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Er goss sich eine Cola ein, riss sich eine Tüte Chips auf und wählte einen Film aus.

Seltsam, dachte er, eigentlich hasse ich doch Cola und Chips, oder nicht?

Sie sind doch ein Mann der Geheimnisse.

War das wirklich nur ein simpler Versprecher, oder wollte der Mann damit etwas andeuten? Geheimniskrämerei widerte Frank an! Ja, einst hatte er Geheimnisse vor sich hergeschoben, damals, als die dramatischen Ereignisse um Bornholm ihren Lauf nahmen. Ja, einst hatte er selbst ein Geheimnis gehegt. Und hatte es gerechtfertigt vor sich. Mittel zum Zweck war es damals. Um Schlimmeres zu verhindern, um das Richtige zu erreichen.

Aber wo hatte es damals hingeführt? In ein unbegreifliches Drama, viel größer als je hätte werden können, was Frank zu verhindern versucht hatte.

Seither wollte er nie wieder Geheimnisse haben. Die Wahrheit war das einzig richtige! Und er hatte das Gefühl, als wären die Forschungsarbeiten, an denen diese Sub-Search-Gruppe beteiligt war, alles andere als offenes Terrain.

Wer weiß schon, worum es dabei geht? Sollte es nur ums Geld gehen – dafür wurde das Meer inzwischen genug ausgebeutet, von den Riffen war der Raubbau durch den modernen Menschen schließlich bis zum Meeresgrund der Tiefsee vorgedrungen; nur um des Geldes wegen – da wäre er raus aus der Nummer, um Geld war es ihm noch nie gegangen, bei nichts, nicht einmal damals als Forscher, noch später als Inhaber einer Tauchbasis. Das Materielle war nie sein Antrieb gewesen. War es auch heutzutage nicht. War nur die Frage, um was es hier bei dieser Sache eigentlich ging. Ziemliche Geheimniskrämerei… Hm… Andererseits… Reizvoll wäre das schon – eine Beratertätigkeit.

Und er könne selbst viel tauchen, hieß es. Obendrauf würde sich ihm ein kleiner Traum erfüllen. In all den Jahren als Taucher, Forscher und Tauchlehrer mit seinen knapp zehntausend geloggten Tauchgängen war es ihm nie vergönnt gewesen, in einer Unterwasser-Station mitzuarbeiten. Einzig hatte er zwei stillgelegte Unterwasser-Habitate von außen gesehen, kürzlich erst, während eines Urlaubs. Verlassene, mystisch anmutende Gebilde, die sich präsentierten wie ein Ding aus einer anderen Zeit oder einer anderen Dimension und die inzwischen nur noch als Tauchtouristen-Attraktionen herhielten.

Inzwischen war es später Nachmittag, Frank war in seinen Gedanken versunken auf dem Weg zu seinem Auto, um kurz zum Hafen zu fahren. Wie fast jeden Tag wollte er nach der letzten Tauchausfahrt des Tages beide Boote checken und kurz nach dem Rechten sehen. Nötig war es eigentlich nicht, sondern mehr eine Gewohnheit, ja fast ein Ritual, den Tag damit – und mehr noch mit dem obligatorischen Kaffee im Pepe – abzuschließen.

Die Taucher-Runde im Pepe bestand immer aus denselben Bootseignern, allesamt Inhaber hiesiger Tauchbasen, die sich untereinander Neuigkeiten mitteilten, die fürs Tauchgeschäft von Belang waren. Vor allem aber dienten die Treffen dem Miteinander unter Konkurrenten, die sich gegenseitig dennoch nicht wie Konkurrenten behandelten, sondern sich vielmehr als Gleichgesinnte betrachteten und so einander auch begegneten. Menschen mit ähnlichen geschäftlichen Bedürfnissen, Freuden, Sorgen und Nöten. Meist kam er nach circa eineinhalb Stunden wieder vom Hafen zurück und erledigte dann noch im Büro den Papierkram, der über den Tag angefallen war.

Ohnehin hatte er in letzter Zeit das Gefühl, mehr und mehr zum Geschäftsmann zu mutieren, zum Tauchen kam er nur noch selten. Ein Jammer, das war doch der Grund, warum er vor Jahren seinem alten Leben den Rücken gekehrt hatte. In seiner Funktion als Unterwasserarchäologe war er auch viel getaucht, aber das war nicht vergleichbar gewesen. Vielmehr war das, was damals geschehen war, der Grund für den Schlussstrich… Aber das Kapitel war abgeschlossen, er hatte seinen Frieden gefunden.

