Subliminal

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Dass das Drehbuch aus vielen Sub-Drehbüchern bestand und diese wiederum aus den Plot-Vorschlägen unterschiedlicher Fan-Gruppen, deren Mitglieder sich bestimmten Filmhelden der Serie fest zuordneten und virtuell in ihre Rollen schlüpften, wussten natürlich alle. Das neuartige Erfolgskonzept ihres Quotenrenners kannte jeder, der sich mit Filmen und Serien auch nur ein bisschen auskannte. Was genau allerdings die unterschiedlichen Streaming-Zuschauer der Serie voneinander unterschied, das wussten weder die Millionen von Mitgliedern, die mit Leidenschaft am Drehbuch mitschrieben, noch die Darsteller, die in ihrer Freizeit auch Zuschauer der Serie waren und sich – das war das Kuriose daran – selbst in einer Zuschauergruppe am Drehbuch beteiligten. Über neunzig Prozent der Zuschauer waren Mitglied der Drehbuch-Community – rein statistisch gesehen also auch neun von zehn Darstellern, zumindest, wenn sie von der Serie begeistert waren – und das war bei fast jedem der Fall. Wer war nicht fasziniert vom Format Ashes Real mit seinen genreübergreifenden Storys, der Action, dem Drama, dem Moralingesättigten, dem Mysteriösen und den preisgekrönten Kostümen, die über die Laufstege und Boutiquen nun auch das Straßenbild erobert hatten?! Seit fast zwei Jahren brach die Serie alle Rekorde. Wer vorher noch nicht gestreamt hatte, tat es spätestens, seit Ashes Real an den Start gegangen war. Kaum jemand konnte sich der Faszination der Serie entziehen, nur jene, die sich dem Medienkonsum grundsätzlich verweigerten oder nur ausgesprochen wenig fernsahen. Die Konsumenten des Streaming-Formats waren wie in einem Sog.

Der Erfolg der Serie, der Erfolg der zwei anderen Formate des Hauses sowie das ganze Merchandising hatten die Produktionsgesellschaft Pink Rock geradewegs in die Liste der hundert stärksten Unternehmen Deutschlands geführt. Nicht mehr lange, und das Unternehmen würde eines der einflussreichsten Unternehmen in Deutschland sein. Um das zu prognostizieren, musste man wahrlich kein Wirtschaftsexperte sein. Binnen kürzester Zeit hatte sich Muhrs Arbeitgeber zu einem Giganten entwickelt, der inzwischen mit dem Merchandising mehr verdiente als mit der Ausstrahlung der Serien über Streaming-Abos.

Doch seit Kurzem verliefen die Dinge eigenartig. Einzelne Gruppen und die ihnen zugeordneten Seriencharaktere schienen völlig von der Rolle, was der Redensart »von der Rolle« auf ironische Art gerecht wurde. Und statt erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge weiterentwickelten, gingen der Firmenvorstand und die verantwortlichen Produzenten schon den nächsten Schritt – nein, sprangen regelrecht einen Satz nach vorne. Die Auswirkungen der angedachten Änderungen würden aber nicht unbeträchtlich sein, da war er sich ziemlich sicher. Muhrs Meinung nach sollten sie die restlichen Folgen der Serie erst mal unverändert ausstrahlen, hatten sie sich doch im Vergleich zur letzten Staffel ohnehin ziemlich weit vorgewagt. Sie waren auf medialem Neuland unterwegs, da hieß es: Vorsicht!

Aber er musste tun, was man ihm sagte, das war der Preis, den er dafür bezahlte, dass er sich vor zwei Jahren auf das lukrative Angebot eingelassen hatte. Gekribbelt hatte es, als er erfahren hatte, was genau man vorhatte; und er hatte sich geehrt gefühlt, dass er auserwählt worden war, diesem Quantensprung des medialen Zeitalters beizuwohnen, nein, ihn mitzugestalten. Es gab nur wenige Mitarbeiter der Filmproduktionsfirma, die eingeweiht waren. Die Anweisungen kamen von ganz oben. Woher die wiederum ihre Instruktionen bekamen, wusste er nicht, aber er ahnte, dass das Projekt sicherlich größere Kreise zog, denn es hing viel zu viel dran, es war zu komplex. Eines war sicher: Pink Rock war nur ein Rädchen im Getriebe. Aber die Idee hinter dem Ganzen – wer hatte die? Sein CEO? Woher hätte der dieses Wissen nehmen, wie das Konzept für die Umsetzung entwerfen sollen?

