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Fabi und ich kennen uns schon ewig, achtzehn Jahre, um genau zu sein. Kein ganzes Leben mehr in meinem Alter, aber doch genug, um jemanden nicht mehr aus dem eigenen Leben wegdenken zu können. Er ist mit leichter Sehbehinderung geschlagen und kam nach Nürnberg, um so wie ich seine Ausbildung zu machen. Und am Anfang kamen wir uns eher in die Quere. Wir hatten unsere nicht vorhandenen oder eben schlechten Augen auf das gleiche Mädel geworfen, das sich zwar nicht die Bohne für uns interessierte, aber den Grund zum Kabbeln gab. Bis zu den Dehydrators hatten wir mal mehr mal weniger Kontakt, so ein bisschen Ebbe und Flut. Manchmal bringt einen erst der Sturm richtig zusammen: Als Fabi für drei bis vier Nächte ein Sofa brauchte, blieb er drei Monate bei mir. Eine tolle Zeit irgendwie. Und weil wir uns kannten, kam ich zu den Jungs in die Band. Immer diese Zusammenhangsketten.

Das Styropor mit unserem Essen quietschte in meinen Händen. Wir verstauten die Warmhaltebox unten im Keller im Backstagebereich und ich machte mich bei Fabi eingehakt auf den Weg zur Bühne.

Vom hallenden Vorraum aus betraten wir durch eine kleinere Türe den Saal, in dem das Benefizkonzert stattfinden sollte. Der Raum roch nach dem, was Wände und Boden seit den Fünfzigern aufgesaugt hatten, um es dampfend wieder abzugeben. Diese Mischung aus Schweiß, Alkohol, kaltem Zigarettenrauch vergangener Tage und der Aura von Bühnenelektronik, metallisch, an Ozon und E‑Gitarren-Gewitter erinnernd. Irgendwer kiffte links hinten im Eck. Ich hörte, wie um mich herum geschoben und aufgeklappt, getestet und eingesteckt wurde. Auf der Bühne ließ Flo, der Schlagzeuger, die Toms und das Becken im Wechsel scheppern – eins, zwei, drei, eins, eins, eins, zwei, drei. In die Geräuschkulisse hinein sagten immer wieder Leute Hallo und klopften mir auf die Schulter. Ich konnte sie nicht alle auseinanderhalten, ließ mir aber nichts anmerken.

Irgendwo hinter mir war der Mischer, der mit den Drums nun zufrieden war. »So, passt. Dann könnte man den Gesang machen.«

»Bringst du mich hoch?«, wandte ich mich an Chris.

Er nahm mich am Arm und führte mich auf die niedrige Bühne. Irgendwer hatte mir erzählt, dass am Sockel der Bühne Totenschädel aufgesprüht waren. Ich fühlte mich bis zu diesem Moment noch nicht so richtig rock, war noch halb im Taxi. Am Arm geführt, über die Totenschädel hinweg, stieg ich auf die Bühne und ertastete vor mir das kühle Mikro. Das kühle, etwas abweisende Metall, das Schaben meiner Schuhe auf der räudigen Bühne: Wie bei den ersten Klängen die Membran der Boxen vibriert, reagierte ich auf die Reize.

Von links von mir, dort wo am Ende des Raumes Sofas standen, hörte ich, wie Oli unter seiner Mütze hervor mit jemanden sprach.

»Das da? Das ist der Sänger.«

Ich sang ein paar Strophen an.

Eine genuschelte Frage.

»Ja, blind«, antwortete Oli laut.

»Ja, blind, stockfinster und so. Gell, Hansi?«, rief Chris hinterher.

»Stuck with the blind, not dark, just no sight«, schrie ich in das Mike und sprang am Ende juchzend hoch. Dann drehte ich den Mikroständer nach links unten und beugte mich darüber. Mein linkes Bein stieß an den Mikroständer und tockend schlug mein Handy durch die Hosentasche gegen das Metall. Grinsend kam ich wieder hoch, das Handy verschoben in meiner Hosentasche.

»Bringt dem Mann doch mal ein Bier!«, rief Flo lachend.

Die andere Band applaudierte.

Jetzt konnte es losgehen.

Da hatte ich mein Handy noch.

Ich überprüfe auf dem Teppich sitzend noch einmal den Erinnerungsfetzen und bin mir sicher: die Kollision mit dem Mikroständer, das Handy in der Hosentasche, durch den Jeansstoff verschoben.

