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Frank sagte nichts. Was sollte er auch sagen? Zum einen hatte der Mann recht. Zum anderen schien er gut über Franks früheres Leben im Bilde zu sein. Obwohl der Medienhype um Franks einstige Forschungserfolge inzwischen abgeflaut war und er nicht mehr im Rampenlicht der medialen Berichterstattung stand.

»Die wissenschaftlichen Bereiche, die Sie angesprochen haben… Ich bin Unterwasserarchäologe, Wissenschaftler und Forscher auf völlig anderem Gebiet…« Frank drückte wieder den Knopf am Kaffeeautomaten.

»Wir suchen einen fachlichen Berater – für Taucheinsätze, die im Rahmen unserer Forschungen und Experimente hier vor Ort stattfinden. Einen Vollblut-Profi. Jemanden, der über höchstmögliche Erfahrung im Tauchen auch unter schwierigsten Bedingungen verfügt. Aber nicht nur das. Diese Person muss vor allem ein guter Beobachter sein, jemand, der komplexe Zusammenhänge erkennt, wo auf den ersten Blick keine sind. Jemand, der – wie soll ich sagen – von außen, neutral, aber doch mit Verstand beobachtet. Jemand mit dem Entdecker-Gen höchster Güte. Jemand wie Sie. Jemand, der ein untrügliches Gespür hat für das Unbekannte, das Mysteriöse und das Grenzwertige. Ich möchte – ich kann jetzt nicht ins Detail gehen.«

»Sie sprechen in Rätseln.« Frank runzelte die Stirn.

»Sie sind doch Fachmann für große, ja weltbewegende Rätsel, Dr. Stebe, oder nicht?« Grothe grinste breit. »Spaß beiseite.« Seine Miene wurde plötzlich ernst. »Heute möchte ich bei Ihnen nur vorfühlen. Vorfühlen, ob Sie sich überhaupt vorstellen könnten, während der Saisonpause, im Herbst und Winter, eine solche Berateraufgabe zu übernehmen. Ob Sie generell Lust auf eine neue, ganz besondere Aufgabe verspüren und noch immer der Forscher, der Wissenschaftler, der Entdecker, ja: der Pionier in Ihnen steckt, der Sie einst waren. Und ob Sie noch immer große Schätze entdecken wollen – auch wenn es, wie Sie sich denken können, bei unseren Forschungen nicht um materielle Schätze geht, die es zu heben gilt, sondern um Schätze im Sinn von Erkenntnissen, Entwicklungen, Veränderungen, Neuerungen, die Großes bewirken und die Menschheit vorwärtsbringen. Und ob Sie sich die Zeit dafür nehmen würden, Zeit dafür, Teil von etwas ganz Großem zu werden. Letztlich muss erst mal geklärt werden, ob Sie eine Abwechslung, eine Herausforderung dieser Art, etwas ganz und gar nicht Alltägliches überhaupt suchen.« Grothe schaute Frank herausfordernd an. »Es heißt, sie seien ein Suchender – immer schon gewesen. Sind Sie es noch? Ein Suchender? Bestrebt, Erkenntnisse zu erlangen, die sich vorher noch niemandem erschlossen haben, getrieben vom Forschergeist und dabei großen Rätseln und Entdeckungen auf der Spur. Nur ginge es nicht mehr um Altertumsforschung.«

Frank stellte seine inzwischen gefüllte Tasse auf den Tisch und nahm seinem Besucher gegenüber Platz. Er schaute Grothe einige Sekunden schweigend an. Dann nippte er an seinem Kaffee und lehnte sich im Bürosessel zurück. Er konnte sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sein Besucher mehr wusste, als man über ihn in den Medien herausfinden konnte. Die Frage war nur, warum hatte sich Grothe so gut über ihn informiert? Und vor allem, wie gut kannte er ihn? Die Situation war eigenartig. Da war etwas, das ihn aufhorchen ließ. Er war sich sicher, dass dieser Mann nicht einfach alle kompetenten Profi-Taucher der Region abklapperte und nun auf seiner Headhunting-Tour eben bei ihm gelandet war und ihn mit ein paar persönlich klingenden Phrasen auf seine Seite ziehen wollte, nein, dieser Mann war eigens nach Mallorca gekommen, um ihn aufzusuchen, das spürte Frank. Und er hatte sein Interesse geweckt, das musste sich Frank eingestehen.