»Na los, schau rein!« Muhr klopfte drängend mit der freien Hand auf die Mappe. »Wir müssen loslegen, heute noch!«

»Bist du sicher?« Muhrs Kollege nahm die Mappe so zögerlich entgegen, als könnte er sich noch überlegen, die Anweisung anzunehmen oder nicht. Als hätte er eine Wahl. Welche Wahl? Sie hatten es begonnen, nun mussten sie es auch zu Ende führen. Zu Ende? Welches Ende? Vom Ende des Projekts waren sie weit entfernt, vielmehr war es ein Beginn. Der Beginn einer neuen Ära an Möglichkeiten. Keiner konnte absehen, wohin das alles führen würde, und es sah auch nicht danach aus, als ob es überhaupt jemals wieder gestoppt werden sollte.

»Außerdem sollen wir die Frequenz weit unter fünfzig Millisekunden drücken und die Abfolge der Icons nochmal umändern, wir nehmen die iGPX6 mit Einbettung«, fügte Muhr hinzu.

»Die Darbietungszeiten ändern? Das bringt doch nichts. Die meisten handelsüblichen Displays erreichen einfach noch nicht die volle Leuchtdichte. LC-Displays haben einfach physikalische Grenzen, gerade, was die Bildwiederholfrequenz angeht. Das ist alles für die Katz. Außerdem könnte die Frequenz möglicherweise zu kurz sein.«

Muhr starrte auf die Mappe. Streng vertraulich stand drauf. Als ob das nötig wäre! Waren sie im Filmgeschäft oder beim Geheimdienst?! Aber es stimmte schon: Die Hände, durch die Unterlagen wie diese gingen, gehörten allesamt zu Leuten, die genau wussten, dass nichts davon den Kreis der Eingeweihten verlassen durfte – sonst wären sie alle dran. Was sie taten, war nicht nur juristisch hoch problematisch – nein, es war schlicht verboten und vor allem ethisch fragwürdig. Sie hingen mit drin. Er hing mit drin.

Sawaan schlug die Mappe auf und überflog den Inhalt. »Die Masken verändern? Was soll das nun schon wieder. Wie oft sollen wir denn noch an den Störreizen was ändern?« Sawaan schüttelte genervt den Kopf und stieß hörbar den Atem aus.

»Der in den letzten Jahren extreme Konsum medialer Gewalt?«

Natascha bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Bisher hatte sich der aufwendige Weg mitten in der Rush-Hour durch ganz München alles andere als gelohnt. Neu waren Stenzels Aussagen wirklich nicht.