Nach dem Soundcheck, dem Bier und einem tiefen Zug im Sofaeck machte ich den Fehler, den ich immer mache, bevor das alles losgeht: Ich stand am Einlass. Irgendwie gehört es dazu. So wie die Dankesrede, so wie die später fliegenden BHs; ich habe die Sache auf die Beine gestellt, die Hilfe von Freunden und Bekannten in Anspruch genommen, dann muss ich auch die Eier in der Hose haben, mal eine Zeit lang am Eingang zu stehen. So oder so ähnlich sieht die seltsame Argumentation dafür aus. Dagegen spricht, dass ich immer aufgeregter werde. Und dass ich gegen die Aufregung dann gerne noch ein Bierchen trinke, während immer mehr Menschen kommen, viele, die ich persönlich begrüße. Ich sage »Hallo« und »Wie geht’s?«, klopfe Schultern und scharre gleichzeitig hibbelig mit den Füßen: Es soll jetzt endlich losgehen! Ich glaube, Menschen die Mucke machen, sind im Grunde wie kleine Kinder. Trotz Rock-and-Roll-Gehabe versuche ich vor dem Auftritt immer nur zwei Bier zu trinken, sonst verschleimt meine Stimme so. Erst nach dem Auftritt geht’s dann so endgültig ab. Manchmal frage ich mich, ob Lemmy oder so auch auf seine Stimme geachtet hat.

»Hallo Hansi.« Ihre Stimme war toll.

»Hey Hanna!«, lächelte ich in ihre Richtung.

Das war der Punkt, an dem ich endgültig wusste, dass ich scheiße noch mal so richtig aufgeregt war. Wir umarmten uns zur Begrüßung; sie ist größer als ich, in der Länge und im Singen.

»Du hast ja gesagt, ich muss endlich mal kommen«, hörte ich sie lächeln.

»Ja, ja! Auf jeden Fall.«

Seit zwei Jahren gibt Hanna mir Gesangsunterricht. Ihre eigene Musik hat mit unserer nichts zu tun. Aber sie beherrscht ihre Stimme wie ein fein gestimmtes Instrument. Sie greift die Töne, surft auf ihnen und erschafft so leicht und trotzdem bestimmt Stimmungen und Gefühle, dass ich am Anfang dachte, es ist bei mir alles verloren. Und letztes Jahr hat sie tatsächlich Background Vocals für uns eingesungen. Stolz wie Oskar war ich, dass sie tatsächlich für einen Song, dessen Text ich geschrieben hatte, für einen Nachmittag ihre eigene Musik ruhen ließ und mit uns sang.

Und jetzt war sie hier. Ich hatte sofort das Gefühl, dass ich keinen Ton herausbekommen würde. Plötzlich hörte ich, wie laut es um mich herum war, wie viele Menschen da waren.

»Du darfst nicht zu hart zu mir sein.«

»Ach was, das wird schon. Das ist übrigens Alexa.«

»Hi Alexa.« Ich wandte mich in die Richtung, in der ich sie vermutete, und streckte meine Hand aus.

Eine kühle, kleine, aber kräftige Hand umschloss meine.

»Schön, dich kennenzulernen.« Ihre Stimme war schokoladig.

Ich vergrub meine Linke in der Tasche. Als ob sie mich sofort verlegen machen würde. Meine Hand stieß an das Handy.

»Du bist also der Benefizrocker?«

»Ja ich …« Jetzt musste mir was einfallen.

»Herr Flirtmeister, wir müssten mal backstage«, unterbrach Fabi meinen ungelenken Denkversuch. »Hallo Hanna«, legte er nach, ich hörte Stoffrascheln, Umarmung.

Er stand neben mir, lehnte sich auf das runde Bar-Tischchen, das sich leicht kippelnd bewegte, auf dem auch ich meinen Ellbogen hatte.

»Ja, ja, ich komme gleich.« Bitte sag nicht: »Das seh’ ich auch.«

»Das seh’ ich auch«, gluckste er.

Alexa lachte klar und sanft, weniger über das bescheuerte Wortspiel, als vielmehr darüber, dass ich immer noch ihre Hand in meiner hatte. Glaube ich. Sie roch ein wenig nach Rauch und frisch gewaschenen Haaren und einem Hauch von Meerluft. Manchmal habe ich das Gefühl, dass nur Weinkenner und Whiskyfreaks wissen, wie ich Menschen beschreibe.

»Es tut mir leid, das ist wirklich, ich weiß auch nicht …«, stammelte ich und zog meine Hand zurück, lächelte unbeholfen in ihre Richtung.

»Schon gut«, sagte sie freundlich.

