Ahrenshooper Spinnenweg

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6. Parafroneta pilosa

»Also diese Kurve zwischen Wieck und Prerow hat es wirklich in sich. Diese Ellenbogenkurve. Ist schon einiges passiert. Böse Unfälle. Aber dass es den Wolfgang Tiedje da erwischt? Wirklich merkwürdig. Hab das nur am Rande mitbekommen. Wir waren ja unterwegs. Doch, das finde ich mehr als merkwürdig. Kam doch aus der Gegend der Bursche, aus Pruchten, glaube ich. Feiner Bengel war das. Ganz feiner Bengel. Hat früher sogar Rennen gefahren. Speedway und so. Dass so einer sich von ein bisschen Glatteis aus der Bahn werfen lässt? Unglaublich. Das ist so, als wenn sich ein Frisör beim Rasieren das Ohr abschneidet und daran verblutet. Guck mal, gleich sind wir da.«

Richard Sonntag sprudelte wie ein Wasserfall. Derweilen der Regen mit nahezu gleicher Intensität gegen die Frontscheibe prasselte. Zimmermann war es gleich. Er war nur froh, dem Friedhof entkommen zu sein. Den Freunden, ihren unausgesprochenen Fragen, traurigen Frageblicken. Er hatte sich knapp rundum entschuldigt: »Wisst ihr, mir geht es nicht so gut. Das Wetter, der Regen, das Alter …« Und hatte sich dann mit seinem Fahrerfreund durch die Phalanx der Medienvertreter geschlagen. Widerwärtig. Wie nach so einem großen Prozess. Wie die Schmeißfliegen hatten sie die Trauergäste bedrängt. Auf sie eingeschrien. Fragend, bellend, fotografierend. Kempowskis Verweise auf Datenschutz und das Recht am eigenen Bild waren höhnisch weggeknipst worden. Ja, wie die Schmeißfliegen. Und ekliger als jene, die im mürben Hinterlauf des Goldschakals ihre Kinderstube gefunden hatten.

Nun waren sie auf dem Weg zur Prerower Teeschale. Doch zuvor musste Richard Sonntag natürlich noch die Unfallstelle genau in Augenschein nehmen, wo sich dieser unglückselige Fahrlehrer mit seinem Motorrad zu Tode gefahren hatte. Was Zimmermann eigentlich recht gleichgültig war. Doch dem Freunde zuliebe tat er so, als ob er zuhörte. Interessiert sogar. Besser zuhören als selbst reden zu müssen.

»Ach du grüne Neune, was ist das denn? Zimmermann, siehst du das? Nicht zu glauben!« Sonntag steuerte seinen Wagen, einen größeren mit Stern, behutsam durch die nun auch noch regennassschmierige Kurve und hielt wenige Meter weiter etwas schräg in einer kleinen Nothaltebucht. »Hast du das gesehen? Das muss ich mir aus der Nähe anschauen! Kommst du mit?« »Eher ungern. Nein, danke für die sicher vielversprechende Einladung. Aber, du hast ja gehört, was ich den anderen gesagt habe: Der Regen, das Alter …« Zimmermann zog das trockene und gemütlich warme Fahrzeuginnere irgendwelchen verwegenen Manövern inmitten des mehr als regen Verkehrs vor. Beobachtete im Rückspiegel, wie sich der Wütende in eine grellorange Warnweste zwängte und mit nervösen Gesten die Straße überquerte. Bald jedoch hatten Innenwärme und Außennass die Scheiben in Milchglas verwandelt. Das monotone Blinkblank des aktivierten Alarmlichtes tat ein Übriges. Er drusselte leicht ein.

Wurde jedoch wenig später jäh geweckt. Aufgeschreckt. Von aufgerissener Fahrertür. Sowie aufgedrehter Fahrerstimme: »So eine Schweinerei! Da war dieser Irre vom Friedhof auch zugange. Hat sich am Kreuz vergangen, das die Familie für Wolfgang aufgestellt hat. Seine Yvonne und Svenja, seine Tochter. Da hängen jetzt Schädel dran; wenigstens blanke, ohne Fell, Fleisch und anderen Schmadderkrams. Einen Rehbock habe ich erkannt. Einen Dachs, glaube ich, auch. Und noch ein paar kleinere. Von Vögeln. Mäusen. Unglaublich! Ich habe ein paar Fotos gemacht. Wir wollen ja sowieso nach Prerow. Da werde ich gleich einmal in der Wache vorbeischauen und denen Bescheid sagen. Das geht doch nicht, sowas! Sag doch mal was, Zimmermann. Was ist denn bloß los mit dir, dass dir auf einmal alles, verzeih mir, dass ich direkt werde, aber auch wirklich alles irgendwie am Arsch vorbeigeht?«

Er hatte es befürchtet. Kommen sehen, dass irgendwann auch Richard Sonntag seine Zurückhaltung ablegen würde. Um zum Bohrer zu werden, der seinen Nerv traf.