»Verstehen Sie mich nicht falsch!«, fügte der Professor schnell an, so schnell, als könnte er hören, dass Natascha innerlich aufstöhnte, »auch ich schaue ab und zu gerne spannende Filme, und da geht es eben oft auch um Gewalt, beziehungsweise die spielt eben mit rein. Ist halt so. Es kommt jedoch darauf an, ob der Film eine berührende und sinnvolle Story hat oder ob es nur ein plumper B-Movie ist, in dem die Fetzen fliegen und der nahezu sinnfrei und einzig auf Brutalität ausgelegt ist, finden Sie nicht? Und es macht auch einen Unterschied, welches Ausmaß die Gewalt im Film einnimmt. Ich liebe gute Filme, vor allem spannende, und natürlich sind die nicht immer ohne Gewalt. Das Gehirn eines Erwachsenen kann damit recht gut umgehen – zumindest, wenn es nicht täglich und stundenlang und immer härter damit konfrontiert wird. Es entsteht nicht gleich ein Schaden.« Er machte eine abschwächende Handbewegung. »Die Dosis macht’s, wie so oft. Aber auch das Alter. Und darauf will ich hinaus. Es geht mir nicht nur um Filme, vielleicht sogar am wenigsten, sondern viel mehr um die extrem brutalen Computerspiele. Ich kann nachvollziehen, dass Kinder und Jugendliche und natürlich auch viele Erwachsene begeistert von Computerspielen sind, auch wenn ich selbst dem gar nichts abgewinnen kann. Mir geht es nicht darum, die Medien der heutigen Zeit zu verteufeln, sie haben auch ihre guten Seiten. Sie können sinnvolle Inhalte vermitteln, angenehme Gefühle stimulieren und bilden. Sie gehören einfach zu unserer heutigen Zeit! Nein, es geht mir um immer fragwürdigere, brutalere Inhalte, darum, dass diese Inhalte in immer stärkerem Maß von immer jüngeren Konsumenten konsumiert werden. Egal, ob im Fernsehen, im Internet oder bei einem Computerspiel. Und das ist ein Problem, wissenschaftlich betrachtet. Darum erzähle ich es Ihnen.« Stenzel hielt kurz inne. Er schien auf eine Reaktion von Natascha zu warten, als wolle er sich die Erlaubnis holen fortzufahren, in Sorge, das Gespräch mit seinem Monolog zu überfrachten. Er rückte seine Brille zurecht und strich sich mit einer Hand nachdenklich über den weißgrauen Vollbart. Nach ein paar Sekunden fuhr er fort: »Im Rahmen von Hirnscans lässt sich eindeutig nachweisen, dass bei täglichem Konsum von Gewaltdarstellungen die Spiegelneuronen-Aktivität im Hirn abstumpft. Das Empfängergehirn stumpft ab – der Mensch stumpft ab. Es ist so simpel wie alarmierend. Und das gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen; allerdings ist es so, dass sich diese Veränderungen in den Hirnstrukturen junger Menschen vielfach intensiver und langfristiger vollziehen, da das Gehirn bei ihnen besonders stark auf Wachstum und Lernen ausgelegt ist. Studien belegen, dass das Gehirn eines achtjährigen Kindes beispielsweise nur zu 22% genetisch geprägt ist – den größten Anteil haben also äußere Einflüsse welcher Art auch immer und ganz egal, ob Signale bewusst oder…«, er stockte kurz und rieb sich mit der Hand den Bart. Dann räusperte er sich. »…oder unbewusst aufgenommen werden und es auf dem Nährboden der Emotionen zu Reaktionen im Hirn kommt und sich somit neuronale Muster verfestigen.« Stenzels Blick wanderte unruhig – fast unsicher wirkend – durch den Raum. Er machte eine unverhältnismäßig lange Sprechpause und schien seine nächsten Worte genau abzuwägen. »Im schlimmsten Fall ist jemand überhaupt nicht mehr in der Lage, Mitgefühl zu empfinden. Er kennt infolgedessen auch Bedauern, Schuld oder Reue kaum, manchmal sogar gar nicht.«

»Es kann doch aber nicht sein, dass wir Menschen durch Beeinflussung der Spiegelneuronen-Aktivität uns im Extremfall zu Psychopathen entwickeln? Das wäre ja eine Horrorvorstellung!«

»Moment. Das müssen wir schon differenzieren. Was ist ein Psychopath? Heute weiß man, dass das Gehirn von Psychopathen und auch von Soziopathen meist extrem wenig oder oftmals auch gar keine Spiegelneuronen-Aktivität aufweist. Die Hirnbereiche, die fürs Verständnis von Emotionen zuständig sind, verfügen über weniger graue Hirnmasse als die der meisten anderen Menschen.«

 

»Graue Hirnmasse?« Wollte der Mann nicht verständlich reden?

»Bitte, verzeihen Sie, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinaus, dass solchen Menschen zwar ansatzweise die bereits erwähnte kognitive Perspektivenübernahme ihres Gegenübers gelingt – aber es kommt zu keiner echten emotionalen Anteilnahme. Den Unterschied hatte ich erläutert. Das Leid des anderen lässt solche Menschen innerlich kalt, die kognitive Anteilnahme benutzt so jemand dann vor allem, um sein Gegenüber zu manipulieren. Neueste Studien legen nahe, dass die psychopathische Persönlichkeitsstruktur vorrangig genetisch bedingt ist.«

»Um Psychopathen soll es in meiner Reportage aber ja nicht gehen. Vielleicht habe ich mich etwas missverständlich ausgedrückt, Herr Professor«, bremste Natascha ihn. »Eher geht es um das zunehmend kühler werdende zwischenmenschliche Miteinander in unserer Gesellschaft.«