»So, auf geht’s.« Fabi legte seine Hand auf meine Schulter.

Ich hakte mich ein und versuchte, dabei lässig auszusehen.

»Dann setzen wir das Gespräch nach dem Konzert fort, ich überlege mir bis dahin was Schlaues.« Wenigstens ein charmanter Satz.

»Alles klar.« Sie klang, als ob sie mir glauben würde.

»Erst mal wird Musikgeschichte geschrieben. Ich bring ihn dann frisch gefeudelt zurück.« Fabi drehte sich mit mir ein, nach links, in Richtung des Flures.

»Das will ich hoffen.« Auch das klang so echt, wie ich es mir nur wünschen konnte.

Ich rumpelte mit Fabi gegen den Tisch, mein Handy schlug hart dagegen.

»Mann, wer ist das denn?«, fragte Fabi, während wir uns durch die Leute zum Backstagebereich drängelten.

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, es ein bisschen abzutun. Fabi lachte nur. Hinter uns floss der Lärm in den Konzertsaal und wir verschwanden backstage.

Im verrauchten, niedrigen Raum, der, vollgestopft mit unserem Zeug, gerade noch Platz für uns, die Kiste Bier und das Sofa mit einem kleinen Tisch davor hatte, saßen wir mit den anderen Bands zusammen. Der Schlagzeuger der Headliner des Abends erzählte einen seltsamen Witz nach dem anderen.

»Was ist grün, und wenn es dich trifft, bist du tot?« Kunstpause. »Billardtisch!«

Wir lachten betrunken und verraucht, kickten uns gegenseitig in dem kleinen Raum weiter in Bühnenstimmung.

»Was ist weiß und stört beim Essen?« Kunstpause. »Lawine.«

Ich konnte richtig fühlen, wie sich über uns der Saal füllte, und ich dachte daran, dass sie auch da oben stand. Direkt über mir. Obwohl ich ja keine drei Sätze mit ihr gewechselt hatte. Ich zählte noch mal nach. Aber eigentlich waren meine Sätze ja sowieso nur halbe gewesen.

»Ein Blinder und ein Tauber machen zusammen Musik …«

Keine Kunstpause.

Plötzliche Stille im Raum. Er brach ab.

Ich ergänzte: »… sagt der Blinde: ›Tanzen sie schon?‹ Sagt der Taube: ›Wieso, spielen wir schon?‹«

Kenne ich von meinem Vater.

Alle lachten. Irgendwer klopfte mir auf die Schulter. Ich mag es, locker zu sein. Es ist, wie auf dem Surfbrett stehen und spüren: Wenn du locker bist, dann tragen dich die Wellen. Aber wenn du verkrampfst, fällst du ins orientierungsfreie Wasser. Also: locker bleiben, auf der Welle gleiten, mitziehen und sich dem Strom anpassen.

 

Wir machten uns bereit, auf der Welle zu reiten, ein paar von uns zogen sich um, ein Hütchen wurde ausgepackt und dem lachenden Sänger der anderen Band auf seinen Punkerkopf gebunden, ich schraubte meinen Mikrofonständer zusammen, den ich mit Fabi aus einem Blindenstock gebastelt hatte. Wir bildeten einen Kreis und stießen noch einmal an – es konnte losgehen.

Auf jeder Bühne habe ich einen Bereich, in dem ich mich bewegen kann. Links von mir stellt Chris die Begrenzung dar. Rechts von mir die Kante einer Box, genauso vor mir. Auf der Bühne brauche ich diese Eckpunkte. So kann ich mich bewegen, ohne Gefahr zu laufen, auf die Fresse zu fliegen oder aus Versehen jemanden zu treten, der es nicht verdient hätte.

Der Jubel, der uns entgegenschlug, brachte mich innerlich hüpfend auf meinen Platz.

»Hi Leute, schön, dass ihr alle da seid.« Grölen und Johlen als Antwort. »Wie jedes Jahr freuen wir uns auch dieses Jahr, euch ordentlich einzuheizen und mit eurem Geld was Gutes zu tun!«

Rechts hinter mir zählte das Klacken der Stöcke mit leisem »one, two, three, four« den Takt ein, und die ersten Riffs von Paranoid rollten von der Bühne hinab. Ich hob den Arm, stampfte im Takt, die andere Hand legte sich um das Mikro; mit Hüftschwung griff ich an und los ging’s.