»Das war früher. In einem anderen Leben sozusagen.«

»Einmal Forscher, immer Forscher. Oder nicht?«

»Warum ich?«

»Wie gesagt: Meinen Informationen nach entsprechen Sie dem Typus, den wir suchen, so perfekt wie sonst niemand. Keiner käme für den Job so gut in Frage wie Sie. Zumindest keiner, den wir ausfindig machen konnten – noch dazu auf Mallorca.«

Dem Typus, den wir suchen…

»Einen Job, den Sie mir noch immer nicht erläutert haben.«

»Das werde ich heute auch noch nicht. Ich möchte nur wissen, ob Sie Interesse an einer wissenschaftlichen Arbeit haben, es sich zumindest vorstellen und sich in den nächsten Monaten dafür die Zeit einplanen können und auch werden. Wenn ja, gehen wir ins Detail, später. Bevor ich Ihnen dann allerdings erkläre, um was es genau geht, müssten Sie eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.« Grothe trank einen kräftigen Schluck seines Kaffees.

»Vor meiner Entscheidung, ob ich überhaupt für Sie arbeite? Sie scherzen.« Aber es war nicht so, das konnte Frank aus Grothes Miene herauslesen. »Um was geht es? Ein militärisches Projekt mit höchster Sicherheitsstufe? Sind Sie vom Pentagon? Der NSA? « Frank lachte.

Grothe schmunzelte. »Sie müssen das verstehen. Ich muss erst wissen, ob Sie sich ganz grundsätzlich einen Job als fachlicher Berater vorstellen können. Wenn ja, gehen wir ins Detail, dann weihe ich Sie ein. Natürlich können Sie auch danach noch ablehnen. Aber wenn Sie erst mal wissen, um was es geht, werden Sie nicht ablehnen.« Grothe lächelte ihn verschwörerisch an. »Falls aber doch – rein hypothetisch – müssen Sie Stillschweigen bewahren. Auf Dauer. Das ist der Deal. Ich denke nicht, dass das ein Problem für Sie darstellt, Dr. Stebe. Sie sind doch ein Mann der Geheimnisse.« Er setzte bedeutungsvoll eine kurze Pause. »Ich meine natürlich, ein Mann, der es liebt, Geheimnissen auf die Spur zu kommen.«

Zeichen der Zeit

Fritz Schuster saß in seinem Sessel, seine Frau Erna auf dem Sofa. Schusters Rücken schmerzte. Als der junge Randalierer ihm brutal die Harke aus der Hand gerissen hatte, war er unglücklich auf den Steiß gefallen. Das linke Handgelenk war auch verstaucht. Er würde heute den Garten nicht in Ordnung bringen können, so viel stand fest. Nun saßen er und seine Frau bei einer Tasse Kaffee und lasen die Tageszeitung. Sie hatten sie sich aufgeteilt – beide hielten nur einen Teil in den Händen, später würden sie die Seiten untereinander austauschen.

Fritz Schuster war gerade in eine Pressemeldung auf der Titelseite vertieft, die ihn verwirrte. Am Tag zuvor war ein Büromitarbeiter, der seinen Job kündigen wollte, mit einer Waffe in den Konferenzraum des Unternehmens gestürmt. Nachdem er zunächst die dort anwesenden Kollegen und seinen Chef bedroht und beschimpft hatte, hatte er auf sie geschossen und dabei immer wieder »Jetzt zeig ich‘s euch!« gerufen. Es gab nur drei Überlebende, sie hatten es irgendwie geschafft zu entkommen und berichteten, der Amokläufer sei eiskalt vorgegangen und habe keinerlei Gefühlsregung gezeigt.