Sein Neubeginn als Tauchlehrer war gewiss nicht nur der Leidenschaft zuzuschreiben, sondern auch eine Art Rebellion gegen sein früheres berufliches Wirkungsfeld gewesen. Er hatte einen Schlussstrich gezogen. Endgültig, so dachte er zumindest. Bis heute. Bis dieser Grothe aufgetaucht und ihm eine Tätigkeit angeboten hatte, bei der er nach langer Zeit wieder als Forscher, als Wissenschaftler und vor allem als Taucher gebraucht wurde, nicht nur als Papiertiger und Bürokrat, der er zunehmend geworden war und der sein innerstes Ich eigentlich nicht sein wollte.

Nicht, dass ihn der heutige Besuch dieses Mannes in einen unwiderstehlichen Sog gezogen hätte wie damals. Es war anders als der Lockruf vor fünf Jahren, dem des archäologischen Instituts, mit dem er fünfzehn Jahre zuvor gebrochen hatte, jenem Lockruf, der ihn nach langer Funkstille damals zurück in sein altes Leben geführt und der ihm letztlich ermöglicht hatte, alte Rechnungen zu begleichen und endlich Frieden zu finden. Jener Ruf aus der Vergangenheit war ein völlig anderer gewesen. Intensiver. Aufwühlender. Er hatte alte Wunden aufgerissen und das nicht verarbeitete Trauma ans Tageslicht befördert. Und hatte ihn in einen Strudel gezogen.

Nein, diese heutige Verlockung, nach langer Zeit ein kleines bisschen wieder Forscher zu sein, war damit nicht zu vergleichen. Und doch: als tauchender Berater tätig zu werden, kitzelte sein offensichtlich noch immer latent vorhandenes Forscher-Ich aus ihm heraus, und mit jeder Stunde, die seither verstrichen war, breitete es sich mehr und mehr in ihm aus, anders als damals, aber doch deutlich wahrnehmbar. Die Sache klang nach Abenteuer, nach der Jagd nach Erkenntnissen, nach Neuem. Und etwas in ihm lechzte nach Veränderung.

War es das, was man gemeinhin als Midlife-Crisis bezeichnete? Unwillkürlich musste er schmunzeln. Ganz so abwegig war es ja vielleicht nicht. Schlitterte er in letzter Zeit womöglich klammheimlich in eine Krise hinein, und dieser Mann hatte ihn nur zur rechten Zeit am rechten Ort mit der richtigen Lösung für seine Ruhelosigkeit abgeholt? Gerade zu einer Zeit, als er fast täglich hinterfragte, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, erneut zu expandieren? Er war endgültig vom abenteuerlustigen Taucher zum Unternehmer avanciert! Ums Geld ging es nicht. Um was dann? Es hatte sich einfach so entwickelt, ein unaufhaltbarer Prozess, der dazu führte, dass er sich nun zunehmend gefangen fühlte. Zwar entlastete ihn sein Freund Ralf, der sich immer in Franks Sinne und nahezu eigenständig um den ersten Basis-Ableger auf Mallorca kümmerte.

Aber trotzdem: Franks Aufgaben waren immer umfangreicher geworden. Und jetzt sollte noch eine dritte Basis dazukommen?! Übernahm er sich da nicht? Wenigstens führte er die Allgäuer Tauchbasis nicht mehr, die in Deutschland bis vor einer Weile noch parallel zu der auf Mallorca bestanden hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis Frank die geschäftlichen Brücken nach Deutschland endgültig abgerissen hatte. Leicht war ihm das nicht gefallen, doch es war besser so. Lange Zeit war er zwischen beiden Ländern hin und her gependelt. Die dafür investierte Zeit und Energie hatte er nun gewonnen, dafür aber gleich das neue Projekt auf der Insel in Angriff genommen. So weit, so gut.

Was ihm aber in letzter Zeit am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass er selbst nicht einen einzigen Kurs mehr gab. Er wollte Tauchlehrer sein, liebte die Begeisterung in den Augen seiner Schüler, den Glanz in ihren Augen nach ihrem ersten Tauchgang und den Glanz nach jedem weiteren und den Glanz aufgrund der Vorfreude auf den nächsten Dive. Er war nicht nur dabei – er war mittendrin gewesen.