»Ja, ich weiß. Auf der Leiter von normaler Spiegelneuronen-Aktivität über ihre Verminderung bis hin zum totalen Fehlen finden Sie unzählige Ausprägungen, die wiederum die Emotionen und das Verhalten mehr oder weniger stark steuern. Es ist ja zum Glück so, dass Extremfälle nur einen kleinen Teil ausmachen – die absolute Minderheit. Nicht auszudenken, wenn es anders wäre! Es ist im Gegenteil so, dass Menschen mit stark eingeschränkter Spiegelneuronen-Aktivität oft fest in die Gesellschaft integriert sind. Mit ihrer in der Regel hohen Intelligenz und oft auch starken Anziehungskraft nehmen sie andere für sich ein, um ihre eigene Macht zu vergrößern. Wie Raubtiere unterwerfen sie ihr Umfeld, lügen und betrügen und bereichern sich auf Kosten anderer, ohne schlechtes Gewissen. Oft täuschen sie gute Absichten vor – doch das Wohl anderer ist ihnen völlig egal. Sie wissen genau, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und passen sich daran an, doch letztlich verfolgen sie nur ihre eigenen Interessen. Durch die verringerte, oft kaum mehr vorhandene Aktivität der Spiegelneuronen sind ihre Hemmschwellen gesunken oder fehlen im schlimmsten Fall ganz. Fliegen sie auf, stellen sie sich gerne als Opfer dar, Opfer ihrer Geschichte, ihres Elternhauses oder der Umwelt. Sicher sind das alles Einflussfaktoren, aber eben weniger ausschlaggebend als oftmals angenommen. Aber bezogen auf den langfristigen, ausgiebigen und extremen Konsum medialer Gewalt ist festzuhalten: Irgendwann bleiben im Gehirn empathische Reaktionen vollends aus – es ähnelt dann zunehmend dem Hirn eines Psychopathen. Aufgrund der geschrumpften Aktivität der Spiegelneuronen fällt es solchen Menschen zunehmend leichter, über die Gefühle anderer hinwegzugehen, sie auszutricksen, auszubooten, ja sie zu verletzen – irgendwann womöglich auch Schlimmeres, denn die neuronal erlernten Strukturen verfestigen sich immer mehr, und das Gehirn stuft als normal und richtig ein, was am Ende womöglich nur eines ist: herzlos – hemmungslos – brutal.«

Natascha sagte kein Wort. Das war harter Tobak.

Als hätte der Professor ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Alles hängt ab von der Dosis, der Intensität, der Dauer und der Häufigkeit der Reize. Hinzu kommen die genetische Disposition und das Umfeld, in dem man groß geworden ist, sowie das Umfeld, in dem man sich aktuell bewegt. Und dann können auch bisher völlig unbeachtete Faktoren eine gravierende Rolle spielen. Aber Forschungen in diese Richtung sind noch nicht so weit.« Er hielt einen Moment inne – zu lange für Nataschas Geschmack. »Und vergessen wir den Faktor Sucht nicht.«

»Was genau meinen Sie damit?«, hakte Natascha nach. Da war etwas in Stenzels Stimme, das sie aufhorchen ließ. Als lägen irgendwo zwischen seinen Sätzen endlich Informationen, die Neues, vielleicht sogar Spektakuläres aufs Tablett brachten… Die Forschungen in dieser Richtung sind noch nicht so weit… Aber er wollte offensichtlich nicht mehr rausrücken, warum auch immer, und um Verfestigung von Hirnstrukturen durch permanente Wiederholung, um Suchtpotenzial im Allgemeinen konnte es ihm nicht gehen. Bestenfalls hing es mit dem, auf das er nicht eingehen wollte, lose zusammen, das würde auch seinen schnellen Gedankengang zur Sucht erklären. Wobei: Zwang und Triebkraft gehörten immer irgendwie zu den Gedanken eines Hirn- und Verhaltensforschers. Das konnte es also allein nicht sein, und dazu hatte er bei ihrem Treffen bereits Stellung bezogen.

»Meine Thesen hierzu sind noch zu lückenhaft. Vergessen Sie die Bemerkung einfach.« Stenzel verstand sein Fach. Er hatte genau wahrgenommen, dass Natascha nicht den letzten Satz meinte. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss Sie auf ein anderes Mal vertrösten, ich bin heute sehr eng getaktet. Lassen Sie mir die Abschnitte, in denen Sie mich zitieren, bitte zur Prüfung zukommen! Mir ist wichtig, nicht falsch verstanden zu werden. Ich habe da so meine Erfahrungen mit Journalisten. Nichts gegen Sie persönlich – Sie verstehen?«

»Das hätte ich ohnehin getan, Herr Professor.«

»Gut. Danke. Sollten Sie noch Fragen haben, mailen Sie mir am besten. Ich bin eher schwer zu erreichen, Sie hatten bisher Glück.«

Redete sie es sich ein, oder hatte sie ein erleichtertes Seufzen vernommen?

