachtet, wie sie bei Fischbrötchen und Doppelkümmel saßen und ihre Scherze über gierige Möwen wie ungeduldige Touristen machten. Hutsch hatte auf den ersten Blick erkannt, was für komische Talente in ihnen schlummerten und sie vom Fleck weg für seine neue Inszenierung der ›Heiden von Kummerow‹ engagiert. Den pensionierten Pastor als Nachtwächter Bärensprung, einen etwas verlotterten Veteran, der nun im Armenhaus lebt. Für den Bestatter a.D. hatte Hutsch sogar eine neue Rollenidee kreiert: den tollpatschigen Totengräber Otto Diestelbruch. In beiden Fällen eine Traumbesetzung.

»Ja, das finde ich ja köstlich, dass die beiden Käuze noch einmal als Schauspieler reüssieren dürfen. Und dann noch mit Ehm Welk. Wie schön!« Müller-Paul wuselte hin und her. Derweilen sie sich weiter mit ihrem Besuch unterhielt. Suchte und fand schließlich ein passendes Gefäß fürs Bouquet im Fischlanddesign. Das natürlich hervorragend mit dem aufgedeckten Geschirr korrespondierte. Löbers typische Libellen aus dem Dornenhaus schwirrten mit Levkojen und Lisianthus einem besonderen Gaumengenuss unter freiem Himmel entgegen. Während die Hausherrin weiter schnatterte. Kempowski konzentrierte sich hingegen schweigend und verbissen auf das Finale seiner Grillperformance. Richard Sonntag assistierte ihm dabei. Sah in stiller Vorfreude dem verheißungsvollen Mahl entgegen.

Elisabeth Müller-Paul hatte derweilen mehrere Schüsseln mit Spargel sowie Saucieren aufgetischt. Sonntag ließ seinen Blick über die Speiselandschaft wandern. Suchend. Die Gastgeberin nahm ihn auf. Kam seiner Frage zuvor. »Auf Kartoffeln werden Sie verzichten müssen, mein lieber Herr Richard. Low-Carb heißt die Devise. Damit wir alle bald wieder eine Bella Figura für den Strand haben.« Ihr »alle« galt jedoch vornehmlich Kempowski, dessen Leibesmitte seine Gattin bei ihren Worten Missbilligung geschenkt hatte.

»Nun darf ich Sie aber zu Tisch bitten, meine Herren. Und zugleich um noch einen klitzekleinen Augenblick für …«

Zimmermann ahnte, was nun kam. So gut kannte er die Bibliothekarin und Büchernärrin, dass ihm klar war, dass sie es nicht bei einem einfachen »Guten Appetit!« bewenden lassen konnte.

Mindestens ein Zitat oder einige poetische Zeilen als Vorspeise mussten es sein. Er sollte recht behalten.

»… für ein, zwei Verse meiner verehrten Martha Müller-Grählert:

›Mailied

Maientied, güldne Tied,

Endlich werret ist’s sowiet!

Blaumenbläder fallen sacht,

Sünnenschien, de blänkt un lacht,

Un min Seel, so wintermeud,

De juchzt vör Freud!‹«

Sie machte eine kurze Pause. Bedeutungsvoll. Setzte dann fort.

»›Maientied, gülden Tied,

Ach, so rasch büst du avsiet!

Nächstes Johr, dat kann woll sin,

Dat ick hier denn nich mihr bün,

Blumenbläder fallen av

Denn up min Grav!‹

Schön, nicht wahr? Aber was schaut ihr denn so bedröppelt? Martha war nun einmal auch eine Freundin der melancholischen Töne. Ließ nicht nur die Ostseewellen munter an den Strand trecken, sondern auch den Herbst, den Tod, die Vergänglichkeit zu Worte kommen. Doch, ich habe auch noch etwas Heiteres auf Lager. Ohren auf:

›Asparagus

Wenn im Mai bläst Pan die Flöte,

Weil es Wonnemonat ist,

Schießt der Spargel auf vom Beete,

Das gedüngt mit Pferdemist.

Morgens kommen weiße Köpfe

Aus der grauen Erd’ heraus.