Und jetzt? Nicht einmal mehr dabei war er! Er stand im Hintergrund, lenkte den Alltag seiner Mitarbeiter, die das Leben lebten, das er und Jennifer eigentlich hatten leben wollen. Oder sah er das Ganze zu negativ? War es nicht der normale Lauf der Dinge? Er war nicht mehr dreißig, sondern fünfundvierzig. Er und Jennifer hatten sich weiterentwickelt, das Unternehmen hatte sich weiterentwickelt. Unternehmen! Allein das Wort… Er war plötzlich mehr Geschäftsmann als Taucher. Zwar war er noch immer Taucher aus Leidenschaft, nur konnte er selbst dieser Leidenschaft kaum mehr frönen. Und zunehmend hatte er auch immer weniger Momente als Ehemann und Vater, denn auch diesen Rollen schien er immer weniger gerecht zu werden. Er war im sprichwörtlichen Hamsterrad gefangen, raste wie ein Wilder darin voran und kam trotzdem nicht von der Stelle – das wahre Leben zog mehr und mehr an ihm vorüber, so zumindest empfand er es, jeden Tag ein Stückchen mehr.

Und heute war unvermittelt dieser Anwerber in sein Leben getreten. Ein Wink? Woher? Gut oder schlecht? Er hatte keine Ahnung. Wobei Jennifer alles andere als begeistert gewesen war, als er vorhin ganz nebenbei erwähnt hatte, dass man ihm ein Angebot unterbreitet habe, und er sie gefragt hatte, was sie denn davon halte. Um was genau es denn gehe, hatte Jennifer gefragt. Das könne er ihr auch noch nicht sagen, wisse es selbst nicht genau, habe nur Andeutungen gehört, war seine Antwort gewesen. Es gehe jetzt erst mal darum, ob er grundsätzlich in der Art etwas tun wolle und solle. Als Forscher Geheimnissen auf den Grund gehen – ja! Wenn aber Menschen Geheimnisse hatten – nein! Und noch weniger mochte er es, wenn er aufgrund einer Verschwiegenheitserklärung vor anderen Geheimnisse haben sollte, ohne im Vorfeld aber zu wissen, ob es überhaupt redlich war, sein neues Wissen dann für sich zu behalten. Wer wusste schon, um was es bei dieser Forschung ging und ob es mit seinem Idealismus vereinbar war? Jennifer betrachtete die Sache mit Skepsis, und sie hatte recht. Wenn es ihn aber glücklich mache, solle er es tun. Sofern er nicht nur noch fort sein würde, hatte sie mit ernster Miene hinzugefügt.

Und trotzdem, da war sie wieder, diese Abneigung gegen Geheimnisse. Wieder schoss es ihm durch den Kopf. Sein damaliges Geheimnis. Und das war nicht klein gewesen. Ja, es hatte damals Mittel zum Zweck sein sollen, um Schlimmeres zu verhindern und das Richtige zu bewirken. Am Ende war er in einen Abgrund geschlittert, und andere Personen gleich mit, inklusive Jennifer. Das wollte er nie wieder erleben. Alles hatte zum Schluss ein gutes Ende genommen, das ja, und hatte sogar zum inneren Frieden geführt und dazu, dass er endlich einen Schlussstrich zog. Aber es war ein schockierender, trauriger und harter Weg gewesen. Zudem hatten einige Personen einen hohen Preis dafür bezahlt, auch wenn er selbst dafür damals nichts konnte. Mit Geheimnissen war es eben so eine Sache, mit den kleinen, und mit den großen erst recht… Nicht immer im Leben heiligte der Zweck die Mittel…

 

Aber er solle sich nicht so viele Sorgen machen, das zumindest würde Jennifer sagen. Die Frage war nur, was sie sagen würde, wenn er ihr mitteilen würde, dass er inzwischen so gut wie entschlossen war, sich die Details der Forschung anzuhören und – je nachdem, was dabei herauskäme – höchstwahrscheinlich zuzusagen und über den Winter tatsächlich etwas Neues auszuprobieren? Das war nun seine größte Sorge… Und ganz nebenbei stand noch Grothes Frage im Raum nach hochqualifizierten Tauchern, die sich für die Forschungsarbeiten als Probanden zur Verfügung stellen würden. Er solle überlegen, wer aus seinem Umfeld in Frage komme, und den Kontakt herstellen. Diese Jobs seien gut bezahlt und würden kein gesundheitliches Risiko bergen.

Frank hatte schon jemanden im Sinn, dem er von der Sache erzählen würde. Vielleicht würde derjenige dann den Winter über doch auf Mallorca bleiben, statt in die Karibik zu flüchten, was die Chancen erhöhen würde, dass er zum Frühjahr wieder Franks Team verstärkte. Jemand, der inzwischen zu einem guten Freund geworden war und den er, würde er die Insel verlassen, wahrlich vermissen würde.