Fritz Schuster schüttelte fassungslos den Kopf. War nicht kürzlich etwas Ähnliches vorgefallen? Wo und wann war das gewesen? Es fiel ihm nicht ein.

Er blätterte weiter und begann gerade mit einer anderen Nachricht, als es an der Wohnungstür klingelte. Fritz Schuster ging zur Tür. Seit nunmehr dreißig Jahren wohnten sie dort, im dritten Stock des Mehrfamilienhauses. Von Frühjahr bis Herbst kamen sie eigentlich nur zum Schlafen her, und manchmal nicht einmal das, da sie mitunter auch in ihrem Schrebergarten schliefen. Nun konnten sich die Schusters das allerdings nicht mehr vorstellen – nicht nach dem, was sie erlebt hatten! Erna Schuster war noch immer verstört und kapselte sich ab. Wenn es klingelte, fuhr sie zusammen, als befürchte sie jedes Mal, dass die Jugendlichen vor der Tür stehen und sich dafür rächen würden, dass die Schusters den Vorfall im Schrebergarten der Polizei gemeldet und die drei Täter angezeigt hatten. Heute würden die Jugendlichen dem Richter vorgeführt werden, wie Fritz Schuster vor einer halben Stunde von der Polizei erfahren hatte.

Er schaute durch den Spion und staunte nicht schlecht. Gerade wollte er die Tür öffnen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass der Nachbarsjunge vor der Tür möglicherweise mit den Randalierern befreundet sein könnte… Schuster verwarf den Gedanken aber sogleich – es war einfach zu unwahrscheinlich. Die Familien der straffällig gewordenen drei Jungen, die seine Frau und ihn attackiert hatten, wohnten am anderen Ende der Stadt.

Vor der Tür stand der sechzehnjährige Ole Schilling, ein unhöflicher und nicht selten frecher Junge, dem alles egal zu sein schien. Entsprechend verhalten begrüßte Schuster den Jungen. Dieser hatte aber ausgesprochen freundlich »Guten Tag!« gesagt, was Schuster zusätzlich irritierte. Er konnte sich nicht erinnern, dass der Junge jemals gegrüßt hätte – es sei denn, eine Grimasse ziehen ging jetzt als Gruß durch.

»Ich habe gehört, was mit Ihnen – Ihrem Garten – passiert ist.« Der Junge druckste ein bisschen herum, als wüsste er selbst nicht recht, wie er anfangen sollte. »Ich möchte Ihnen meine Hilfe anbieten. Also dass ich Ihnen die nächsten Tage nach der Schule – und natürlich nach den Hausaufgaben – zur Hand gehe und Ihnen helfe, die Schäden zu reparieren. Und neue Gartenpolster mit Ihnen einkaufe, jetzt, wo Sie doch Ihr Auto verkauft haben. Ich könnte Ihnen tragen helfen. Oder die Sachen mit meinem Fahrradanhänger transportieren. Sicher fällt Ihnen alles, was ansteht, ein bisschen schwer, oder? Zumal Sie sich doch etwas verletzt haben.« Der Junge zeigte auf die Bandage, die sich Schuster selbst angelegt hatte.

Schuster wusste gar nicht, über was er zuerst staunen sollte, darüber, dass sich der Junge für sein verstauchtes Handgelenk interessierte, oder über die Tatsache, dass der Junge Hausaufgaben erledigte, oder darüber, dass er ihnen seine Hilfe anbot, den Garten wieder in Ordnung zu bringen… Schuster konnte sehen, dass der Junge sehr wohl seine Skepsis bemerkte, und als habe er gewusst, was Schuster gleich sagen wollte, fügte er hinzu: »Es ist mit meinen Eltern abgesprochen, ich darf das machen.«

 

Schuster zog die Augenbrauen hoch. Darf? Nicht soll?

