Subliminal

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Irgendetwas, das sich auf dem Display abspielte, zog sie mächtig in den Bann. Anfeuernde Rufe, dann wieder Jubelschreie, hin und wieder unterbrochen von enthusiastischen Kommentaren zu dem, was sie auf ihrem Smartphone verfolgten. Dann wieder Sekunden, in denen die drei fasziniert, regelrecht verzückt, ja fast wie in Trance auf das Smartphone starrten. Gebannt, wie im Sog, um kurz danach wieder auszuflippen. Schuster beobachtete das jugendliche Treiben aus dem Augenwinkel. Mit einer beruhigenden Geste signalisierte er seiner Frau, einfach weiterzumachen und die Situation zu ignorieren. Die Ruhe, die er seiner Frau zu vermitteln versuchte, spürte er selbst allerdings nur bedingt: Er wusste, dass auf den an seinen Garten grenzenden Parzellen gerade niemand war.

Schuster nahm wieder seine Harke auf, um sich weiter dem Laub zu widmen. Er warf einen letzten kurzen Blick auf die Jugendlichen. Als hätte er es gespürt, hob einer von ihnen seinen Blick und schaute zum Schrebergarten der Schusters, exakt in Richtung des rüstigen Rentners.

»He, was glotzt du so blöd!« Der Junge ließ das Smartphone sinken und löste sich aus der Gruppe. Nun blickten auch die anderen beiden zu Schuster herüber. Der tat das, was er für das einzig Richtige hielt: er ignorierte den Pöbler und harkte das Laub.

»He, ich rede mit Dir, alter Mann!« Der Junge schritt auf den Zaun zu.

Schuster ahnte, dass der Junge gleich mit dem Fuß gegen den Zaun treten und diesen sicherlich beschädigen würde. Genau das hatte er kürzlich beim Gartennachbarn getan, der die Sache allerdings – nur um es sich nicht mit den Eltern des Jungen zu verscherzen – auf sich hatte beruhen lassen. Ein Fehler, wie Schuster fand, man konnte sich nicht alles bieten lassen. Nun aber hoffte Schuster, dass die Gruppe einfach weiterziehen würde, wenn er selbst ruhig und besonnen blieb.

Plötzlich sprang der junge Mann über das Gartentor, rannte auf Schuster zu, riss ihm die Gartenharke aus der Hand – mit einer Wucht, dass Schuster zu Boden stürzte. Dann stürmte er auf die Veranda zu. Erna erstarrte, das Tablett, das sie gerade in den Händen hielt, fiel scheppernd auf die Steinfliesen. Wie von Sinnen schlug der Teenager mit der Harke erst auf die Hollywood-Schaukel und dann auf die Gartensitzelemente ein. In seinem Zerstörungswahn ritzte er die Polster auf und warf dann die Langstiel-Harke mitten in die Fensterscheibe, die klirrend in tausend Scherben zerbarst. Dann machte er einen Satz auf Erna Schuster zu und schrie sie so plötzlich an, dass sie vor Schreck nach hinten auswich, dabei rückwärts über einen großen Terrakotta-Topf stolperte und zu Boden stürzte. Die anderen Jungen standen draußen auf dem Weg und grölten, als genössen sie seine Aktion noch mehr als das, was sie zuvor auf dem Smartphone gesehen hatten.

»Erna!«, schrie Fritz Schuster. Wut stieg in ihm auf. Er wünschte sich, noch einmal jung zu sein und sich den Kerl vornehmen zu können – entschloss sich aber, der Realität ins Auge zu blicken und lieber sofort zu seiner Frau zu eilen. Währenddessen schnappte sich der Junge eine gegen das Holzhaus gelehnte Schaufel und schlug damit auf alles ein, was ihm unterkam. Dann rammte er sie vor einer kleinen Buchsbaumreihe in die Erde und hob mit Wucht einen Teil der Büsche halb aus der Erde aus. Das alles geschah in einer Art Automatismus und in so rascher Abfolge, als wäre der Junge fremdgesteuert und nicht Herr seiner selbst. Außer Kontrolle im wahrsten Sinn des Wortes. Dann rannte er zurück zum Garteneingang, trat dort links und rechts neben dem hölzernen Gartentor mit dem Fuß in den Maschendrahtzaun, so fest, dass dieser ausbeulte. Zum Abschluss seiner Verwüstungstat trat er mit aller Kraft gegen das Holztürchen, das krachend aus den Angeln brach.

»Krass, Alter, so was von cool, ey! Fast so cool wie Bash – ey geil!«, rief einer der Jungs begeistert und deutete wie wild auf das Smartphone. »Du bist echt fast schon wie der!« Er grinste und hielt seine Hand hoch. »High Five, Mann!« Der Junge, der soeben einen Teil des Gartens zerstört hatte, schlug ein.

»Kommt, lasst uns verschwinden, es geht gleich weiter«, er zeigte auf das Smartphone, »nicht, dass wir den Rest verpassen.« Er drehte sich nicht einmal mehr zum Garten um und lief einfach davon, einer der beiden anderen direkt hinterher.