Zeichen der Zeit

Larissa Ebel saß auf einem Stuhl in der hinteren Reihe. Hätte ihr Blick töten können, ihre Mitschülerin Marie Gessner wäre just in diesem Moment auf der Bühne umgefallen. Bühne. Podium. Wie auf einen Thron erhoben muss sich die blöde Kuh vorkommen! Lässt sich feiern, die Bitch! Larissa kochte. Hass brachte ihr Blut in Wallung. Neid war es nicht. Warum sollte sie auf Marie neidisch sein?! Dafür, dass diese Schnepfe und ihr Anhang heute vom Bürgermeister persönlich ausgezeichnet wurden? Dafür, dass sie sich mit ihrem vor einem Jahr ins Leben gerufenen Jugendprojekt auf sozialer Ebene in einer Weise verdient gemacht hatte, wie es nur wenige junge Menschen je zuvor fertiggebracht hatten? So jedenfalls nannten es die schleimigen Redakteure der lokalen Presse. Oder dafür, dass nun auch hohe Tiere in Berlin auf das Projekt aufmerksam geworden waren und diese ekligen Good-Girls Lobeshymnen und Blumen von dort erhielten? Dafür, dass sie nun vollends zu Vorbildern stilisiert und schlimmer denn je gelobhudelt wurden? Sicher nicht!

Diese Tussis! Wie Stars auf der Bühne! Die hatten ja schon immer einen Hang zum Strebertum – aber wie die seit letztem Jahr abgingen – Kotz! Allen voran diese Marie, so was von perfekt! Aber das Blatt würde sich wenden. Die Rollen, die Marie und ihre bescheuerten Freundinnen eingenommen hatten, waren etwas für Loser. Mit ihrem ganzen Gutmenschen-Gehabe und ihrer »Vorbildfunktion für alle Schüler«, wie es immer genannt wurde, würde es bald ein Ende haben. Die Zeit war gekommen. Diese von allen geliebten Püppchen hatten sich für die falsche Seite entschieden, im echten Leben wie auch innerhalb der Community. Und jetzt hatten sich ihre ekelerregend perfekten Einstellungen und Eigenschaften auch noch übel potenziert. Kotz!

Aber egal – deren Problem. Naja, am Anfang… Inzwischen war es ein Problem der gesamten Community, also ein Problem von allen. Zum Glück gab es ja auch noch Bad-Girls – so wie sie. Früher schon, und inzwischen mehr denn je. Gut so. Noch mehr von diesen Vorzeigepüppchen, die Community würde stinkelangweilig werden.

Das war ein Problem! Aber ein Problem, das bald gelöst wäre. In den letzten Tagen war Larissa mehr und mehr klargeworden, worin ihre Aufgabe bestand und was zu tun war.

Die Aula der Mittelschule war zum Bersten gefüllt, Lehrer, Eltern, Freunde, Bekannte und die Presse. Die meisten lauschten dem ganzen Gelaber. Warum war sie eigentlich hergekommen? Sie wusste es selbst nicht so recht. Marie auszuschalten, stand erst später an. Wahrscheinlich wollte sie sich nochmals überzeugen, wie nervig Marie und ihr Anhang tatsächlich waren. Das war gelungen. Wenn sie die Mädels auf dem Podium so sah, war klar, dass sie diesen Weg beschreiten musste. Wie um ihr Vorhaben zu bestätigen, fasste sie in ihren Rucksack und fühlte den Schlagring, den ihr eine Freundin besorgt hatte. Er fühlte sich kalt an. Das passte. Sie grinste in sich hinein.

Dann schaute sie auf die Uhr. Fast hätte sie die nächste Folge verpasst. Besser würde sie die Dauer der Veranstaltung nicht nutzen können, wo sich doch zum Ende der aktuellen Staffel gerade alles so zuspitzte… Schnell kramte sie ihr Smartphone heraus, stöpselte sich den Lautsprecherknopf ins Ohr, loggte sich im Portal ein und startete die neueste Folge ihrer Lieblingsserie. Schon kurz darauf war sie so darin vertieft, dass sie alles um sich herum ausblendete.