»Verzeih mir, mein Bester. Ich weiß ja, dass ich die letzten Tage komisch bin. Eine Zumutung für euch. Doch …« Zimmermann machte eine Pause. Suchte nach Worten. Sowie jenem Knopf am Armaturenbrett, mit dem man den gebetsmühlengleichen Klingklang der Warnblinkanlage abstellen konnte. Sonntag half ihm. Erlöste ihn. Und die nun eintretende Ruhe löste endlich auch Zimmermanns Knoten. Er offenbarte sich.

»Ich bin jemanden begegnet. Während unseres Besuches in Cieplice Śląskie-Zdrój, dem alten Bad Warmbrunn. Im Kurpark. Eigentlich schon etwas früher, in der Therme. Jemanden, der Macht über mich hat. Und das seit mehr als 80 Jahren. Eine Macht, von der ich gar nicht mehr wusste, dass sie existent ist. Die ich verdrängen wollte, als Kind schon, als junger Mann sowieso. Mit Vehemenz. Vergessen. Und die ich schließlich auch vergessen habe. Hatte. Verdrängt. Irgendwo in der Tiefe meiner Seele. Doch dann, in diesem schönen, lauschigen Park an jenem herrlichen Maientag, da hat ein Blick nur ausgereicht, um sie zu neuem Leben zu erwecken. Hervorzuholen. Und nun sitzt dieser Knabe wie ein Alb auf meiner Brust und die Gedanken an ihn spinnen all mein anderes Denken ein. Wie die Gespinste von diesem Falter, die Zweige, Äste, ganze Bäume befallen, überfallen …«

»Du meinst diesen Eichenprozessionsspinner. Ich kenne das nur von meinen Sorgen um mein kleines Unternehmen; Rechnungen, jede Menge Abgaben und dann natürlich das Finanzamt. Ja, das kann einen schon ersticken. Doch, wer ist denn dieser Bursche, der so eine Macht über dich hat? Wenn es ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut ist, muss er, sorry, auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben.«

»Die hat er, unbestreitbar. Ist sogar noch etwas älter als ich. Jahrgang 1922. Uralt. Hinfällig. Ein richtiger Tattergreis. Selbst ich könnte ihn wahrscheinlich mit einer kräftigen Ohrfeige zu Boden strecken.« Die vage Andeutung eines Lächelns huschte über Zimmermanns Lippen. Ein kurzer Anflug nur.

»Und doch ist er für mich das … ja, das Gesicht des Hakenkreuzes. Nicht Hitler, noch Goebbels, auch nicht Himmler, Heydrich, Göring und wie sie alle hießen. Ebenso wenig die Millionen Erfüllungsgehilfen, Mitläufer und Ich-hab-von-nichts-gewusst-Chargen. Nein, für mich hat der Faschismus deutscher Machart einen einzigen Namen, eine Seele, ein Gesicht. Dem ich noch ein einziges Mal begegnen möchte. Dabei weiß ich eigentlich gar nichts über ihn, seinen weiteren Werdegang im sogenannten Dritten Reich. Außer, dass er 1935 ein glühender Nazi war. Der mir wehgetan hat. Sehr weh. Unfassbar tief.«

»Dann lass uns den alten Knaben finden, mein Freund. OK, du hast ihn in Warmbrunn wiedergesehen. Wo er aber wahrscheinlich nicht wohnt, sondern nur im Urlaub war, zur Kur oder als Tagesausflügler. Das müsste man recherchieren. Allerdings sollte man das Pferd vielleicht besser von hinten aufzäumen. Wo kommt er denn her, dein böser Dämon?«