Bevor ich als Sänger bei den Jungs landete, war ja immer die Frage, wie ich mich auf einer Bühne bewegen sollte. Als ich dann auf der Bühne gelandet war, ohne dauernd auf der Fresse zu landen, fragte irgendwer, ob die Gesten und Bewegungen antrainiert sind. Also, ob ich Bühnenmoves geübt hätte. Von Freunden weiß ich, dass die Aufgabe des Sängers nicht nur das Singen ist. Aber niemand übt das. Ich versuche mir das immer vorzustellen, wie man das macht. Vor dem Spiegel bringt es für mich nichts. Ich hätte einen Trainer gebraucht. Aber es ist sowieso nicht einstudiert. Das ist ein Gefühl, das eben so herauskommt. Es geht ums Rocken. Ums Bewegen. Darum, das Publikum mitzunehmen. Das muss ich eben auf engem Raum machen, damit das funktioniert. Aber es ist nicht einstudiert, antrainiert oder sonst was. Es sind die Mucke und der Spaß, die mich mitreißen. Kick nach vorne, Arm nach oben, bei »Fuck you« den richtigen Finger raus, den Kopf bangen, Gas geben. Bei den ruhigeren Songs schließe ich die Augen, lege den Kopf zurück; bei Paranoid spanne ich den Hals an, so dass die Sehnen hervortreten, und zeige Zähne. Das gehört dazu. Es gehört auch das Gesicht dazu; auch wenn ich blind bin, habe ich Mimik.

Es treiben mich der Song und das Gefühl, vor so vielen Menschen zu stehen, an. Und an diesem Abend die Vorstellung, dass sie da in der Menge stand, nein, am besten noch: tanzte.

Der dritte Song verklang und ich streckte den Arm ins Publikum – Hände berührten meinen Arm. Alle da, ein Riff jaulte auf, jemand sprang in die Menschen, die gerade meine Hand gepackt hatten. Ich richtete mich auf und zog das Shirt aus, drehte mich zurück und riss das Mikro an mich.

Das Ausziehen ist mittlerweile Programm; eine Marke. Das Bedürfnis ist komischerweise echt. Wenn ich mich wohlfühle auf der Bühne, kommen die Schuhe und das T‑Shirt weg. Barfuß, oben ohne. Ich habe da keine Scheu und irgendwie ist es einfach gut zu spüren, dass man das kann. Ein bisschen Sixpack zeigen, grinsend die Oberarme anspannen und den schweißglänzenden Körper in der von den Scheinwerfern erhitzten Luft drehen. Es ist eben ganz oder gar nicht, auf der Welle reiten, sich dem Gefühl hingeben, dass man gerade die Balance gefunden hat und weiß, dass die Welle einen so lange tragen wird, wie man sie respektiert und keine Angst hat. Und natürlich ist es ein bisschen eingebildet.

Irgendwann in er Mitte unseres Gigs flogen BHs und Höschen auf die Bühne. Ich wusste, dass Björn einigen Mädels die Dinger in die Hand gedrückt hatte, aber ich genoss die Show und wickelte einen BH um meinen Blindenstock und steckte mir einen anderen in die Hosentasche.

Pretend to; dann funktioniert’s auch.

Es war eines dieser befreienden Konzerte. Die Leute gingen mit, Applaus und Gejohle als Belohnung; dass einige manche Passagen schon mitgrölten, war ein besonderer Kick, und ich traute mich, ein paar Pogokicks schwingend, ein wenig aus meinem Radius hinaus.

Das Rocken, Australien, die langen Bar-Nächte, all das ist eine Wendung, die ich nicht vermutet hätte, nachdem meine Vorstellung von dem, wie das Leben abzulaufen hat, sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte.

Bei der letzten Nummer gaben wir noch einmal alles. Wir erreichten die letzten Strophen und mir knickten die Knie ein. Ich rief schwer schreiend die letzten Zeilen in das Mikro und lehnte mich nach vorne auf die Box.

Das Handy drückte sich durch den Stoff der Hosentasche gegen mein Bein.

Da bin ich mir sicher.

Es bleibt unentscheidbar, ob ich es nun dort verloren habe oder nicht. Ihre Nummer hat sie mir dort gegeben und ich bin mir sicher, dass ich es da noch hatte. Logisch. Aber danach habe ich es nicht mehr benutzt.

Aber falls ich es doch dort verloren habe, dann hat es vielleicht dort jemand gefunden. Der Gedanke wirkt wie ein Turbo. Ich springe vom Teppich und hechte, die Arme ein wenig vor mir ausgestreckt, in den Flur zum Telefon.

