Ahrenshooper Spinnenweg

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4. Agelena labyrinthica





Wilhelm Hakala-Holappa wurde vom Flieder geweckt. Dessen Schwersüßduft durch das offene Flügelfenster seines Arbeitszimmers schwebte. Hereingeweht vom Mondenschein. Er musste eingenickt sein. Eingeschlafen. Mit dem Hörer seines greisenalten Telefons in der Hand. Ein ehrwürdiger Apparat: Bakelit, Ringelschnur und das ehrliche Klingeln aus vergangenen Klangkosmen: Firma Hesselbach. Der Kommissar. Stahlnetz. Das Fenster zum Hof.



Der Psychologe und Profiler mit finnischem Vater und Mama aus der Schweiz liebte sein Delifon, schleppte es seit Jahrzehnten von Wohnung zu Wohnung, Land zu Land, Stadt zu Stadt. Wobei sein gegenwärtiger Wohnsitz Born am Darß eher als Ortschaft zu bezeichnen war. Zu später oder früher Stunde durchaus auch als Dorf. Wilhelm lauschte durch die Schemen der Bäume und Büsche des Gartens in die Nacht. Kein Mensch war zu hören. Kein menschlicher Laut. Keine Musik. Kein Auto. Lediglich ein paar schlaflose Rinder vom nahen Gut zählten muhend Schäfchen. Und Wotan, der hochsensible Rauhaardackel der gegenwärtigen Feriengäste in der benachbarten Alten Gärtnerei, ließ sich knurrbellend von Lisbeth ärgern, dem fuchsroten Kater, der inzwischen zum Hausstand von Hakala-Holappa und seinem Mann Matti gehörte.



In erinnerndem Erwachen hob er den Telefonhörer, schaute in die kleinen Öffnungen der Ohrmuschel wie in einen Spiegel und nahm den Verwunderungsfaden wieder auf, der ihn nach dem Gespräch mit Zimmermann wohl in den Schlaf gesponnen hatte. Warum nur war der Freund so kurz angebunden gewesen? Warum hatte der ansonsten zumeist freundliche, konziliante, höfliche alte Mann so unwirsch auf die Nachricht vom Tod Hans von Wustrows reagiert?



Sicherlich, das Verhältnis zwischen Zimmermann und von Wustrow war ein besonderes. Vor allem fühlte sich der Anwalt aus Halifax bis heute verantwortlich für dessen Taten. Außerdem war er von ihm persönlich angegriffen und lebensbedrohlich verletzt worden. Und Hakala-Holappas nicht nur berufsbedingtes Interesse für das »Mini-Monster vom Darß«, wie jenen einst die BILD-Zeitung beschlagzeilt hatte, teilte er auch nur sehr bedingt.



Trotzdem hatte er insgeheim etwas mehr Interesse erwartet. Neugierige Fragen, das ein oder andere Nachfassen, Nachhaken. Gut, der Tod Hans von Wustrows war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Geheimnis. Er war einfach an den Folgen seiner starken Unterkühlung und der anschließenden Lungenentzündung gestorben, die er sich im vergangenen November bei seiner Flucht in die Ostsee zugezogen hatte. Seiner Flucht, die für Hakala-Holappa schon damals deutliche Anzeichen eines Selbstmordversuches aufgewiesen hatte. Eines Versuchs, dessen Vollendung ihm nun jetzt schlussendlich geglückt war.



Was von Wustrow in den ersten Tagen nach seiner Errettung energisch geleugnet hatte und stattdessen von Meerjungfrauen fantasierte, die ihn zum Tanze in den Wellen baten und zu sonstigen Verheißungen einluden. Doch die Phase seiner Redseligkeit war von kurzer Dauer gewesen. Bedauerlicherweise. Wenige Tage und Gespräche später zog er sich wieder in seine bekannte Sprachlosigkeit, sein Schneckenhaus des Schweigens zurück. Allerdings war er nicht gänzlich sprachlos geblieben, sondern hatte in den folgenden Monaten zwischen Klinik, JVA und geschlossener Abteilung, zwischen Prozessunfähigkeit, Prozessbeginn und wiederholter Prozessunterbrechung neue, eigene Formen des Ausdrucks entwickelt, weiterentwickelt.