Mittags schleicht schon aus Töpfen

Wundersamer Duft ums Haus.

Ach, welch eine schöne Gabe

Hast Du, Herr uns da bestellt!

Wenn ich einen Spargel habe,

Habe ich die ganze Welt.‹

Julie Schrader, der ›Welfische Schwan‹. Allerdings ist ja ihre Autorinnenschaft inzwischen sehr umstritten. Auch so eine Geschichte. War eine ganz einfache Frau aus dem Hannöverschen. Hat als Magd, Hausdame gearbeitet. Und ist ins Wasser gegangen. Am 17. November 1939. Einen Tag später ist dann Martha Müller-Grählert gestorben. Ist das nicht sonderbar? Wie so alles zusammenhängt … Doch …«

Die drei Männer wurden langsam ungeduldig. Konnten den einladenden Aromen kaum noch widerstehen. So erlöste sie die Gastgeberin. Endlich.

»Laat jo nich lang nödigen!«

Das ließen sich die drei Hungerherren wahrlich nicht. Sie legten los. Füllten Teller. Leerten sie. Genossen Wein, Grillgut und die subterranen Leckerstangen. Still. Schweigend. Dezent schmatzend.

Derweilen Elisabeth Müller-Paul weiter plapperte. Natürlich von ihrem Lieblingsthema. Der Bücherwelt. Lobpreiste so wortreich die neue Entdeckung für das Literaturprogramm des Partikel-Hofes: Hans Jürgen von der Wense, eine schillernde wie originelle Universalgelehrtenpersönlichkeit, der zum Freundeskreis der Wustrower Künstlerin Hedwig Woermann gehört hatte. In den Zwanzigerjahren war er oftmals auf dem Fischland, durchwanderte die Halbinsel, bevorzugt in den Wintermonaten, und arbeitete eine Zeitlang vor Ort, wo ihm Woermann und ihr Künstlergatte Johann Jaenichen in der alten Fischräucherei in Barnstorf Arbeitszimmer und Unterschlupf eingerichtet hatten.

Müller-Paul war vollkommen fasziniert von diesem Paradiesvogel, der zeitlebens keinem offiziellen Beruf nachgegangen war, dafür aber als Komponist, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Übersetzer höchst exotischer Sprachen einen ganz eigenen Kosmos geschaffen hatte. Sie bezeichnete ihn als »Mystagogen«, als Priester geheimnisvoller Mysterienkulte. Gerhard Schiffers würde von der Wense zum Eröffnungsspektakel des neuen Museums einen Vortrag widmen und ihn in den folgenden Wochen in mehreren Lesungen vorstellen.

Kempowski kam nicht umhin, Elisabeths Begeisterung mit etwas gemischten Gefühlen zu registrieren. Schließlich waren sie und der Buchhändler lange Jahre ein Paar gewesen. Er zog es dennoch vor, auf bissige Kommentare zu verzichten, die ihm auf der Zunge lagen. Schiffers doch etwas unstetes Liebesleben lieferte dafür ja genug Stoff.

 

Stattdessen ließ er sich das letzte Spargelköpfchen auf der Zunge zergehen und hüllte sich in Schweigen wie freudige Erwartung des Desserts. Ein leichtes Erdbeer-Sorbet.

Elisabeth holte es gerade aus der Küche, als das Telefon klingelte. Festanschluss. Dennoch mit Marthas Lied von den Ostseewellen als Fanfare. Sie balancierte das Tablett mit den vorgekühlten Schälchen in der einen Hand. Nahm mit der anderen den Hörer ab. Meldete sich flötend. »Elisabeth Müller-Paul. Einen wunderschönen Maientag.« Wenige Momente später nur knallte der Nachtisch aufs Korridorparkett. Scherben klirrten. Erdbeereiskristalle kullerten über den Boden. Und Elisabeths Erschrecken bahnte sich den Weg zur Tafelrunde. Lauthals. »Was? Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein! Eine Leiche? In Zingst? Auf dem Friedhof? Mitten auf dem Grab von Martha Müller-Grählert?«