»Es war übrigens meine Idee, nicht deren«, schob Ole hinterher, als könnte er Schusters Gedanken lesen. »Also, darf ich Ihnen helfen?«

Da stimmt doch was nicht. Schuster wusste nicht, wie er reagieren sollte. Der Junge blickte ihn an, ohne die Durchtriebenheit, die er sonst für gewöhnlich an den Tag legte. Und er lächelte. Er lächelte! Sogar ausgesprochen freundlich! Und es wirkte ehrlich. Schuster verstand die Welt nicht mehr und stotterte perplex: »Ja – warum nicht – gerne – vielen Dank.«

Unterwasser-Habitat, Mittelmeer, vor Mallorca

Joachim Seidel starrte auf die kleine weiße Pille in seiner Hand. Es war Zeit. Alle vier Stunden musste er die Dinger schlucken. Diese ständige Wiederholung unterstrich die Monotonie seines Probanden-Daseins in dieser Unterwasser-Forschungsstation. Auf was hatte er sich nur eingelassen? Vierzig Meter über ihm an Land genossen tausende Menschen den Sonnenschein auf Mallorca, und das Leben pulsierte. Hier unten fragte er sich, ob sein Puls überhaupt noch schlug. Vom Leben da draußen bekam er jedenfalls nichts mit. Dass es ihm so schwerfallen würde, zwei Wochen ohne Unterbrechung unter Wasser zu bleiben, hätte er nicht gedacht. Und was für einen bescheuerten Tagesablauf er über sich ergehen lassen musste, erst recht nicht.

»Bist du nicht neugierig, was das für ein Zeug ist?« Seidel warf Manfred Tatzer einen fragenden Blick zu. Der zuckte nur gelangweilt mit den Schultern. Tatzers Desinteresse ging Seidel auf den Keks. Der Typ war die personifizierte Lethargie. Egal bei was. »Ich wüsste zu gern, was zum Geier wir uns da überhaupt reinpfeifen«, setzte er nach.

Die Verantwortlichen dieser Feldversuche hatte er schon gefragt. Das traf es ja wohl: Feldversuche. Sonst wären er und die anderen ja keine Probanden. Und so wurden sie genannt: Probanden! Wiederholt hatte er gefragt, was genau sie einnehmen würden. Dass er keine Auskunft darüber erhalten würde, war ihm eigentlich klar gewesen, und dass er nicht wusste, was die Ärzte seinem Körper zuführten, war Bestandteil der wissenschaftlichen Versuche, an denen er hier teilnahm. Und sie taten es ja freiwillig. Im Dienst der Forschung? Eher im Dienst des Geldes! Die Bezahlung stimmte. Und in den Verträgen wurde ihnen versichert, dass sie physisch und psychisch keine Schäden davontragen würden und die Risiken überschaubar waren – wenngleich nicht gänzlich ausgeschlossen. So, wie es eben ist, wenn man als Proband bereit ist, sich Wissenschaft und Forschung zur Verfügung zu stellen. Vielleicht hätte er es bleiben lassen sollen…

Was genau die Wissenschaftler hier veranstalteten, wusste er auch nicht. Wenn er es wüsste, würde es die Ergebnisse beeinflussen, weil er nicht mehr neutral an den Versuchen teilnehmen könne, hieß es. Das leuchtete ihm sogar ein. Dennoch gefiel es ihm nicht. Er war es nicht gewohnt, die Kontrolle über sein Leben aus der Hand zu geben. Und das tat er seit ein paar Wochen. Er hätte wenigstens gerne gewusst, wofür. Doch keiner der Probanden war eingeweiht. Auch er nicht.

Einzig hatte er mitbekommen, dass er und die anderen in vier Versuchsgruppen unterteilt waren. Wobei das Wort Gruppen übertrieben war. Team traf es besser. Jedes Team bestand aus gerade mal zwei Personen; einer Frau und einem Mann, die allerdings zeitlich versetzt in der Unterwasser-Station tätig waren, sodass immer entweder vier Frauen oder vier Männer gleichzeitig unter Wasser beziehungsweise an Land waren.