Denn als ob er nun das Erbe seines Vaters Antoni Libuda angetreten habe, widmete sich Hans von Wustrow in seinem letzten Lebensabschnitt der Kunst. Geradezu besessen. Anfänglich mit den Fingern und alltäglich verfügbaren Flüssigkeiten wie Kaffee, Kirschsaft oder Ketchup begann er auf den unterschiedlichen Untergründen wie Servietten, Zeitungen, Handtüchern oder Bettlaken seine wundersamen Bilderwelten zu zaubern. Wobei es überwiegend Vögel waren, denen er so neues Leben schenkte. Später, nachdem von verschiedenen Gutachtern versichert wurde, dass inzwischen keine Gefahr mehr von ihm ausgehen würde – weder für andere, noch für sich – setzte er seine Arbeiten mit regulären Materialien fort. Dabei wurde er insbesondere von Dr. Johanna Riese unterstützt und gefördert, die von Wustrows Werke überaus schätzte und ihnen beachtliches künstlerisches Niveau bescheinigte.



Die ansonsten eher reservierte und rational handelnde Kunstwissenschaftlerin ließ sich in ihrer Begeisterung sogar soweit hinreißen, Hans von Wustrow als ersten Stipendiaten für den Partikel-Hof vorzuschlagen. Was jedoch von den anderen Mitgliedern des Stiftungsvorstands abgelehnt wurde. Kategorisch. Allein schon aus Gründen der Pietät. Aber auch, weil ein anderer Kandidat, ebenfalls ein Künstler des Art brut, mehr Zustimmung fand. Dieser Bastian, den wiederum die Keramikerin Ann-Kathrin Seegers unter ihre Fittiche genommen hatte, beeindruckte zusätzlich durch sein freundliches Wesen und seine liebenswürdige Ausstrahlung; ungeachtet dass er ebenfalls offenkundig psychisch verstört war und auf eine traurige Lebensgeschichte zurückblicken musste. Ein Tor auch er, allerdings ein reiner.



Diese ablehnende Haltung des restlichen Vorstands gegen Rieses Vorschlag beeinträchtigte das zuvor über Monate hinweg nahezu harmonische Betriebsklima im Team des neuen Museums negativ wie nachhaltig. Daran konnte auch der doch eigentlich glückliche Umstand nichts ändern, dass Hans von Wustrow kurze Zeit vor seinem Tod tatsächlich eine Art Testament verfasst hatte, in dem er dem Partikel-Hof das Œuvre seines Vaters vermachte. Hakala-Holappa war darüber nicht nur hoch erfreut, sondern der kleine, zerknitterte und bekleckste Zettel, den ihm von Wustrow vor gut zwei Wochen bei einem seiner Besuche in die Hand gedrückt hatte, erfüllte ihn auch mit ein wenig Stolz. War doch das zwar kryptisch anmutende, in der Aussage dennoch unzweifelhafte Textlein an ihn adressiert:



Für Wilhelm. Den Till

.



Der verlorene Sohn. Trug durch die Wüste

.



Seinen Schatz. Das Bild des Vaters. Seine Bildnisse. Die er nun reicht. Aus der Finsternis

.



Den Söhnen und Töchtern. Jenes anderen Vaters

.



Den er zurückließ

.



Unter Stechpalmenkron

.



Für ihn ein eindeutiges Vermächtnis. Nur der Till irritierte etwas. War es ein Schreibfehler und sollte es eigentlich Tell heißen? Oder wusste von Wustrow mehr, noch mehr über den Mann aus Müggenburg, der im Herbst nicht nur die Halbinsel in Angst und Schrecken versetzt hatte?