»Das mache ich, Herr Professor Stenzel. Ganz bestimmt sogar.«

Zeichen der Zeit

Barash Tamm war auf dem Sprung zur Spätschicht, doch fünf Meter vor seinem Auto blieb er verdutzt stehen. Jemand hatte kackfrech in zweiter Reihe neben seinem geparkt. Gerade jetzt, wo er es eilig hatte, er war spät dran.

Er blickte sich um, vielleicht war der Fahrer ja noch irgendwo. Da sah Barash drei Haustüren weiter eine Person, bei der es sich vielleicht um den Fahrer handelte. Er spurtete los und rief bereits im Laufen: »Hallo! Entschuldigung! Warten Sie bitte einen Moment!« Als Barash den Mann nahezu erreicht hatte, drehte der sich auch schon um. Ein schlaksiger Typ, vielleicht um die dreißig, Barash kannte ihn nicht. »Danke! Ist das Ihr Wagen dort?« Außer Atem zeigte Barash zu dem Fahrzeug, das ihn blockierte. Der kurze Spurt hatte seinen Puls hochgetrieben, in Form war er offensichtlich nicht mehr.

»Ja. Warum?«, fragte der Mann beiläufig oder vielmehr gleichgültig, als ahnte er gar nicht, was Barash von ihm wollte, oder als interessierte es ihn einfach nicht und dieses Auto stünde da, wo man ein Auto eben hinstellte.

»Sie haben mich leider zugeparkt. Könnten Sie bitte kurz wegfahren? Ich muss zur Arbeit und hab‘s sehr eilig«, bat Barash ihn, ruhig und freundlich. Auch er hatte schon mal in zweiter Reihe geparkt, um schnell etwas zu erledigen, wer machte das nicht mal… Wenigstens war der Fahrer in der Nähe geblieben. Alles gut.

»Warten Sie, bis ich wieder da bin«, antwortete der Mann und drehte sich wieder zur Tür. »Ich hab‘s auch eilig. Muss nur schnell an den PC von Sebastian«, er zeigte auf das Klingelschild des Hausbesitzers, »wird eh schon knapp. Dauert nicht lang. Wird auf ein paar Minuten ja sicher nicht ankommen.« Der Mann klingelte, dazu klopfte er mehrfach, heftig, dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Basti! Ich bin‘s, beeil dich!«

Für ein paar Sekunden war Barash völlig perplex. Und als wäre er nicht schon verwirrt genug, hatte er obendrauf noch eine Art Déjà-vu. Es war verrückt: Als er vor ein paar Wochen im Urlaub auf Korsika gewesen war, hatte ein Mann eine Reinemachefrau des Hotels zur Schnecke gemacht, weil sie ihm nicht schnell genug sein Zimmer aufgesperrt hatte. Der Gast hatte sich versehentlich ausgesperrt und brauchte dringend seinen PC. Irgendwie ähnelte diese Situation hier jener, die er beim Vorbeilaufen im Gang der Hoteletage mitbekommen hatte. Sachen gibt‘s! Barash fing sich wieder, kam gedanklich zurück ins Hier und Jetzt. Wahrscheinlich hatte ihn das Hämmern an die Tür aus seiner Starre gerissen. Der Ignorant, der ihn zugeparkt hatte, klopfte immer härter an die Tür, er hatte es offensichtlich wirklich eilig. Das war trotzdem kein Grund sich so zu verhalten! Es war doch selbstverständlich, erst das falsch geparkte Auto wegzufahren – es sei denn, es ginge um Leben und Tod! Aber das war hier ja wohl nicht der Fall.

Barash riss nun allmählich der Geduldsfaden. In forderndem Ton sagte er: »Ich weiß nicht, ob Sie mich nicht verstanden haben?! Ich – muss – zur – Arbeit! Und zwar jetzt! Ich will losfahren! Sofort! Nicht in ein paar Minuten. Was soll denn das?«

Barash machte einen Schritt auf den Mann zu. In dem Moment öffnete sich die Tür. Der Ignorant verlor kein Wort, nicht mal für die Begrüßung, und wollte ins Haus.

Barash machte noch einen Satz nach vorne, um den Mann am Arm festzuhalten. »Sie bleiben schön hier!«, fuhr er ihn barsch an.