»Vielen Dank für dein Angebot. Ja, du hast recht, ich, wir sollten die Geschichte von hinten aufrollen. Und – von hier aus. Denn Olaf, Olaf Hegerdorp kommt aus dieser Gegend. Genauer gesagt aus Althagen. Wo heute aber keine Menschen mehr dieses Namens leben. Das habe ich schon überprüft. Auch in den anderen Orten nicht. Außerdem nennt er sich inzwischen Günter. So wurde er wenigstens von einer Frau angesprochen, die ich für seine Tochter oder Schwiegertochter halte. Dieser Umstand der Namensänderung bestätigt mich ja in meiner Ahnung, dass es mit ihm und seiner Karriere bis 1945 eine besondere Bewandtnis hat.« »Da stimme ich dir zu. Neue Namen, neue Existenzen, das lässt einiges an Vermutungen zu. Aber, weißt du was? Wir machen Nägel mit Köpfen. Gleich heute. Jetzt.« Sonntag startete das Auto. Blinkte. Gab Gas. Vollgas. »In Prerow sitzt doch dieser Herr von Stenglin in seiner Bücherstube. Hinten am Bernsteinweg. Und der ist beinahe so in deinem Alter. Ich weiß zwar nicht, ob er schon immer hier oben gelebt hat, damals schon. Allerdings stammt seine Frau definitiv aus Prerow. Seine Barbara. Geborene von Wedelstädt. Der Stenglin ist noch richtig fit im Kopf. Vielleicht weiß der ja mehr? Den besuchen wir. Subito. Die Polizei kann warten.«

Zimmermann fühlte, wie seine latente Schwermut der letzten Tage einer gewissen Abenteuerlust wich. Doch, er wollte unbedingt herausfinden, wer Olaf Hegerdorp gewesen war. Was er getan oder nicht getan hatte. Und wo er jetzt lebte. Und er ahnte auch, dass ihm bei dieser Suche Zeitzeugen am meisten helfen würden. Ungeachtet aller modernen Technologien und Möglichkeiten.

Eine gute Viertelstunde später erhielt seine neugewonnene Zuversicht allerdings einen kleinen Nasenstüber. Die Nordische Buch- und Kunsthandlung war geschlossen. Wegen Urlaub. Und auch unter der an der Ladentür angeschlagenen Telefonnummer meldete sich niemand.

»Lass den Kopf nicht hängen. Wir finden den Kerl. Morgen ist auch noch ein Tag. Dann eben doch erstmal zur Polizei. Die Teeschale hat ja leider auch zu.« Flugs wendete Richard Sonntag und setzte die Fahrt fort. Die ihn forderte. Seine ganze Konzentration erforderte. Denn es hatte aufgehört zu regnen. Sogar einige Sonnenstrahlen trauten sich hervor. Sowie Unmengen von Radfahrern. Mountainbikes und hochwertige Tourenräder, die überwiegende Zahl davon mit Elektromotoren, strömten über die Straßen. Kreuz und quer. Von links nach rechts. Stets ohne Blick nach hinten. Geschweige denn irgendwelcher Rücksicht. Man trug ja Helm.

Sonntag stöhnte. »Diese Deppen werden auch von Jahr zu Jahr mehr. Eine echte Plage. Doch wenn ich es wagen würde zu hupen, nur ganz kurz, dann würden die uns aus dem Auto zerren und am nächstbesten Laternenpfahl aufknüpfen.« Zimmermann nickte stumme Zustimmung. Auch er empfand das allgegenwärtig rollende Radlerheer unangenehm, störend, nahezu bedrohlich. Selbst wenn der Anblick so mancher Strampler, deren übergewichtige Körper und Gliedmaßen in farbenfrohe und trendig teure Trikots und Höschen gezwängt worden waren, einen eher erheiternden Anblick boten.

 