Es läutet eine gefühlte Ewigkeit bis jemand abnimmt.

Ob Sachen gefunden wurden – ja.

Ob sie das dann aufheben – ja. Aber sie bringen sie zum Fundbüro Süd. In zyklischen Abständen und so. Das war jetzt gerade fällig, wegen Datum und Anfang vom Monat und so und ich müsste also ins Fundbüro.

Ich und mein scheiß Glück.

Das Problem mit der Bewegung – einfach losmarschieren ist nicht drin. Im Fundbüro war ich noch nie und ich kenne den Weg nicht. Google wird helfen.

Das mit dem sprechenden Computer und der Internetnutzung habe ich erst vor ein paar Jahren angefangen. Das erleichtert vieles. Sehr vieles. Aber eben nur virtuell. Ich kann den Computer durch das Sprachprogramm benutzen, aber zum Fundbüro muss man eben selbst kommen. An das Leseprogramm gewöhnt man sich mit der Zeit. Ist ähnlich wie mit dem sprechenden Wecker: ein Roboter aus einem Siebziger-Jahre-Science-Fiction.

Die Nutzung des Internets macht vieles leichter für mich. Fahrpläne, Wegbeschreibungen, alles ohne nerviges Herumtelefonieren, vorgelesen von meinem persönlichen Terminator ohne Kill-Befehl. Brillant natürlich auch die Braillezeile; alles Wunder der Technik, die für mich alltäglich sind.

Das Fundbüro Süd ist nicht weit weg von einer U‑Bahnhaltestelle. Von dort zurück sollte es gehen. Hin allerdings wird schwierig. Vor allem, weil ich so durcheinander wegen des bedepperten Handys bin. Zurück bin ich dann ruhiger, da fahre ich dann mit der U‑Bahn zurück. Okay, eins nach dem anderen: ein Taxi. Ich muss dem Fahrer nur sagen, von welcher Seite er hinfahren soll, dann habe ich die Orientierung, und ich spare mir eine Fahrt. So oder so ähnlich ist mein Plan. Mit der U‑Bahn zurück. Und meinem Handy.

Wenn es da ist.

Es ist bestimmt da.

Es muss einfach da sein.

Ich ringe mit mir, ob es eine gute Idee ist, alleine in das Fundbüro aufzubrechen. Obwohl ich gerne bis ans Ende der Welt fahre und mich über die Welt bewege, sind solche Entscheidungen manchmal trotzdem nicht leicht.

Ich könnte den Taxifahrer warten lassen. Aber das fände ich feige. Die U‑Bahnhaltestelle ist direkt die Straße hinunter vom Fundbüro aus. Das ist machbar. Auch ohne Hund, den ich noch nicht habe.

Ich lege das Telefon zur Seite und beschließe, dass ich erst einmal trainieren muss. Erst einmal das tun, was ich tun wollte, mich nicht gleich abhängig machen. In Unterhose und T‑Shirt setze ich mich auf mein Rennrad, das auf einer Rolle im Schlafzimmer steht, und fange an zu fahren. Zu denken, zu schwitzen. Noch während ich strample und schwitze und denke, fällt mir auf, dass ich vor lauter Aufregung was durcheinanderbringe. Normalerweise trainiere ich erst und dusche dann. Das macht auch Sinn. Gerade ergibt aber nichts Sinn, also ist der Quatsch schon wieder folgerichtig.

Was für ein Chaos; in mir.

Manchmal bin ich zu schnell, als dass ich hinterherkommen würde.

Die Tendenz, mich schnell und heftig zu verlieben, ist in den letzten Jahren besser geworden. Das Heftig ist geblieben, aber das Schnell hat sich verändert.

Als ich im Internat war, gab es eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, niemals mehr eine Frau kennenzulernen, zu knutschen, zu vögeln. Irgendwie drehte sich dann doch immer wieder alles um dieses Thema. Und egal, ob nun im Internat oder an den Wochenenden zu Hause in meinem kleinen Heimatkaff, immer wieder wurde mir klar, dass die Mädels mich mochten. Und je näher ich der Zwanzig kam, desto schlimmer wurde das: Sie mochten mich eben; wie einen Freund oder einen Bruder.

Und niemand knutscht mit seinem Bruder.