Die Pillen, die sie nehmen mussten, sahen für alle gleich aus. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass es verschiedene Sorten gab. »Knöpfe«, so nannte er die Pillen wegen ihres Aussehens, denn sie waren groß wie ein Hemdknopf, hatten zwei kleine Vertiefungen auf der einen Seite, die aussahen wie Knopflöcher. Vielleicht lag er mit seiner Einschätzung auch falsch und es war immer dasselbe Mittel. Auch möglich, dass alle vier Gruppen Placebos bekamen. Oder die Pillen waren nur Ablenkungsmanöver für die Psyche. Immerhin standen sie hier unten, so eng zusammengepfercht, unter ungeheurem Druck – im übertragenen Sinne. Physisch standen sie tatsächlich unter hohem Druck – nämlich dem Umgebungsdruck. Hier unten, in der Tiefe des Meeres, in diesem unterseeischen Forschungslabor, diesem kleinen, utopisch aussehenden Objekt unter Wasser, war ihre Körpergewebe maximal mit Stickstoff gesättigt, den Tauchgängen und dem Aufenthalt unter Wasser geschuldet. Die Auftauchphasen, die nicht im Wasser, sondern in einer Druckkammer stattfanden, dauerten entsprechend lange. Die Vorfreude darauf war trotzdem groß, denn es bedeutete jedes Mal das Ende der zweiwöchigen Schicht unter Wasser und die willkommene Unterbrechung davon an Land.

Vielleicht ging es in Wirklichkeit aber nur darum, was sie hier unter Wasser taten. Um die Aufgaben, die sie von morgens bis abends zu erfüllen hatten, die Tests, die regelmäßig zu bearbeiten waren, die Fragen, die sie dabei zu beantworten hatten. Vielleicht ging es darum, welche Auswirkungen es auf Körper und Befinden hatte, dass sie wochenlang unter Druck verweilten und ihr Körper daher bis zum Anschlag mit Stickstoff gesättigt war. Oder waren es gar Tests in soziologischer Richtung? Untersuchungen, wie sich das gemeinsame Leben auf engstem Raum und unter ungewöhnlichen Bedingungen nach und nach veränderte und welche Auswirkungen es auf das Zusammenleben im Habitat, aber auch auf die Freizeit hatte?

Es hätte um alles gehen können. Immerhin standen nicht nur psychologische und neurologische Wissenschaftler und Forscher hinter dem Ganzen, sondern auch Ärzte aus dem Bereich der Humanmedizin und sogar Physiker. So viel hatten sie erfahren. Viel war das nicht.

»Eigentlich mutig, als Proband einfach alles so zu unterschreiben. Oder einfach auch nur total bescheuert! Wer weiß das schon?!«, Seidel gab einen seltsamen, grunzenden Laut von sich. »Was soll’s!« Mit einer ruckartigen Bewegung katapultierte er die Pille in seinen weit geöffneten Mund und schluckte den Knopf runter. »Bin ich froh, bald wieder oben zu sein. Du nicht?« Seidel blickte zu Tatzer rüber. Doch der war schon wieder geistesabwesend in sein Computerspiel vertieft und reagierte nicht. Seidel zog die Augenbrauen hoch und schüttelte missmutig den Kopf. Die beste Gesellschaft hatte er hier unten nicht. Aber bald hatte er wieder eine Phase Freizeit… freie Zeit… in ihrem Fall quasi die befreite Zeit, denn es fühlte sich langsam wie in einem Gefängnis an! Stinklangweilig hier unten! Nur das Tauchen war aufregend! Aber ansonsten – ätzend! Wahrscheinlich würde er hier bald einen Koller bekommen…

Vielleicht waren die Pillen auch gegen so etwas? Psychopharmaka? Hm. In Verbindung mit Tauchen? Schwer vorstellbar, dass Ärzte das durchgehen ließen. Mögliche Nebenwirkungen wären viel zu riskant, und die Tauchgänge waren anspruchsvoll.