Seine entsprechenden Fragen waren auf jeden Fall unbeantwortet geblieben. Würden es bleiben. Fakt war indes, dass ihnen nun das Werk Antoni Libudas zur Verfügung stand, um es der Öffentlichkeit vorzustellen.



Die Anregung Johanna Rieses, dies möglichst zeitnah zur großen Eröffnung zu wagen, war jedoch auf ebenso wenig Gegenliebe bei ihren Mitstreitern und Mitstreiterinnen gestoßen wie ihr Engagement für Libudas Sohn. Vor allem die Mitstreiterinnen hatten sich als unnachgiebige Bedenkenträgerinnen erwiesen. Selbst Dörte Wahnschaffe, die ja Libudas Bilder vor gut einem Jahr überhaupt erst in der einstigen Büdnerei von Gerhard Marcks in Niehagen entdeckt hatte, zeigte sich nun erstaunlich abweisend, verwies auf den avisierten Besuch der Kanzlerin, die zu erwartende Medienpräsenz sowie eine mögliche negative Publicity.



Dieser zweite Affront gegenüber der designierten künstlerischen Leiterin des Partikel-Hofes hatte die Stimmung weiter getrübt, das Klima noch stärker abkühlen lassen. Von atmosphärischen Störungen zu sprechen, wäre eine Untertreibung gewesen. Erstaunlich nur, dass die Vorbereitungen für den bald anstehenden großen Tag trotzdem nahezu reibungslos abliefen. Hakala-Holappa befürchtete, dass dieser Riss im Fundament zwischenzeitlich entstandener Freundschaften weiter mäandern würde.



Er horchte auf. Hinaus. Zwischen die Blütenzweige von Apfelbaum und Felsenbirne. Tatsächlich, eine Nachtigall: »Huit. Tick. Huit. Tick. Düh – düh – düh – düh. Huit. Tick …« Ein verzaubernder Gesang zwitscherte durch das maienhafte Dunkel. Die passende Begleitung für ein, zwei Glas zur Nachtruhe. Er machte sich auf den Weg in die Küche. Fand den passenden Wein. Einen weißen. Einen Vernaccia. Öffnete ihn. Kehrte zurück. Der Zaubervogel war aber leider schon wieder verstummt.



Stattdessen setzten sich finstere Gedankenmahre auf die Fensterbank. Ließen ihre Fledermausflügel hängen. Wilhelm tat es ihnen gleich. Sein Tag war wirklich anstrengend gewesen. Erst die Nachricht vom Tod Hans von Wustrows mit allen dazugehörigen Gedankenkonsequenzen. Wenig später hatte er dann eine vertrauliche wie rätselhafte SMS von Kempowski erhalten, dem Syndikus der Stiftung sowie Zimmermanns juristischem Adjutanten: ›Brauche Rat. Komme morgen vorbei. Was für ein beschissenes Erbe!!! Kempowski‹. Wilhelm war es nach wie vor vollkommen unklar, wieso ein Anwalt und Notar ihn als Psychologen um Rat bei einer Erbschaftsangelegenheit ersuchen sollte.



Anschließend ein langes wie aufreibendes Telefonat mit Lore Bradhering, die als Patenkind Wilhelmine von Wustrows zwar nicht blutsverwandt, dennoch in gewisser Weise die naheste; einzige Angehörige des Verstorbenen war. Und die sich dieser Verantwortung auch stellte, sich schließlich nach quälend langem Abwägen dazu durchrang, dass es im Sinne ihrer Tante Wilhelm sei, wenn ihr »verlorener Sohn« nach seinem Tod zu ihr zurückkehren würde und neben ihr seine letzte Ruhe finden könnte. Eine mutige Entscheidung, wie Hakala-Holappa fand. Nach all dem, was geschehen war. Sicherlich würde es einiges Gerede geben. Nicht nur in der Nachbarschaft. Da war er sich sicher. Doch Lore Bradherings Entschluss stand fest – Hans von Wustrow sollte auf dem Borner Friedhof bestattet werden.