Auf dem Dorf konnte ich nicht mit dem Mofaschlüssel in der Tasche lässig am Bushäuschen unterhalb des Hügels, an dem sich der Ausläufer meiner Heimat erstreckt, in der Sonne warten. Ich konnte auch später nicht mit dem röhrenden Auspuff angeben und sagen: »Hey Baby, steig ein, ich fahr dich später auch heim, aber jetzt lass erst mal hier weg – ich will dir was zeigen.«

Im Internat war es ähnlich. Es ging auch da immer um was, das man vorzeigen konnte. Je besser die Jungs sehen konnten, desto leichter war es. Aus irgendeinem Grund kam ich tatsächlich nie dazu, eine Beziehung mit einem blinden Menschen zu führen. Auch im Internat waren es die Mädels, die zumindest mehr sahen als ich, auf die ich abfuhr. Nicht mit Kalkül, das war einfach so.

Bernie war damals mein Vertrauter in diesen Sachen. Der Typ war blitzgescheit, wir spielten zusammen Goalball und er war gerade noch so sehbehindert. Er konnte tatsächlich so gut sehen, wie er behauptete. Eine echte Ausnahme. Am gefährlichsten ist es, sich mit einem hochgradig Sehbehinderten zu bewegen. Meiner Erfahrung nach überschätzen die sich meistens und bauen deswegen auch den größten Scheiß.

Bernie und ich machten die Woche über gemeinsam das Internat unsicher, stellten den Mädels nach, gingen nachts in der Küche räubern und stahlen uns über ein Fenster auf ein Flachdach, wo wir dann unter dem Nachthimmel lagen, soffen, ratschten und rauchten. In dieser Nacht lagen wir auch auf dem Dach, verputzten Zwieback mit Leberwurst und tranken billiges Büchsenbier.

Als wir uns die letzte Kippe teilten, sagte Bernie zu mir: »Du musst das so sehen: Jetzt wollen die Mädels jemanden, der größer ist, älter ist … du weißt schon … führt. Jetzt schaust du halt mal ein paar Jahre in die Röhre.«

Man kann es nicht anders sagen, zwischen 14 und 17, meine Güte, da standen sie alle auf mich. Und dann, plötzlich – niemand mehr. Bis ich 21 wurde, hatte ich das Gefühl ein Aussätziger zu sein.

»Aber dann, Alter, dann wirst du richtig abräumen – also, wenn du weiter so Goalball spielst und so schlank und gut aussehend bleibst und nicht fett wirst.« Er stieß mir kameradschaftlich in die Seite. »Und vor allem, weil dann langsam auch noch andere Sachen wichtig werden, nicht nur Mofa fahren und die dickste Karre. Innere Werte, verstehst du?«

Genau so war es dann auch.

Trotzdem: Immer schön im Training bleiben. Schwitzend werde ich langsamer. Ich steige vom Rad und dehne mich, so dass sich alles weich und geschmeidig anfühlt. Dann gehe ich zu meiner Wohnzimmertür. Im Türstock klemmt eine Stange für Klimmzüge und darüber einige Klettergriffe, die mir ein Kumpel festgemacht hat.

Sport war schon im Internat super. Mit unserem Trainer waren wir viel unterwegs, vielleicht kommt auch daher dieser Reisefimmel, der Drang, beweisen zu wollen, dass ich mich bewegen kann. Die Goalballmannschaft war eine eingeschworene Sache und wir haben hart trainiert. Als wir in Prag zum Qualifikationsspiel für die ­Junior­en-Europa­meister­schaft waren, wurde mir klar, dass ich Sportler werden könnte. Aber da stand ich mir wohl selbst zu sehr im Weg. Meine Bindung zu meinem Zuhause und meinen Eltern war einfach zu ausgeprägt. Aber das Goalballspielen, das Radfahren auf dem Hof meiner Eltern, das hat eine Grundlage geschaffen. So kann ich jetzt an der Wand über meiner Wohnzimmertür hängen und merke, wie meine Arme Zug um Zug das Brennen beginnen.

»… und nicht fett wirst«, sagte er. Bin ich nie geworden. Aber ich bleibe in manchen Momenten eben doch jemand, der mitgenommen werden muss. Egal wie bewundernswert selbstständig ich bin, ich bleibe blind und in manchen Situationen aufgeschmissen. Das hat Bernie damals im Prinzip gesagt, halb betrunken, aber doch ein bisschen klug, auf dem Flachdach liegend.

 

Das klingt mir noch heute in den Ohren. Da steckt drin, dass ich zu bemitleidenswert bin. Oder dass ich eben nicht derjenige sein kann, der die Lady galant und überraschungsmäßig abholt. Sie muss diejenige sein, die holt und zeigt und die Welt für zwei sieht. Sie sieht eben Dinge, die ich nie sehen werde.