An den Tagen an Land mussten sie die Medikamente weiternehmen, das war die strikte Anweisung. Nicht nur bezüglich der Pillen gab es Vorschriften, sondern auch bezüglich der Aktivitäten während des Aufenthalts an Land. Das Kuriose daran war, dass sie außerhalb des Unterwasserhabitats nicht nur machen durften, was sie wollten – sie sollten es sogar! Sie sollten darauf achten, ihre Bedürfnisse auszuleben, gut und gerne alle, welcher Art auch immer. Das sei wichtig, hatte es gleich zu Beginn des Projekts geheißen. Es sei von großer Relevanz, dass sie über die vier Monate ihrem inneren Drängen und ihren Gelüsten folgten und intensiv dem nachgingen, wozu sie Lust hatten. Sie sollten sich »treiben lassen«, »loslassen«.

Wie im Urlaub sollten sie sich fühlen, sich frei sehen von Verpflichtungen, frei von Konventionen, frei von Normen, möglichst auch von jenen, die sie sich sonst selbst auferlegten oder die ihnen in der Regel aus ihrem Umfeld auferlegt wurden. Klang genial. Ein Traum!

Wie das genau gemeint sei, hatte Seidel einen der Ärzte gefragt, offenbar ein Psychologe. Auch wenn es ungewöhnlich klinge, es gehe darum, dass er und alle anderen Probanden im Zeitraum der Versuche sie selbst seien, so sehr, wie nur irgendwie möglich, hatte er als Antwort bekommen. Das sei wichtig für die Betrachtung gewisser Daten und Werte, deren Verlauf man beobachte. Einzige Bedingung an Land: Ein detailliertes Protokoll des Tages erstellen, jeden Tag, eine Art Tagebuch führen, auch wenn sie es für blödsinnig hielten, es sei Teil der Forschung und wichtig. Und noch etwas hatte der Arzt hinzugefügt: Sie sollten sich während des Aufenthalts an Land möglichst nicht mit anderen Probanden treffen. Das würde die wissenschaftlichen Ergebnisse verfälschen.

Da brauchten sie keine Sorge haben, Seidel hatte nicht vor, auch noch seine Zeit an der Oberfläche mit diesen Döseln zu verbringen. Wobei damit offensichtlich nicht nur die Probanden-Kollegen aus seinem Habitat gemeint waren, sondern Probanden aus allen Laboren des Experiments. Man solle deswegen vor Ort bleiben und dürfe nicht herumreisen.

Als wenn Seidel jemandem über den Weg laufen könnte, der Versuchskaninchen war wie er, nur an einem anderen Ort. Während des Aufenthalts im Unterwasser-Habitat wiederum sollten die Probanden sich mit genau den Dingen beschäftigen und die Aufgaben erledigen, die man ihnen auftrug, ohne Ausnahme. Hier müsse der Alltag, so hieß es, anders als an Land in sehr eng gesetzten Grenzen ablaufen. Ebenso beim Tauchen, was sich ja aber sowieso von selbst verstehe. Und außerdem dürften keine Aufgaben innerhalb der vier Gruppen ausgetauscht werden, weder im Habitat, noch während des Tauchens. Das sei enorm wichtig, und die Einhaltung würde auch streng überwacht und kontrolliert. Bei einem Verstoß würde man mit sofortiger Wirkung vom Projekt entbunden werden – der Schlussbonus, ein Batzen Geld, den Seidel unbedingt benötigte, wäre dahin. Wenn seine Tauchschule nicht schon die dritte Saison in Folge miserabel gelaufen wäre, hätte er über den Winter nicht so einen Drecksjob annehmen müssen. Aber die Bezahlung war gut, sehr gut. Und die Sache war einfach, vielleicht zu einfach, wenn er genauer darüber nachdachte. Schon seltsam… Egal!

Seidel ließ erneut den Blick durchs Habitat schweifen, von einem Probanden zum anderen. Er wurde einfach nicht warm mit diesen Jungs. Komische Typen. Einer seltsamer als der andere. Aber was soll‘s!