Alles ging verflixt schnell, Barash konnte nicht mehr ausweichen. Der Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht. Dann knallte die Tür zu.

Mallorca

Joachim Seidel und sein Tauchpartner Manfred Tatzer tauchten nach links weg, um an dem für sie vorgesehenen Platz unter Wasser ihre heutigen Aufgaben zu erfüllen. Wie jeden Tag bestanden diese aus der Entnahme von Proben an unterschiedlichen Stellen des Riffs sowie aus der Beobachtung der Fischpopulation. Sinnvolle Arbeiten, keine Frage. Was es allerdings mit den Fragen auf sich hatte, die sie später, wenn sie wieder in der Station waren, beantworten mussten, blieb ihm ein Rätsel, wie so vieles hier. Fragen wie: »Beschreiben Sie Ihren Gefühlszustand bezogen auf die Zeiten, in denen Sie im Wasser arbeiten. Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Was empfinden Sie für die Tier- und Pflanzenwelt, die zu schützen Sie mit den Untersuchungen helfen?«, und eine Menge anderer Schwachsinn.

Er selbst stellte sich eigentlich nur zwei Fragen: Was zum Geier das alles mit den Medikamenten und den Verhaltensregeln während der Landgänge zu tun hatte? Und warum Elektroden zur Messung diverser Vitaldaten und offensichtlich auch zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität an seinem Körper angebracht waren? Wo es doch hier offensichtlich um Umweltforschung ging, nicht um Beobachtung eines Menschen unter für ihn unnatürlichen Bedingungen und Isolation? Letzteres würde für ihn Sinn machen, einer gewissen Logik folgen, wenngleich es nicht die Einnahme der Medikamente erklärte.

Vielleicht erfüllten die Probanden hier unten ja auch verschiedene Zwecke gleichzeitig? Vielleicht war es eine Kombination verschiedener Forschungen? Meeresbiologische, humanmedizinische und psychologische Tests? Der Punkt, dass sie jeweils viele Tage am Stück hier unten verweilten und sie dadurch psychisch und physisch in einer ungewöhnlichen und auch extremen Situation waren, musste auf jeden Fall eine Schlüsselrolle spielen. Warum sonst tauchte man nicht einfach drei oder vier Mal am Tag ab und lebte die restliche Zeit ganz normal an Land? Der reine Zeitgewinn durch die Tatsache, dass sie nonstop unter Wasser verweilten, konnte es nicht sein. Es mussten die widernatürlichen Bedingungen sein, um die es bei den Versuchen an den Probanden ging. Möglicherweise erforschte man die Auswirkungen des Stickstoffs auf Körper und Geist, die Folgen des Sättigungstauchens. Die meeresbiologischen Arbeiten hier unten stellten entweder reinen Zeitvertreib oder aber die Erfüllung diverser Aufträge aus gänzlich anderen wissenschaftlichen Bereichen dar. Vielleicht finanzierte man damit das Ganze auch nur.

Aber er würde den Zweck des Ganzen ohnehin nicht ergründen, mit seinen Fragen drehte er sich nur im Kreis. Er sollte es gut sein lassen und einfach seinen Job machen, das Geld absahnen, und gut war.

Joachim Seidel wollte die Zeit am Riff nun in vollen Zügen genießen. Früh genug musste er wieder zurück ins Habitat – sein Gefängnis – besser konzentrierte er sich nun auf die Zeit hier draußen. Nach ein paar Minuten jedoch schweiften seine Gedanken erneut ab. Er fragte sich, ob die anderen Probanden an ihrem Platz ähnliche Aufgaben erfüllten wie er oder ob sie etwas anderes taten. Eine der Regeln war, nur den eigenen Arbeitsplatz unter Wasser aufzusuchen, diesen auf direktem Weg vom Habitat aus anzutauchen und nach Erledigung der Aufgaben auf direktem Weg dorthin zurückzukehren. Nur in Notfällen durfte die Tauchstelle anderer Taucher aufgesucht werden.

Seidel wurde unruhig. Er wollte zu gerne wissen, ob sie alle auch während der Tauchgänge dasselbe tun mussten wie innerhalb der Station. Er nahm an, dass es so war. Im Habitat hatten alle Probanden dieselben Möglichkeiten zum Zeitvertreib, nahmen zumindest augenscheinlich dieselben Pillen und konnten auf dieselben Filme und Spiele zugreifen. Sie tranken und aßen sogar fast dasselbe, was die vielen Fragebögen zu Allergien und Unverträglichkeiten erklärte.