Zeichen der Zeit

Mit voller Wucht schmiss Tom Meissner die Tür zu seinem Zimmer zu. Sofort war der Wutschrei seiner Mutter zu hören. »Spinnst Du?! Musst Du die Tür immer so zuknallen?!«

Tom reagierte nicht. Er schmiss seine Jacke in die Ecke und ließ sich am Schreibtisch in den Stuhl plumpsen. Mit einer Hand schnappte er sich die Cola-Dose, mit der anderen startete er den PC. Er war spät dran. Mit seiner Mutter würde er später reden – was auch immer sie schon wieder wollte, als sie ihn eine Minute zuvor unten abzufangen versucht hatte. Ich bin fünfzehn, nerv nicht, Alte! Kurz darauf war er eingeloggt.

Die nächsten vier Stunden hatte er Zeit, das neue Level zu erreichen. Das Level! Marc, dieser Vollpfosten, war seit Tagen drin. Warum war er selbst noch nicht so weit? Die letzten Tage waren nicht gelaufen wie geplant, weder hier im Game, noch in seiner »Rolle«, die er in der aktuellen Staffel der Serie übernommen hatte, entwickelten sich die Dinge so, wie er es erwartet hatte. Wenigstens den heutigen »Außenauftrag« hatte er erledigt, das brachte ihm Zusatzpunkte. Heute war der Tag!

Hunderte brutal niedergemetzelte virtuelle Spielgegner und euphorisch klingende Triumphmelodien später ertönte nach drei Stunden lautstark die langersehnte Siegesfanfare, er hatte das nächste Level erreicht. Jep! Jetzt bin ich gespannt, was auf mich wartet, dachte Tom und lehnte sich zurück, ungeduldig mit den Füßen wippend.

Da blinkte das Kurierbriefsymbol! Er öffnete die Nachricht. Ups! Alter… krass… Er musste Marc anrufen und ihn fragen, welche Wahl der getroffen hatte und ob er sich auch so entscheiden sollte. Voll krass…

Tom sah auf die Uhr. Er hatte Zeit aufgeholt. Nach dem Telefonat mit Marc würde ihm noch ausreichend Zeit bleiben, um an seiner Rolle mitzuarbeiten. Heute war es noch möglich, Vorschläge für die nächste Folge einzureichen. Seine Ideen wurden von Tag zu Tag besser, und er konnte es kaum erwarten. Diese Staffel versprach actionreicher und aufsehenerregender zu werden als alle Staffeln zuvor. Hast Du deine Hausaufgaben heute schon gemacht?, hörte er die Stimme seiner Mutter im Kopf. Er grinste. »Und ob«, raunte er.

Trotz Stau kam Natascha pünktlich zu ihrem Termin. Kurzfristig hatte sich der renommierte Neurowissenschaftler, Hirnforscher, Psychologe und Verhaltensforscher Prof. Dr. Dr. Hubert Stenzel bereiterklärt, Natascha zu empfangen. Wenn er – eine Koryphäe auf seinem Gebiet – keine Antworten auf ihre Fragen hätte, wer dann?!

»Frau da Silva, kommen Sie herein, setzen Sie sich, bitte!« Stenzel zog Natascha einen Stuhl heran, wartete, bis sie Platz genommen hatte. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Er setzte sich.

Natascha wählte einen Espresso, den kurz darauf ein junger Mann hereinbrachte. »Vielen Dank, Herr Professor Stenzel, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen. Ich weiß das zu schätzen.«

»Gern. Sie hatten wirklich Glück. Die nächsten Wochen bin ich fast nur unterwegs. Wie kann ich Ihnen konkret behilflich sein?«

Der Professor, ein etwa sechzigjähriger Herr mit schütterem grauem Haar, einer schwarz umrandeten Brille und weißgrauem Vollbart, verschwendete keine Zeit mit Small-Talk, was Natascha recht war, sie hatte noch einen weiteren Termin, eine Stunde Fahrtzeit entfernt, bei einer Fachkollegin von Stenzel. Natascha hatte sich vorgenommen, sich in den nächsten Tagen ein Meinungsbild darüber zu machen, ob an ihrer Wahrnehmung, dass das Miteinander in der Gesellschaft sich gegenwärtig stark veränderte, etwas dran war, wie das die Fachleute sahen und welche Gründe sie vermuteten. In kurzen Zügen schilderte sie, worum es ihr ging, an was sie arbeitete, und was sie sich von dem Gespräch erwartete.