Trotzdem ist das alles kategorisches Denken, dieser Frauen-sind-so-und-Männer-so-Mist. Im Prinzip hatte Bernie recht, aber gleichzeitig ist es auch dieser idiotische Schubladenscheiß, in dem ich auch lande. Wenn ich genau drüber nachdenke, ist es eben mit mir vielleicht auch ein bisschen so: Die ganzen Schubladen, in denen ich stecke, sind erfundene Scheiße, und irgendwo in dem stinkenden Haufen sind ein paar Reste Wahrheit drin. Die Wahrheit ist: Ich werde nie galant der Dame meines Herzens zuvorkommen und den Drink von der Bar für sie holen. Aber es sollte eben auch kein Problem sein.

Immer wieder ziehe ich mich hoch und lege dann von links anfangend die Hände auf die Griffe, arbeite mich hoch, um mich dann wieder nach unten zu arbeiten, bis ich wieder am Anfang hänge, und beginne dann wieder mit dem Zug nach oben. Hochziehen, hocharbeiten, abbauen, hängenlassen, Arme nicht komplett strecken, leichten Winkel halten; wieder von vorne. Ein ewiges Spiel.

Über fünfzehn Jahre nach dem Abend auf dem Dach denke ich oft an Bernie und dieses Gespräch, und dass ich heute zu ihm sagen würde: »Weißt du, irgendwie mag das ja stimmen. Aber das viel größere Problem liegt da in der Faszination. Ich bin Mädels begegnet, die wollen mit dir in die Kiste, weil sie sich denken, dass Blinde einfach viel feinfühligere, also sensiblere Liebhaber sind.«

Dann würde Bernie sagen: »Und? Bist du?«

»Keine Ahnung, du Pfeife, ich hab’ noch nie was mit ’nem Blinden gehabt.«

Bernie lacht und gibt mir den Rest der Kippe wieder: »Also, hör zu, der Punkt ist: Es ist okay. Sie wollen ja nur mit dir vögeln. Und dann war’s das. Aber viel schlimmer ist dieses … fasziniert sein. Vom blinden Hansi, der so selbstständig ist. So toll, obwohl er blind ist. Und die Faszination mit dem Blinden, die vergeht. Und dann ist es plötzlich nur noch normal. Und nach normal kommt nervig. Und nach nervig kommt ein Sehender, der halt einfach was sehen kann und sie dir ausspannt.«

Jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob der imaginäre Bernie oder ich das sage. Ich beende das ausgedachte Gespräch. Schwitzend lasse ich die Trainingsleiste los und nehme dem ausgedachten Bernie die Antwortmöglichkeit. War ein feiner Kerl, aber auch ein Klugscheißer.

Schwer atmend liege ich auf dem kühlen Holzboden, lang hingestreckt, eine Brücke zwischen Flur und Wohnzimmer bildend. Einzelne Tropfen rinnen mir über die Brust.

Es geht immer um den Vergleich, dieses »Du« dort und dieses »Ich« hier. Was geht bei »Du« und was geht bei »Ich«? – oder so. Manchmal ist es auch praktisch, sich dem direkten Vergleich zu stellen. Erhebend im doppelten Sinn. Das ist mir irgendwie ziemlich früh klar geworden, vielleicht nicht völlig bewusst, aber doch ziemlich klar.

Wahrscheinlich durch Tom.

Mein Vater baute damals an den Hof an. Links vom Eingang in das Wohnhaus. Toms Vater und meiner waren Freunde, und so schien es damals ganz natürlich, dass wir auch Freunde waren. Wir spielten viel zusammen. Der Rohbau diente uns Kindern als Burg oder Raumschiff, U‑Boot oder Raketenbasis. Sozusagen ein Ort voller Möglichkeiten. Ob Räuberhöhle oder Rennbahn, entschied die Tageslage. Bald kannte ich die noch nicht fertiggestellten Räume, die Säulen, die irgendwann mit Türstöcken und Türen versehen werden würden, und konnte mich mit Tom frei bewegen. Wir schleppten meine He-Man-Figuren hin und bevölkerten den von der frühsommerlichen Sonne erwärmten Beton mit dem ewigen Krieg zwischen Gut und Böse. An manchen Stellen hatten die Männer, die an dem Haus bauten, Sand hinterlassen, mit dem wir kleine Welten bauten. Als der Kampf zwischen den Parteien heftiger wurde, nahmen wir die Figuren vom Boden auf und liefen über einen Treppenabsatz. Verfolgend, Schuss- und Schwertgeräusche nachahmend, ließ ich mir von meiner an der Wand entlangtastenden Hand den Weg zeigen. Dann hörte die Wand auf und ich hielt an. Toms Schritte verhallten, schleiften in die Stille und dann kam er, ein Stück von mir entfernt, weiter unten mit sattem Geräusch wieder auf.