Der Höhepunkt nervlicher Herausforderung wartete aber noch auf sie. Etwa in der Ortsmitte kam auf einmal ein skurril anmutendes Gespann wie aus dem Nichts auf die Waldstraße geschossen. Ein uraltes Fahrrad mit Anhänger. In dem aber keine Krabbelkinder oder Kurzbeinhunde durch die Gegend chauffiert wurden. Sondern ein Gebirge aus Schrott. Sperrmüll. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Konglomerat aus diversen Metallteilen, Stangen, Schilfmatten, Zeltplanen, Netzen, Teppichen und sonstigen ausgedienten Objekten quoll in mehrfacher Meterbreite über das kleine Gefährt. Es gab kein Vorbei. Zimmermann hatte daher Zeit, sich den Fahrer genauer anzuschauen. Soweit dies von hinten möglich war. Er wirkte auf gewisse Weise fröhlich. Bewegte sich beim Treten der Pedale, als ob er singen und mitschwingen würde. Passend dazu tanzte sein wildgelockter Rotschopf munter verwegen im Fahrtwind. Er erinnerte Zimmermann ein wenig an den jungen Art Garfunkel. Das war garantiert kein Tourist. Zumal der Schrotterer auch nicht die typische praktische Pfötchengarderobe oder die Pseudoprofipellen jener Klientel trug. Stattdessen einen etwas angeschmuddelten Strickpullover, auf der Farbskala irgendwo zwischen Eierschale und Ocker anzusiedeln. Auf dem ein Name prangte. In Großbuchstaben. Mit grünen Stofffetzen aufgenäht: BASTIAN.

7. Devade tenella

»Bastian ist ein Künstler! Ohne Wenn und Aber. Und das was er macht, ist echte Kunst. Richtige. Ernsthafte. Ernstzunehmende. Nenne es nun Art brut, Outsider Art oder sonst wie. Warum willst du das nicht kapieren, Hanne? Das versteh ich wirklich nicht. Wo du doch sonst so ein Gespür für echte Künstler hast. Gerade für schwierige. Denk doch nur an deine Vorliebe für unseren Hans Brass. Den ewigen Flüchter, den Unsteten in seiner Liebe zu Ahrenshoop und seiner Martha. Oder an unseren Jo. Den armen Majakowski.« Ann-Kathrin Seegers hatte sich in Rage geredet. Rupfte einen Zweig von einem der gerade erst im Kunstgarten des Partikel-Hofs gepflanzten Ginstersträucher. Fuchtelte damit herum wie Herbert von Karajan auf LSD.

Andreas Kempowski war heilfroh, dass diese »klärende Aussprache« zwischen der ansonsten eher friedfertigen, geradezu harmoniesüchtigen Keramikerin und Dr. Johanna Riese, Direktorin des Ahrenshooper Kunstmuseums sowie eine der Leiterinnen des neuen Hauses am Paetowweg, im Freien stattfand. Hier konnte er, den die beiden als Mediator, ausgleichenden Schiedsrichter hinzugebeten hatten, wenigstens rauchen. Den Blick von den streitenden Frauen abwenden, über wogendes Schilf, die Wellen des Boddens wandern lassen. Beruhigend! Ganz anders der Disput der Damen. Von denen nun Johanna Riese zum Gegenangriff ansetzte. Die Augen zusammengekniffen. Zu schmalen Schlitzen. Zwischen denen es loderte. Durch deren Wimpern Blitze funkelten. Abschussbereit.

»Erstens, mein liebes Ännchen, mag ich es nicht, wenn du, wenn man mich Hanne nennt. Überhaupt nicht. Das weißt du nur zu gut. Und zweitens finde ich es nun einmal unverantwortlich, dass du, obgleich das nun gar nicht in deinem definierten Aufgabenbereich im Komplex unserer Stiftungsarbeit liegt, diesen Bastian dergestalt protegierst, ja unser Team geradezu in einer Art Handstreich überrumpelt hast, auf dass unsere »Freunde« – Riese machte eine Pause. Provokant. – »Freunde« sich vor deinen Karren haben spannen lassen. Doch die Wahl dieses Bastians als ersten Stipendiaten unseres Hauses ist nicht nur aufgrund seiner zweifelhaften künstlerisch autonomen Qualität unverantwortlich. Allein schon der versicherungstechnische Aspekt bereitet mir schlaflose Nächte. Denn wenn ich sein, euer, dein »Konzept« richtig verstehe, deute, sollen sich seine zusammengebastelten Scheiterhäuflein ja vorsätzlich während der angedachten Ausstellungsdauer auflösen, von Wind und Wetter abgetragen, fortgetragen werden.« Erneut hob sie die Anführungsstriche rhetorisch akzentuiert hervor. »Was nun, wenn da jemand zu Schaden kommt? Von irgendwelchen herumfliegenden, herunterstürzenden Teilen verletzt wird? Darüber stolpert? An die ästhetische Komponente mag ich gar nicht denken. Unser schönes Anwesen, die Sanddorngehölze. Die Stechpalmen, der Ginster, die Feldsteinmauern mit Mohn und Heckenrosen. Und natürlich die wundervollen Skulpturen von der von mir so hochgeschätzten Hertha von Guttenberg. Zusätzlich überall der Müll deines Schützlings, irgendwelche Stangen, Ranken, Schnüre, Netze, womöglich Plastikzeugs. Das dann über die Wiesen zieht. Im Bodden landet. Das kann doch nur Schwierigkeiten mit sich bringen. Anzeigen. Prozesse womöglich; Schadenersatz, Konflikte mit dem Nationalparkamt, Umweltauflagen und was da noch alles auf uns zukommt.«