»Empathie. Ein gutes Stichwort, Frau da Silva. Empathie. Eine sinnvolle Fähigkeit, die uns Menschen in die Wiege gelegt wurde.« Stenzel lehnte sich zurück. Sein üppiger Bauch präsentierte sich jetzt in voller Pracht. Er hielt einen Moment inne. »Rücksichtsvolles Miteinander, sich um andere kümmern, für jene da sein, die uns brauchen, für Kinder, für ältere, pflegebedürftige oder einfach für schwächere Mitmenschen und Schmerz, Leid, Trauer mit anderen zu teilen, ja darauf überhaupt zu reagieren, all das wäre ohne die Fähigkeit zur Empathie schlicht unmöglich.« Wieder eine kurze Pause, als suche er nach den richtigen Worten, einem Laien etwas klarzumachen. »Wie kommt es nun dazu, dass sich dieses natürlich vorhandene Empfinden eines Menschen ändert? Die Ursachen sind komplex. Teils ist es auch genetisch bedingt, dazu später. Vereinfacht gesagt: im Frontalhirn schrumpfen jene Areale, die für die Kontrolle unseres Verhaltens und unserer Emotionen zuständig sind. Ist der Anteil dieser Hirnbereiche gering oder wird er zunehmend geringer, dann nimmt bei der betreffenden Person die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, ab. Übrigens nimmt auch die Fähigkeit ab, Aggression zu kontrollieren, und Aggression tragen wir ja mehr oder weniger alle in uns, zumindest zeitweise und in unterschiedlicher Intensität. Beide Verluste spielen in Folge negativ ineinander. Emotionen haben für unser Verhalten ohnehin eine immense, ganz grundlegende Bedeutung, dies einmal vorweg. Wie gesagt, die Prozesse sind komplex. Eine Schlüsselrolle beim Verlust oder der gravierenden Abnahme der Fähigkeit zur Empathie spielen dabei allerdings die Spiegel-

neuronen. Den Begriff haben Sie schon mal gehört, nehme ich an.«

»Sicher. Eine Doktorarbeit darüber zu schreiben, würde allerdings schwer.« Natascha lächelte. Mit einer Handbewegung signalisierte sie dem Professor weiterzureden.

Der schmunzelte. »Keine Angst, ich werde nicht zu sehr in Fachchinesisch verfallen. Aber Sie sind schließlich zu mir gekommen, um Veränderungen, die man wahrnehmen kann, besser zu verstehen.« Er neigte seinen rundlichen Kopf und zog die buschigen Augenbrauen hoch, es wirkte wie eine Entschuldigung. »Nun, die Spiegelneuronen arbeiten im Gehirn wie ein biochemisches Resonanzsystem, es versetzt uns in die Lage, die Gefühle anderer nachempfinden zu können. Durch die Spiegelneuronen werden Gefühle unseres Gegenübers für uns selbst spürbar – natürlich nicht so intensiv, wie es der Betroffene selbst empfindet. Wobei es auch Menschen gibt, denen ihre Anteilnahme mehr zusetzt als dem Leidenden selbst, aber das ist ein anderes Thema. Zurück zur Spiegelung: Beobachten Sie jemanden, der schwer verletzt ist, dann leiden Sie irgendwie auch ein bisschen – habe ich Recht?«

»Sicher. Und man möchte auch sofort helfen. Ist doch normal.«

»Dann ist es um Sie gut bestellt, Frau da Silva.« Er lächelte. Dann aber wurde seine Miene ernster. »Leider gibt es das ja auch anders.«

Unwillkürlich schossen Natascha schockierende Schlagzeilen in den Kopf. Natürlich gab es das auch anders!

»Das eigentliche Programm – um den Begriff mal so zu verwenden, denn unser Gehirn ist eine Art Super-Computer – ist dies: Jemand lächelt Sie an, und Sie lächeln zurück. Wir gähnen selbst, wenn andere gähnen. Spricht aus dem Gesicht des Gegenübers purer Schmerz, grinsen wir nicht, nein, wir werden unwillkürlich selbst ernst, blicken sogar schmerzverzerrt drein. Wir spiegeln die Reaktionen unseres Gegenübers. Sind Sie selbst Mutter?«

»Ja, ich habe eine fünfjährige Tochter.« Natascha ahnte, worauf der Professor hinauswollte. Ja, das wäre wahrlich ein treffendes Beispiel.