»Heute und morgen noch, dann ist es hier unten erst mal wieder vorbei«, rief Seidel durch den Raum, der gerade mal etwa dreißig Quadratmeter groß war. Die anderen Räume im Habitat waren viel kleiner, von den Schlafkammern ganz zu schweigen, die waren praktisch übergroße Särge. »Eine Woche an Land, yeah!« Gute Laune zog auf, aber nur bei ihm, die anderen drei gaben sich emotionslos wie immer. Mit diesen Typen hier zu sein, war wie in einer Gruft zu verweilen. Was war nur los mit denen?! Legt Euch einfach in die Kojen – dann seid ihr schon gleich im Sarg, ihr Scheintoten! Genervt nahm Seidel seine Spielekonsole zur Hand und tat es seinen Kollegen gleich, die allesamt seit Stunden in ihre Game-World eingetaucht waren. Als wäre die Welt hier unten nicht schon monoton genug, hatte man ihnen auch noch jede Abwechslung verboten. Es war leider nicht erlaubt, sich als Pärchen für die Forschungstests anzumelden. Das hätte zumindest ein bisschen für Abwechslung gesorgt. Er lachte in sich hinein. Was blieb, waren diese bescheuerten Computerspiele, mit denen sie die Zeit totschlugen wie die Figuren am Bildschirm ihre virtuellen Gegner, um dadurch mit Siegesfanfaren ins nächste Level aufzurücken. Und die ganzen Trash-Filme, die er inzwischen bald auswendig kannte! Immer derselbe Mist. Die Auswahl an Filmen war klein. Abwechslung? Dafür musste er sich diese bescheuerte Streaming-TV-Serie reinziehen, von der hier alle Staffeln auf Festplatten vorhanden waren. Als hätte er jemals Serien geschaut! Er hatte ein unerklärliches Verlangen nach Büchern. Warum es hier keine gab, blieb ihm ein Rätsel.

Aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, nur noch auf Bildschirme, Monitore und Displays zu starren, große und kleine. Ja, die einzig sinnvolle Abwechslung hier unten wären Bücher! Lange her, dass er danach Verlangen empfunden hatte. Selbst konnte er sich nicht damit versorgen, denn sie durften von Land nichts mitbringen. Aus dem Wasser oder Habitat etwas mit hoch an Land nehmen durften sie auch nicht. Was ihn aber am meisten nervte, war die Tatsache, dass sie selbst dieses digitale Zeug zum Zeitvertreib in vier Gruppen aufteilten. Jeder der vier Probanden besaß sein eigenes Spiele- und TV-Equipment. Seidel war seines schon lange überdrüssig. Sobald sich ihm die Gelegenheit bot, würde er sich mal die Teile des Typs neben ihm ausleihen. Die mussten klasse sein, so wie der beim Spielen immer regelrecht in Trance verfiel. Warum eigentlich nicht gleich jetzt? Seidel zwängte sich aus dem Eck, in dem er gekauert hatte, und schlenderte auf seinen Mitbewohner zu. Er setzte sich neben ihn. »Lass mal sehen!« Er beugte sich zu ihm rüber.

 

Der andere Proband – sein Name war Kevin Maier – war so vertieft darin, irgendwelche imaginären Gegner zu eliminieren, gefangen in der Welt visueller und akustischer Effekte, dass er gar nicht bemerkte, dass Seidel nun neben ihm hockte. Er spickte auf Maiers Bildschirm und staunte nicht schlecht. Der Typ spielte dasselbe Game wie er! Nur war der Kerl bereits in ein höheres Level vorgedrungen.

Beim besten Willen kapierte Joachim Seidel nicht, warum es nicht wenigstens unter den Vieren ein unterschiedliches Angebot an Spielen gab, wenigstens diese Abwechslung! Ihn beschlich das dumpfe Gefühl, dass der Kerl in seinem engen Kabuff auch dieselben Filme zur Auswahl hatte wie er. Sie taten und schluckten alle dasselbe. Zumindest sah es danach aus. Ihm graute beim Gedanken, dass das für die nächsten zwei Monate sein Alltag bleiben sollte. Umso mehr musste er die Zeit auskosten, wenn er wieder an Land war. Missmutig schüttelte er den Kopf, erhob sich mühsam und schlenderte wieder ins Eck, aus dem er gekommen war.