Vorsichtig tastete ich mit meinem Fuß, mein Turnschuh ragte über die bröckelige Betonkante ins Nichts. Ich blieb, wo ich war, vor mir ging es hinunter. Seit fünf Jahren blind, konnte ich mich auch schon damals nicht an irgendetwas erinnern, das ich irgendwann einmal gesehen haben mochte. Es konnte zwanzig Zentimeter hinabgehen oder in eine tiefe, tödliche Schlucht.

»Spring, Hansi.« Toms kindliche Stimme war noch erhitzt von unserem Lauf.

»Nein, da geht es runter.«

»Ja eben. Spring!«

Ich hatte Angst.

»Spring schon. Ich passe auf.«

»Du kannst gar nicht auf mich aufpassen, wenn ich springe.«

»Doch. Kann ich.« Schon als Kind klang er, als ob seine Überzeugung die Welt verändern würde.

»Quatsch, kannst du nicht.«

Meine Zunge schmeckte nach Adrenalin. Einen kurzen Moment war es still. Irgendwo hörte man eine Kuh unpassend in die Szene brüllen.

»Sind wir nun beste Freunde oder nicht?«, sagte Tom eindringlich.

Waren wir.

Also sprang ich.

Ein Moment der Ungewissheit, der so kurz war wie die Distanz. Ein kurzes Schweben, die Arme rudernd ausgestreckt, hoch konzentriert, in der linken Hand den mit Schwert bewaffneten Plastikhelden. Meine Füße landeten auf dem kaum einen Meter entfernten Boden und ich zerschellte nicht auf dem Grund einer steinernen Schlucht. Tom und He-Man hatten mich beschützt.

»Siehst du, wenn ich da bin, ist immer alles super.«

Tom war mein bester Freund. Über die Jahre hinweg wurde er immer beliebter, hatte den Mopedschlüssel in der Tasche, und wir gingen zusammen zu dem Bushäuschen, das schon meinen Schwestern als Treffpunkt mit Jungs gedient hatte, gingen auf Partys und in den Wald. Aber immer war er derjenige, der im Mittelpunkt stand. Noch ein bisschen weiter im Mittelpunkt, weil er, der Coolste im Dorf, den Hansi mitnahm. Das meinte er nicht böse. Aber es war der Vergleich, der funktionierte. Wäre ich nicht blind gewesen, wir hätten uns um den Mittelpunkt gestritten und hätten keine Freunde sein können.

Weil er nicht auf mich hätte aufpassen müssen, als ich sprang. Manchmal muss man einfach alleine springen.

Ich rapple mich vom Boden auf.

Nach einer zweiten Dusche beschließe ich, ein Taxi zu rufen und alleine, ohne Tom und ohne Bernie und ohne mein Leben von irgendetwas abhängig zu machen, ins Fundbüro zu fahren.

Na ja, vielleicht ein bisschen abhängig von dem Handy. Genauer gesagt: von ihrer Nummer.

Der Taxifahrer ist einer dieser fränkischen Typen, die mit ihrem jovial breiten Akzent nur für Kenner freundlich wirken. Er fährt mich in die Südstadt, beweist seine Freundlichkeit und bringt mich von seinem Taxi aus bis zur gläsernen Eingangstüre des Fundbüros.

Ich krame meinen Geldbeutel heraus, nehme einen Schein und lege ihn in die eine Hälfte des kleinen, klappbaren Plastikdings und schiebe ihn bis in die Klapplasche. Dann klappe ich es zu und falte den Schein, wo er herausragt, um das Plastik – er endet auf der Oberfläche an der Stelle, an der in Braille »20« steht. Mit den neuen Scheinen geht das auch ohne den kleinen Helfer. Auf der Vorderseite haben sie rechts und links einen schraffierten Bereich mit erhabenen Linien. Beim Fünfer ist der Bereich durchgehend, beim Zehner gibt es eine Unterbrechung, beim Zwanziger zwei. Beim Fünfziger geht es dann wieder ohne Unterbrechung los, der ist ja aber auch größer. Die Europa-Serie; quasi Blindengeld. Ich ziehe den Schein aus der Plastikvorrichtung in meiner Hand und halte ihn dem nach Deo riechenden Mann entgegen.

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