»Schon wenige Tage nach der Geburt«, fuhr der Professor fort, »spiegelt Ihre Tochter bereits Ihre Gefühle, sie reagiert, verändert ihre eigene Mimik, lacht oder weint, zeigt Erstaunen oder Neugier, und das alles ohne Denkprozess. Es ist die biologisch vorhandene Fähigkeit des Menschen, mit seiner Umwelt in emotionale Resonanz zu treten. Aber: Die Aktivität der Spiegelneuronen entwickelt sich keinesfalls von allein und nur aufgrund genetischer Disposition. Wir Menschen brauchen vom ersten Tag an ein Gegenüber, um diese speziellen Gehirnzellen zum Blühen zu bringen. Neugeborene benötigen den Austausch mit anderen Menschen, sie benötigen Zuwendung, bestenfalls die Mutter, deren Emotionen sie wahrnehmen können. Erst dann werden die Zellverbände aktiviert und die Entwicklung der Spiegelneuronen und deren vollständige Vernetzung im Gehirn ausgelöst. Dieser Entwicklungsschritt ist im Alter von ungefähr drei oder vier Jahren abgeschlossen, was Sie daran erkennen, dass das Kind nun seine Eltern zu trösten versucht, wenn diese traurig sind – und das, obwohl es rein intellektuell natürlich noch gar nicht begreift, was da gerade abläuft. Sie haben das sicher selbst erlebt.«

 

»Das ist äußerst interessant, Herr Professor Stenzel. Ansatzweise ist mir das bekannt, nicht aber im Detail. Was genau führt dann aber zur Abstumpfung des Mitgefühls, was bei uns Menschen anscheinend zunehmend passiert, so empfinde ich persönlich es zumindest. Wie sehen Sie das? Ist meine Beobachtung, dass uns Menschen diese Fähigkeiten mehr und mehr verloren geht, zutreffend? Das ist nun sehr pauschal formuliert. Klar gibt es zahlreiche Abstufungen, auch ist sicher nicht jeder betroffen, nehme ich an. Aber sehen Sie – wissenschaftlich betrachtet – eine Zunahme dieses Phänomens?«

»Phänomen ist gut gesagt. Das ist es – und ist es nicht. Man kann klar die Tendenz erkennen, dass Gefühle- und Verhalten des Einzelnen und in Folge der gesamten Gesellschaft einer großen Umwälzung unterworfen sind – zumindest gewinnt man den Eindruck, wenn man gut beobachtet. Dazu braucht man kein Psychologe zu sein. Wenn man Gründe dafür sucht, kann man auch Antworten finden, dann ist es immerhin ein erklärbares Phänomen.«

Stenzel stand plötzlich auf. Er ging zum Fenster und blieb einen Moment nachdenklich davor stehen. Dann drehte er sich zu Natascha um. »Entscheidend für die Ausbildung der Spiegelneuronen-Aktivität sind die emotional prägenden Erfahrungen der frühen Kindheit. Nicht nur, aber sie fallen besonders ins Gewicht. Die durch die Spiegelneuronen ausgelöste emotionale Resonanz greift immer auf eigene Erfahrungen zurück, je prägender diese sind, desto stärker spielen sie eine Rolle. Wird die Entwicklung der Spiegelneuronen unterdrückt oder durch sehr häufige, sich ständig wiederholende negative Emotionen abgestumpft, dann kann die Fähigkeit zur Empathie gegen Null tendieren, irgendwann, das ist ein schleichender Prozess. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Das Gehirn Erwachsener ist diesen Einflüssen ebenso unterworfen. Nur, je jünger das Gehirn, desto stärker die Wirkung negativer Einflüsse. So einfach ist es natürlich nicht. Es gibt sehr wohl Einflüsse, die dem Gehirn eines Erwachsenen fast ebenso zusetzen. Grundsätzlich gilt aber: Kinder sind die Gesellschaft von morgen.«

»Verstehe. Klingt plausibel. Nicht wirklich neu. Ich nehme an, Sie wollen auf etwas ganz Bestimmtes heraus?« Natascha nippte an ihrem Espresso.

Stenzel nickte fast unmerklich. »Wenn wir vom Schmerz eines anderen erzählt bekommen, aber nicht direkt mitfühlen, dann handelt es sich um eine kognitive Perspektivenübernahme. Es kommt einem mitfühlenden Denken gleich. Im Fall der sogenannten affektiven Empathie handelt es sich dagegen um eine spürbare emotionale Resonanz. Wir fühlen dann aktiv mit. In unserem Gehirn werden dabei genau jene neuronalen Netzwerke aktiv, die auch den eigenen Gefühlen zugrunde liegen. Mit Hirnscans kann man körperliche Reaktionen der mitempfindenden Person nachweisen und ihre Empathie de facto messen.« Stenzels Ausflug zum Fenster war kurz. Er nahm wieder Platz. »Die Veranlagungen zu mehr oder weniger Empathie sind individuell ausgeprägt. Vor allem aber verändern sie sich im Laufe des Lebens sehr individuell. Die Aktivität der Spiegelneuronen nimmt entweder zu oder ab. Ganz nach dem Leitsatz Use it – or lose it. Die Frage, die mich als Forscher umtreibt, ist folgende: Was verursacht eine derart negative Entwicklung solcher Prozesse, dass wir von einem ›Phänomen‹ sprechen können?«