 

Seidels Neugier siegte. Zeit war genug, er würde so oder so bald zur Unterwasser-Füllstation tauchen, um den Atemgasvorrat zu erneuern. Genauso gut konnte er das gleich jetzt machen und dann beim Lostauchen versehentlich die falsche Richtung einschlagen. Was sollte diese Geheimniskrämerei?! Er zeigte seinem Tauchpartner an, dass er zu einer anderen Stelle tauchen würde. Tatzers Protest lief ins Leere. Kaum hatte sich Seidel in Bewegung gesetzt, musste Tatzer widerwillig folgen. Keinesfalls durfte man in ihrer Situation allein tauchen. Ein Ausfall des Atemreglers oder ein anderes gravierendes Problem, und für den Betroffenen würde es übel ausgehen. Das Habitat war fast zweihundert Meter entfernt, und ein Notaufstieg wäre keine Option, da der im Körpergewebe gelöste Stickstoff unkontrolliert ausperlen würde.

Dennoch finden wir diese - mehr oder weniger - eingeschränkte Spiegelneuronen-Aktivität wahrscheinlich ständig um uns herum. Immer wieder hallte dieser Satz in Nataschas Kopf nach. Sollte sie die Reportage verstärkt von der wissenschaftlichen Seite aufziehen? Es wäre ein interessanter Ansatz. Zu fachlich durfte sie das Thema aber auch nicht aufbereiten – zumal sie selbst daran zweifelte, dass die gesellschaftlichen Veränderungen einzig durch biochemische Veränderungen im Gehirn zu erklären waren. Und selbst wenn – wo blieb eine Erklärung dafür, dass das Sozialverhalten der Menschen gerade so extrem abkühlte? Der verstärkte Medienkonsum konnte als Erklärung allein nicht herhalten. Sicher spielten viele Faktoren zusammen, diese zu betrachten und zu analysieren, würde eine gute Grundlage für die Artikel-Serie bilden. Sie war auf dem richtigen Weg, das spürte sie. Sie wusste aber, sie musste ihre Fühler auch in andere Richtungen ausstrecken. Vielleicht sollte sie das Thema sogar ausweiten? Von Verrohung hin zu Gewaltbereitschaft ließ sich möglicherweise eine Brücke schlagen. Irgendwie hing das alles zusammen. Biochemisch betrachtet war es vom Verlust der Empathie-Fähigkeit zur Gewaltbereitschaft offensichtlich nur ein schmaler Grat, ja: das eine war zwangsläufig eine Folge des anderen. Diesem Ansatz nachzugehen, würde sich lohnen.

Sie war gespannt, was der heutige Tag bringen würde. Zwei Stunden noch, dann würde sie mit einer renommierten Kollegin Stenzels zusammensitzen und hören, was sie zum Thema zu sagen hatte. Nataschas Erkundigungen nach zu urteilen, warf Dr. Paula Dannowitz Thesen in den Raum, die in Fachkreisen nicht selten kontrovers diskutiert wurden. Vielleicht brachte sie neue Impulse für die Reportage. Die nächsten beiden Fachleute, die Natascha interviewen wollte, lebten und praktizierten nicht in München, sondern in Hamburg und Köln. Natascha würde ihre Mitarbeiter auf sie ansetzen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie Lea lassen sollte, wenn sie die beiden Interviews selbst durchführen würde.

Etwas über eine halbe Stunde später näherten sich Seidel und Tatzer dem Abschnitt, in dem seine lethargischen Kollegen eingeteilt waren. Wenn die bei allem so emotionslos waren wie in der Station, dann pennten die beiden wahrscheinlich auch unter Wasser.

Ein paar Meter vor sich erblickte Seidel dieselben Behälter, Laborutensilien und Messgeräte, die auch er und Tatzer am Riff bei sich hatten. Einige Labor-Röhrchen und Behälter waren bereits mit Proben und Entnahmen gefüllt. Ganz klar, die Jungs hatten denselben Arbeitsauftrag. Schön, dass diese Vollpfosten zumindest damit ein gutes Werk taten – sie halfen dabei, mehr herauszufinden über die Flora und Fauna am Riff oder um was auch immer es hier gehen mochte…

Seidel schaute sich um. Keine Spur von den Typen. Tatzer hörte nicht auf zu nerven. Ständig drängte er Seidel, in ihren Quadranten-Abschnitt zurückzukehren. Wieder einmal schoss Seidel der Gedanke durch den Kopf, dass er lieber allein unterwegs wäre, Solo-Tauchgänge entsprachen seinem Naturell viel mehr. Er war eher ein Einzelgänger, nur zu gerne hätte er auch hier sein eigenes Ding durchgezogen. Eigentlich würde das auch mehr ins Bild passen, denn sie sollten doch ihren Vorlieben nachgeben. Warum dann beim Tauchen an konservativen Sicherheitskonzepten festhalten?! Es war nicht schlüssig. Aber was war hier schon schlüssig?!