Kempowski gratulierte sich, dass er daran gedacht hatte, seinen kleinen Aschenbecher für unterwegs einzustecken. Wenn er jetzt auch noch seine Kippe auf dem Mulchweg austreten würde, hätte er von der aufgewühlten Kunstdoktorin mehr als nur einen bösen Blick geerntet. Allerdings gab er ihr schon ein wenig recht. Er schaute zu den acht Pavillons, die ihn an Jurten erinnerten, wobei die Zeltbahnen noch aus Beständen der NVA zu stammen schienen. Seegers hingegen bezeichnete sie als Werkhütten. Als Laboratorien der Kreativität. In denen Großartiges entstehen würde. Einzigartiges. Vor denen zurzeit aber noch wirre Haufen der unterschiedlichsten Materialien lagerten. Jede Menge »gebrauchte Gegenstände«, die man getrost als Schrott oder, positiv wertend, als Altmetall bezeichnen könnte. Der Anblick ähnelte für ihn ein bisschen diesem abenteuerlichen Grundstück am Wiecker Müggenberg, dessen Eigentümer ebenfalls eine ausgeprägte Sammelleidenschaft besaß und seine Schätze bisweilen im Rahmen eines Hofflohmarktes den vorbeiradelnden Touristen zum Kauf anbot.

Für Bastian waren diese Objekte jedoch Wesen, fast schon Lebewesen. Denen er, so hatte es Kempowski zumindest aus Seegers Ausführungen herausgehört, ihre wahre Würde zurückschenken wollte, indem er sie in verschiedene Schichten einhüllte, einkleidete und auf diese Weise ihre äußere Erscheinung umgestaltete. Die dann aber in der Gedankenwelt des Künstlers wiederum die eigentliche, die authentische Aura des jeweiligen Dinges darstellen würde. Dessen wahres Wesen. Doch nur situativ, temporär, ephemer, für kurze Dauer, da diese Umhüllungen aus Schilf, anderen Gräsern, Farnwedeln, Zweigen, Wurzeln und weiteren, überwiegend organischen Stoffen anschließend der Unbill der Natur ausgesetzt würden. Von Regen und Sonnenschein, Gewitter und Sturm zerfleddert, vertrocknet, aufgeplatzt, abgelöst, bis dann sukzessive wieder der eigentliche Corpus erscheinen würde. Ein eigentümlicher Prozess. Der für Bastian den Weg des Lebens darstellte. Zwischen Geburt und Tod. An dessen Ende allem und jedem ein Ende im falschen Schein erwartete. Diese düstere Sicht, diese Arbeitsweise, nach der die Zerstörung das Ziel des Schaffens darstellte, passte für Kempowski eigentlich überhaupt nicht zur Person dieses Bastians, den er richtig nett, sympathisch fand. Ein freundlicher, sanfter, fröhlicher Mann Mitte Fünfzig, der stets lächelte, vor sich hin summte oder flötete. Sicherlich, schon eigen und eben nicht normal, doch Kempowski fiel es schwer, ihn als Behinderten einzuordnen, als »Menschen mit psychischem Handicap«. Klar, Bastian hatte »einen an der Waffel«. Aber traf das nicht auch für ihn zu? Für Zimmermann, Hakala-Holappa, Clauert, den alten Bestatter und die ganze Künstlerbande? Mit Sicherheit. Besondere Menschen mit Charakter und Charisma waren nun einmal etwas eigen.