In seiner Frage lag eine Schärfe, die sie verwirrte. Als wäre sie in einer Diplom-Prüfung. Sie blickte den Professor erwartungsvoll an. Bisher hatte er ihr nicht wirklich Neues erzählt. Ein paar Details, ja, aber sie brauchte neue Ansätze, auf denen sie ihre Reportage weiter aufbauen konnte. Es mussten ja keine revolutionären Neuigkeiten sein. Aber zumindest Erkenntnisse, die Leser aufhorchen und weiterlesen lassen würden.

»Nun, Frau da Silva, da gehen unter uns Fachleuten die Meinungen natürlich auch auseinander. Und es gibt ja nicht nur den einen Grund, warum unsere Gesellschaft kühler würde. Der zunehmende Stress des Einzelnen, vor allem auch beruflich, der ständig steigende Erfolgsdruck, das immer schwieriger werdende Zeitmanagement. Streben nach mehr – nicht nur materiell, sondern auch im Sinne der Selbstverwirklichung, die uns Menschen immer wichtiger wird – was ja nicht per se schlecht ist, und viele Faktoren mehr. Belastung, Überarbeitung, ausgelaugt sein, ausgebrannt sein. Der Wegfall der Großfamilien, der sozialen Gemeinschaft, des Auffangnetzes nämlich, um die Fülle an Alltagsaufgaben besser zu bewältigen, was ja dem am Limit laufenden Einzelnen auch Entlastung bringen würde. Und dann die ständige Reiz- und Informationsüberflutung unserer heutigen Zeit – sowohl privat, als auch beruflich. Und vieles mehr! Die Frage ist doch, was wirkt heutzutage besonders stark auf die Gefühlswelt der Menschen? Was hat die Kraft, ja geradezu die Macht, derart auf unser Hirn einzuwirken, dass wir oberflächlicher, empathieloser, rücksichtsloser, ichsüchtiger oder kaltherziger werden? Abgesehen von unserer genetischen Veranlagung und den ohnehin allgemein angenommenen äußeren Einflüssen ist es relevant, ob wir geborgen oder verwahrlost, behütet oder alleingelassen, gut situiert oder in prekären Verhältnissen aufwachsen und uns später darin weiterbewegen oder nicht. Das alles spielt eine Rolle, war aber schon immer so. Was aber hat erst in den letzten Jahren derart an Bedeutung gewonnen? Was war zwar schon vorher da, aber nicht so?« Wieder dieser Blick, als erwarte er von ihr eine Antwort.

»Ich bin gespannt.« Natascha beugte sich auf ihrem Stuhl vor.

»Nun, das, was ich persönlich als einen der Hauptgründe sehe, ist auch nicht wirklich neu und wird schon lange diskutiert. Aber meiner Meinung nach schenkt man diesem Hauptgrund nicht die Aufmerksamkeit, die wir ihm als moderne Gesellschaft mit offensichtlichen Problemen zugestehen müssten.

»Und der wäre?« Natascha sah Stenzel neugierig an.

Hamburg

»Wir haben Anweisung, in dieser Staffel doch noch einige Parameter zu verändern. Nicht alle, keine Sorge. Kommt auf die Gruppe an. Wirf mal ‘nen Blick drauf!« Thomas Muhr streckte seinem Kollegen Sawaan die schwarze Mappe entgegen.

Keine fünfzehn Minuten war es her, dass er sie mit einem etwas mulmigen Gefühl vom CEO der Filmproduktionsfirma, für die er tätig war, erhalten hatte. So ganz wohl fühlte er sich nicht bei der Sache. Irgendwie entwickelten einige Serien-Figuren in den letzten Wochen eine ungewöhnlich starke Eigendynamik. Inzwischen diskutierten sogar manche Darsteller in den Pausen am Set über den ungewöhnlichen Verlauf des Drehbuchs, darüber, wie extrem sich einige Serienfiguren verändert hatten – und wie rasant. Das war den Schauspielern ein Rätsel.