Seidel entschloss sich, den großen Felsen zu umrunden, auf dem das Leben blühte wie selten im Mittelmeer. Er zeigte Tatzer sein Vorhaben an. Der zögerte wieder, folgte dann aber doch, blieb jedoch in einigen Metern Abstand zu Seidel, aus welchem Grund auch immer. Seidel aber war das recht. Besser, als sich ständig auf der Pelle zu hocken.

Nach einigen Metern entdeckte Seidel unter sich auf sandigem Grund eine große Tasche von der Sorte, in die man Tauchausrüstungen packte. Sie war offen. Seidel spähte hinein. Einige Bleistücke waren darin, wohl um die Tasche an ihrem Platz zu halten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Seidel, was sich noch darin befand. Sofort war ihm klar, dass die Bleistücke nicht der Standortsicherung dienten, sondern ihren Zweck erfüllt hatten, der darin bestand, die Tasche an dieser Stelle des Meeres zu versenken, was wohl niemand hatte mitbekommen sollen, am wenigsten er.

Sein Atem stockte. Was zum Henker?! Dann löste er sich aus der Sekundenstarre. Ohne Tatzer auch nur ein Zeichen zu geben, trat er mit aller Kraft in die Flossen und schwamm so schnell er konnte vorwärts.

Dr. Dannowitz war eine Frau, die das gewisse Etwas ausstrahlte, das andere Menschen und insbesondere Männer unweigerlich in ihren Bann zog – das zumindest hatte Nataschas Redakteur Kessler gesagt, der sie auf einer Konferenz persönlich kennengelernt hatte. Natascha konnte ihrem Kollegen nur zustimmen, die Frau, die nun auf sie zuschwebte wie ein vollkommenes Geschöpf auf dem Catwalk, schaffte es, dass selbst Nataschas Blicke eine Sekunde länger als gewöhnlich an ihr hafteten. Die Bilder auf Wikipedia und den wissenschaftlichen Internetseiten hatten nicht annähernd ihre Schönheit zur Geltung gebracht, das stellte Natascha neidlos fest. Rotbraun schimmerndes, leicht gewelltes Haar, das füllig bis über die Schultern fiel, ein makellos schönes Gesicht, feine und perfekt proportionierte Züge, ihr Make-up, ihr Style, ihre Figur, ihr eleganter Gang, ihre Kleidung – einfach alles war unwirklich schön und anmutig. Aristokratisch und doch natürlich schritt sie auf Natascha zu. Wie eine hochrangige Elfe aus einer anderen Welt, verletzlich und zugleich unglaublich stark. Und dann diese im Kontrast zu Haarfarbe und Teint tiefblauen Augen! So tief, dass man sich, sobald man hineinblickte, in ihnen verlor. Die Frau hatte eine enorme Sogwirkung. Als sie nun vor Natascha stehen blieb, sah sie aus, als hätte sie sich soeben direkt von einem Pariser Laufsteg hierher gebeamt, ohne dabei dem leisesten Lüftchen ausgesetzt gewesen zu sein oder stundenlang in einem Autositz zugebracht zu haben – was den knitterfreien Stoff ihres figurbetonten Hosenanzugs und den perfekten Sitz ihrer Frisur erklärte. Selten hatte Natascha eine derart schöne Frau getroffen, und es würde sie nicht wundern, wenn die Männer dieser Elfe bedingungslos in ihre Anderswelt folgen würden. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nicht einen ihrer männlichen Kollegen vorbeizuschicken – die hätten sich wahrscheinlich nicht auf ihre Aufgabe konzentrieren können. Natascha grinste, richtete sich auf, stellte sich vor und streckte der Psychologin die Hand entgegen. Deren Händedruck war kräftig für eine Frau, aber nicht unangenehm; Natascha schüttelte selbst auch gerne mit reichlich Schmackes Hände.

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