Dr. Johanna Riese natürlich mitgerechnet. Die nun auf ihre ganz eigene, spitzfindige wie schmallippige Art ihre Vorbehaltskanonade und Vorwurfssuade fortsetzte. »Last, but not least ist da noch die vollkommen ungeklärte Situation mit Werners-Wiedehopf. Der das vermeintliche Talent deines Bastians ja schließlich entdeckt hat und ihn als Galerist vertritt. Mit nicht geringem Erfolg; auch wenn mir das als Kunstexpertin wie Kunstliebhaberin vollkommen schleierhaft ist.«

»Hör mir doch mit dem auf, Hanne. Werners-Wiedehopf, dieser widerwärtige, aalglatte Schnösel und Galerist der Schönen und Reichen. Das ist doch der reinste Ausbeuter. Sicherlich, er hat früh erkannt, welches Potenzial in Bastian schlummert, als er ihm auf irgendeiner Charityveranstaltung von den Rotariern begegnet ist. Adventsbasar oder so. Hat sich dann als großer Entdecker und Förderer aufgespielt. Zugegebenermaßen die ersten Arbeiten verkauft. Sogar bis nach Japan. Wo Bastians frühe Werke richtig gut ankommen. Seine Einschnürungen, Flechtwerke. Aus seiner Schutzphase, wo er die Sachen vor den Blicken der Bösen verstecken wollte. Aber sonst; Werners-Wiedehopf ist Bastian als Mensch und Künstler scheißegal. Der will nur Kohle mit ihm machen. Von der er bis zum heutigen Tage nur Almosen gesehen hat. Ein paar läppische Geschenke. Wie dieses uralte Fahrrad mit dem Anhänger. Mal neue Stiefel, tatsächlich neue; waren wohl runtergesetzt. Ein paar Knäuel Bindfaden und Drachenschnüre noch. Und eine Spende für das Atelier der Lebenshilfe. Aber ansonsten – Pustekuchen. Nulla, niente di niente. Beruft sich darauf, dass der große Geldsegen kommt, wenn er dann offiziell sein gesetzlicher Betreuer ist. Aber, soweit wird es nicht kommen. Bislang sind die Behörden vorsichtig. Glücklicherweise. Außerdem bin ich ja auch noch da.«

Die letzten Worte hatte Ann-Kathrin Seegers nur noch zu sich selbst gesprochen. Und zu Kempowski. Dr. Johanna Riese hatte sich wortlos verabschiedet. Mit vielsagendem Augäpfelrollen. Einer wegwerfenden Geste. Dann war sie im Hauptgebäude des Museums des Verschwindens verschwunden. Widmete sich nun wahrscheinlich den letzten Hängungen ihrer Ausstellung zum Wirken Alfred Partikels, ihrem Beitrag zur großen Premiere des Partikel-Hofes. Unter dem poetischen wie ahnungsvollen Titel ›Als der Pirol im Garten sang‹ erwarteten das Publikum dort Arbeiten des Landschaftsmalers zu seinen drei Kindern Barbara, Adrian und Cornelia sowie dem Motivkreis Familie. Begleitet und kongenial akzentuiert von Zeichnungen, Skizzen, auch plastischen Arbeiten von Gerhard Marcks zu diesem Thema, der ein enger Freund Partikels gewesen war. Eine schöne Präsentation, in diesem Punkt war sich nicht nur Kempowski sicher. Harmonie mit einer Spur, einem Schatten Melancholie. Auf jeden Fall ein Besuchermagnet. Und garantiert konfliktfrei.

Für das ambitionierte Experiment Ann-Kathrin Seegers befürchtete er das Gegenteil. Sicherlich. Ihm gefielen die krausen Gedankengänge Bastians. Sein verschrobenes wie verschobenes Spiel mit Schein und Sein, Aura und Karma, Wesen und Wirklichkeit, Täuschung und Enttäuschung. Gerade, weil Bastian die Definitionen spiegelte und bekannte Denkmuster durcheinander pustete. Doch es mangelte Kempowski dann schon an Fantasie und Vorstellungskraft, um sich das wahre Wesen von Gebilden wie zum Beispiel dieser ausgedienten Betonmischmaschine zu visualisieren, die der Künstler gerade in eines seiner Zauberzelte schob. Da waren ihm die frühen Arbeiten näher, diese eingewickelten, verschnürten, verwebten und in anderen Techniken verpackten Dinge des Alltags, von denen er bislang nur Fotos gesehen hatte.

Auch der dahinterstehende Gedanke, dass Bastian diese Objekte durch seinen Eingriff vor den Blicken anderer Menschen schützen, beziehungsweise sie vor einer Nutzung gemäß ihrer eigentlichen Funktion bewahren wollte, gefiel ihm. Das war schön verquer. Unnütz. Irrational.