 







5. Hogna truculenta





Abermals stand Robert Aaron Zimmermann nun auf dem Borner Friedhof am Familiengrab derer von Wustrow. Doch die Trauerfeier für Hans von Wustrow bot keinerlei Nährboden für aufkeimende Déjà-vu-Momente. War in nahezu allen Punkten das extreme Gegenteil der Beisetzung seiner Mutter, der Zimmermann vor etwas mehr als einem Jahr beigewohnt hatte.



Das begann schon damit, dass Pastor Seeberg, im Rücken gestärkt durch seinen Kirchenvorstand und sogar seinem Bischof, die Nutzung der Fischerkirche und auch der kleinen Kapelle verweigert hatte. Selbst ein weltlicher Trauerredner war nicht aufzufinden gewesen, so dass sich letztlich Johannes Clauert und Hakala-Holappa die traurige Aufgabe teilten, Worte des Abschieds zu formulieren. Immerhin hatte man Dottore Lappe, den gewichtigen Gerichtsmediziner mit der Leidenschaft für die italienische Oper gewinnen können, die musikalische Begleitung zu übernehmen. Ihm war es zu verdanken gewesen, dass zumindest bis zu einem gewissen Grade eine würdevolle Stimmung aufgekommen war. Händels ›Largo‹. Puccinis ›Nessun dorma‹. Und natürlich das unvermeidbare ›Ave Maria‹, das Lore Bradhering mit brüchiger Stimme mitgesungen hatte. Ebenso Bernhard Gutzeit. Mehr laut als schön; er wollte jedoch vorrangig seinen Sohn Bernd ärgern. Der, zum wiederum nicht geringen Ärger des Seniors, von Lore den Auftrag erhalten hatte, Hans von Wustrows letzte Reise zu betreuen. Sie hatte sich in diesem Punkt auf keinerlei Diskussion eingelassen. »Das machen wir schon immer so und Punktum. Sieh du lieber zu, dass du in deiner Bude mal Klarschiff machst. Seitdem du die entzückenden Kunstwerke von Tante Wilhelm weggeräumt und durch deine grässlichen Särge ersetzt hast, setze ich keinen Fuß mehr in diese Altmännergruft.«



Die wenigen anderen Trauergäste verzichteten darauf, in Dottore Lappes Gesang einzustimmen. Außer Zimmermann und seinen Musketieren, Hakala-Holappa und dem schmetternden Doktor standen nur noch Johanna Riese und Kempowski im lockeren Halbkreis um das Grab herum. Im sehr lockeren, lichten. Die anderen Ahrenshooper hatten sich entschuldigen lassen, Geschäftigkeiten vorgeschoben und auf die immer näherkommenden Eröffnungsfeierlichkeiten verwiesen. Dafür waren umso mehr Zaungäste erschienen, allen voran diverse Pressevertreter, ein paar Radiojournalisten sowie das Team eines privaten Fernsehsenders. Die sich aber in respektvollem Abstand hielten. Noch. Außerdem schlenderten auffällig viele Einheimische aus Born und den angrenzenden Ortschaften den Kirchweg entlang. Und das, obwohl es inzwischen zu nieseln angefangen hatte.



Zimmermann fröstelte. Von Richard Sonntags Schirm, den jener fürsorglich über den kahlen Schädel seines Chefs und Freundes hielt, tröpfelte es. In schöner Regelmäßigkeit. Stete Tropfen. Die erstaunlicherweise stets jene schmale Lücke zwischen Mantelkragen und seinem faltigen Hals fanden. Und das obwohl er mehrfach seinen Standort ein wenig verändert hatte, ein zwei Schritte nach links, dann wieder nach rechts. Und nach vorn. Sonderbar.