Wie ihm die Seegers erzählt hatte, fand Bastian wohl als Jugendlicher zu dieser Ausdrucksform. Etwa im Alter von 16, 17 Jahren. Damals befand er sich in Stralsund, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seine Eltern und seine jüngere Schwester Irmela waren einige Monate zuvor bei einem Fluchtversuch mit einem Fischerboot in der Ostsee ertrunken. Bastian hatte überlebt und war nach einigen Wochen in der Klinik wieder zurück ins Elternhaus in Pruchten gekommen, wo noch die Großmutter lebte. Ann-Kathrin hatte das Drama seinerzeit mehr oder weniger miterlebt, da sie nur ein paar Häuser entfernt aufgewachsen war und die Familie kannte. Bastian war schon vor der Tragödie ein merkwürdiger Junge gewesen, der viele Probleme in der Schule und im sonstigen Leben hatte. Seine Sonderbarkeit war letztendlich der ausschlaggebende Grund für die geplante Republikflucht gewesen. Ungeachtet seiner sich nach dem Unglück immer mehr verstärkenden Verschlossenheit war er sich dieses Zusammenhanges bewusst. Hatte sich schuldig gefühlt. Und schließlich versucht, sich umzubringen. Aufzuhängen. Die vollkommen überforderte Großmutter konnte ihn zwar noch in letzter Minute retten, hatte dann jedoch schweren Herzens seiner Einweisung in eine Einrichtung zugestimmt.

 

Dort hatte er dann begonnen, seine wenigen Besitztümer mit zerrissenen Bettlaken einzuwickeln. Sein erstes Werk war wohl sein Kinderbesteck gewesen, das ihm seine Oma einst zur Geburt geschenkt hatte und an dem er sehr hing. Ein Löffel, ein Messer, eine Gabel. In einfacher Ausführung. Mit kleinen Tierchen. Im Griff eingeprägt. Ein Bienchen. Ein Schmetterling. Und ein Marienkäfer. Die Schwestern hatten das zunächst unterbunden. Natürlich. Normal war ein solches Verhalten ja nicht. Und ihm das Besteck abgenommen. So folgte als nächstes sein Sandmännchen. Und die gleiche Reaktion von Seiten des Personals. Als er nach einigen Wochen keinerlei Spielzeug oder sonstiges besaß, begann er, sein Bett, den Nachtschrank und schließlich sich selbst dergestalt zu »mumifizieren«, wie es in seiner Krankenakte vermerkt worden war. Ein beschissenes Schicksal.

»Ein Rätsel für Herrn Andreas. Was ist das?« Das nun vor ihm stand. Breitbeinig. Kraftvoll. Fröhlich. Kempowski hatte gar nicht mitbekommen, dass Bastian sein Werkstattzelt verlassen hatte. Den Garten durchschritten. Nun vor ihm stand. Angesichts dessen, was er über den Leidensweg des Jungen, jungen Mannes durchs Leben, durch Psychiatrien, Heime, Jugendwerkhof und sonstige Anstalten wusste, wunderte es ihn immer wieder, wie gesund und natürlich Bastian wirkte.

Der nun sein Fragespiel fortsetzte »Was ist das? Das kleine Ding plumpst ins Meer. Das große Tier schnappt zu. Schluckt es herunter. Was ist das?« Kempowski musste unwillkürlich an Kaspar Hauser denken. An die grandiose Verfilmung von Werner Herzog. Mit dem unvergleichlichen Bruno S. als Findling. Der ja auch irgendwo aus der Ecke von Asperger kam. Sein Verwandter im Geiste streckte ihm nun seine Hände entgegen. Kräftige Werkzeuge. Geschlossen. Auf den braun gebrannten Handrücken kräuselten sich rote Härchen. Kempowski spielte mit. Schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich bin nicht so gut im Raten.« Und freute sich nun an der Freude des Fragestellers. »Eine Walnuss, Herr Andreas. Der Kern des Walfisches ist die Walnuss. Denn das Kleine ist größer als das Große.« Glucksend drehte Bastian seine Hände um. Öffnete sie. In seiner linken Handfläche lag eine taube Nuss. Mit Loch. Von einem Siebenschläfer angeknabbert. Er reichte sie Kempowski. Die andere, frische Walnuss nahm er selbst. Knackte sie. Ein kräftiger Biss. Strahlend weißer Zähne.