Ebenso sonderbar wie die Tatsache, dass ihn der Tod Hans von Wustrows noch immer nicht berührte. In keinster Weise. Er spürte nichts. Keine Betroffenheit. Keine Genugtuung. Nicht einmal Beruhigung. Das war ihm schon während des Telefonats mit Hakala-Holappa aufgefallen. Diese Unberührtheit. Sicherlich hatte er dennoch umgehend nach dem Gespräch zum Aufbruch geblasen und bereits am nächsten Morgen war die Viererbande aus Bad Warmbrunn abgereist und am späten Abend in Born eingetroffen. Wie gewohnt sicher und souverän von Richard Sonntag chauffiert.



Auch wenn Zimmermann diese vorzeitige Heimkehr seinen Gefährten gegenüber vorrangig mit der Sorge um Lore Bradhering begründet hatte, war ihm im tiefsten Inneren gewahr, dass auch dies nur vorgetäuscht war. Er wollte einzig und allein zurück auf den Darß, die Halbinsel, um Olaf Hegerdorp nachzuspüren. Obgleich er noch nicht recht wusste, wie er das bewerkstelligen, wo er anfangen sollte.



Er wusste nur, dass er es musste. Allein schon, weil ihm Hegerdorp seit ihrem vermeintlichen Wiedersehen jede Nacht in seinen Träumen begegnete. Die alles andere als schöne Träume waren.



»Träumst du, Zimmermann? Es ist vorbei. Wir wollen gehen. Besser gesagt, wir sollen.« Richard Sontag ließ den Freund für einen kurzen Moment richtig im Regen stehen. Ging zwei, drei Meter voraus. Mitsamt Schirm. Zimmermann erwachte in der Gegenwart. Tatsächlich! Die triste Zeremonie war überstanden. Lore verzichtete zudem darauf, am offenen Grab die Kondolenzen der handverlesenen Teilnehmer entgegenzunehmen. Die sich nun, eines solchen obligaten dramaturgischen Fixpunktes beraubt, etwas unsicher umschauten und ohne rechte Ordnung Richtung gähnender Grube stolperten. Dort wählten nahezu alle die kleine Schaufel und ließen Bröckchen bereits durchnässter Erde auf den Sarg niedertrommeln. Nein, für Hans von Wustrow sollte es keine roten Rosen regnen. Lediglich Bernhard Gutzeit machte eine Ausnahme und holte ein kleines Stück Holz aus der ausgebeulten Tasche seines schwarzen Anzuges. Eines seiner kleinen Kunstwerke, auf dessen Oberseite er einen kleinen Korb herausgeschnitzt hatte, wie Zimmermann später von Kempowski erfahren sollte. Gutzeit Junior missbilligte auch diese Geste seines alten Herren mit hochgezogen Augenbrauen.



Die allgemeine Unsicherheit, Verlegenheit setzte sich anschließend fort. Denn die ungastliche Pensionswirtin hatte überdies beschlossen und energisch verkündet, dass es keinen Leichenschmaus geben würde. »Keinen Kaffee und keinen Streuselkuchen. Kein Süppchen. Und erst recht keinen Doppelkümmel. Weder bei Petersson noch im Walfischhaus. Noch sonstwo. Und bei mir schon gar nicht. Das hat er nicht verdient!«



Ach ja, die »schöne Laich« in Peterssons Hof-Café, damals nach Tante Wilhelms Trauerfeier! Zimmermann dachte gerne an das gesellige Beisammensein zurück. An seine Plaudereien mit den Damen. Den alten, sehr alten. Den Scherzen. Doch Omi Marzahn war ja nun auch nicht mehr. Aber – Zimmermann war urplötzlich hellwach – wie hieß denn ihre Freundin noch mal, die sich ins Gespräch eingemischt hatte und noch recht genau über die Zeiten während des Zweiten Weltkriegs erzählen konnte? Irgendetwas Richtung Ingeborg, Hildburga, Brunhilde, oder so. Eben ein seinerzeit typischer Name für ein Mädel, das im BDM gewesen war. Und womöglich ein Auge auf so einen schmucken, ansehnlichen Hitlerjungen wie Olaf geworfen hatte. Zimmermann war sich mehr als sicher, dass der heranwachsende Hegerdorp dem damaligen Ideal eines kernigen deutschen Jungen perfekt entsprochen haben musste. Blond, groß, drahtig, durchtrainiert. In summa stattlich. Abgesehen natürlich von den beiden Ausrufezeichen auf den Innenseiten seiner Oberschenkel. Die er ihm zu verdanken hatte, ihm, dem kleinen Judenbengel.



Ja, diese nette ältere Dame war ein Ansatzpunkt. Wenn ihm bloß der Name einfallen würde. Vielleicht könnte ihm Lore auf die Sprünge helfen, womöglich einen Kontakt vermitteln? Ohne dass er zu viel von seinen Gründen für sein Interesse preisgeben müsste. Er scheute sich immer noch, selbst seinen Vertrauten und Freunden gegenüber von der unheilvollen Begegnung mit den Schatten der Vergangenheit zu erzählen. Vielleicht fürchtete er, seine Souveränität einzubüßen, seine durch weise Gelassenheit gekennzeichnete Position gegenüber der Geschichte, der deutschen ebenso wie jener seines Volkes, dem er spätestens seit dem Beschluss der »Nürnberger Rassengesetze« im September 1935 wohl doch anzugehören schien. Daher mied er seit ihrer Rückkehr auch längere Gespräche mit Kempowski ebenso wie mit Hakala-Holappa. Sowie eigentlich auch mit Lore Bradhering.



Nun hielt er dennoch suchend nach ihr Ausschau. Die Herrin des Kuhfußes hatte sich aber inzwischen bei Bernhard Gutzeit untergehakt und wandelte mit ihm über die Weiten des Friedhofes. Sicherlich wollte sie ihm, dem Experten für Sepulkralkultur, die Gräber ihrer eigentlichen Familie zeigen. Und womöglich sogar noch etwas länger mit ihrem neuen Favoriten zusammen sein. Was Zimmermann prinzipiell durchaus recht war und zupasskam.



Daher beschloss er, sich noch etwas in Geduld zu üben. Außerdem war ihm kalt. So beeilte er sich, Richard Sonntag einzuholen. Den einzigen Menschen, den er momentan um sich haben konnte. Weil Sonntag grundsätzlich keine Fragen stellte. Wenigstens keine persönlichen. Zudem stand ihm der Sinn nach wärmender Sitzheizung und einer kleinen Spritztour, an deren Zielpunkt ein heißer Grog wartete. Oder wenigstens ein Tee. Mit Rum.



Er entdeckte Sonntag in einer der vorderen Gräberreihen nahe des Eingangs. Dort war er vor einem noch recht frischen Grab stehengeblieben und unterhielt sich mit einem rundlichen, mittelalten Herrn in grüner Montur. Mutmaßlich der Friedhofsgärtner.



Zimmermanns Vermutung bestätigte sich, als er näherkam. Der Mann in Grün schimpfte wie ein Rohrspatz, wies aufgebracht und wiederholt auf ein merkwürdiges Gebilde, das mitten zwischen Kränzen, bereits angewelkten Blumensträußen und Gebinden lag. Beziehungsweise thronte. Denn es war anscheinend hochkant in das Erdreich gesteckt worden. Auffällig erschien ihm besonders, dass der nicht genauer zu erkennende Gegenstand mit rotweißem Trassierband umwickelt, verknotet war, das in mehreren Enden fast froh im Nieselwind flatterte.



»So ein Schiet! So eine Schande! Dabei ist der Wolfgang noch keine Woche unter der E