Der dritte Junge lief nicht sofort mit, sondern zögerte einen Augenblick. Sein Blick traf auf Schusters Blick. Der hatte gerade seiner Erna hochgeholfen, die glücklicherweise unverletzt war, und blickte nun, seine Frau stützend, zum Garteneingang. Trotz der Entfernung konnte Fritz Schuster etwas wie Erleichterung wahrnehmen, vielleicht auch Reue oder Unverständnis. Oder alles davon. Schuster konnte den Gesichtsausdruck nicht deuten, und es war auch nur ein flüchtiger Augenblick. Denn gleich darauf hob der Junge die Hand, zeigte den beiden Senioren seinen ausgestreckten Mittelfinger und schickte sich an, es den anderen beiden Jungen gleichzutun und zu verschwinden.

München

Wer nicht bereits depressiv war, lief Gefahr, es bei diesem Wetter zu werden, dachte Natascha, als sie und Lea aus dem Terminal des Flughafens ins Freie traten und die nasskalte Novemberluft sie umhüllte. Das Grau des nebligen Herbstwetters passte perfekt zu ihrer trüben Stimmung und der Beklemmung, die sie ergriff, wenn sie daran dachte, dass sie schon morgen dem deprimierenden Redaktionsalltag wiederbegegnen würde. Es war, als trete sie soeben von einer Welt in eine andere, und sie wünschte sich zurück. Eine Windböe pfiff mit solcher Wucht von hinten, als wollte sie Natascha vollends in die Realität hineinschubsen.

Eine Stunde später schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf, und der heimelige Geruch empfing sie. Ihr Zuhause zumindest verströmte Geborgenheit. Den Rest des Tages machten Lea und sie es sich gemütlich, gingen zwischendurch einkaufen und begannen, die ersten Wäscheladungen zu waschen. Der Postlagerauftrag würde erst morgen enden und die Post erst dann wieder zugestellt werden. So beschränkten sich die Neuigkeiten, die während ihrer Abwesenheit aufgelaufen waren, auf den AB. Viel war nicht drauf, denn sie hatte von Mallorca aus zweimal per Fernabfrage die Nachrichten abgehört, und ihre privaten Mails hatte sie im Urlaub ohnehin gelesen.

Am nächsten Morgen brachte sie Lea gleich um sieben Uhr dreißig in den Kindergarten und fuhr dann direkt in die Redaktion – und wünschte sich, sie hätte noch einen Urlaubstag als Puffer eingebaut.

Als sie die Redaktion betrat, hatte sie ein komisches Gefühl. Es war, als schwebe irgendetwas in der Luft. Waren es die Blicke und Begrüßungen der Kolleginnen und Kollegen, die anders waren als sonst? Redete sie es sich ein, oder suchten manche von ihnen unmerklich das Weite, bevor sie an ihnen vorbeilaufen konnte? War das gerade ein mitleidiger Blick gewesen? Galt der ihr? Warum grinste die Verena so höhnisch? Warum war der Bernd so kurz angebunden, er hatte doch sonst immer Lust auf ein Schwätzchen. Komisch. Es herrschte die übliche morgendliche Hektik in der Redaktion, das gewöhnliche Gewusel und Gemurmel, und dennoch… Ach, was soll’s, wahrscheinlich hatte der Chef wieder mal schlechte Laune, wie meistens. Wobei – hatte der nicht jetzt Urlaub? Sie meinte, sich zu erinnern, dass er vor ihrer Abreise etwas in der Art angedeutet hatte. Umso besser, das hellte das dunkle Grau des Tages mächtig auf!

Natascha goss sich einen Kaffee ein, wechselte ein paar flüchtige Worte im Vorbeigehen, wurde aber das Gefühl nicht los, dass irgendetwas im Argen lag. Der Chef war wirklich seit heute im Urlaub, das hatte sie in Erfahrung gebracht. Prima! Der Tag konnte somit eigentlich nur noch besser werden!

Sie startete ihren PC, und während der hochfuhr, durchstöberte sie ihr Fach. Es hatte sich eine Menge angesammelt. War ja klar. Nachdem der Computer hochgefahren war, checkte sie ihr elektronisches Postfach, überflog die Mails, löschte direkt jene, die sie für unwichtig hielt, und teilte die zu bearbeitenden in A-, B- und C-Aufgaben ein – außer, sie waren in einer Minute zu beantworten, dann nahm sie sich ihrer sofort an. So arbeitete sie sich wie immer von den älteren zu den neuen Mails durch, auch wenn gute Gründe dafür sprachen, es genau andersherum zu tun.

Minuten später ließ sie eine der Mails stocken. Sie war gerade mal zwei Tage alt. Dem Betreff nach zu urteilen, handelte es sich um ein Meeting, das man für den nächsten Tag, also gestern, anberaumt hatte, und es war offensichtlich um das Ressort gegangen, das ihrer Verantwortung unterlag. Was sollte das? Was konnte so dringend gewesen sein, dass man es nicht noch einen Tag hätte verschieben können, bis sie wieder da war?! Urplötzlich schob sich da etwas in ihr Hirn, sie konnte nur nicht deuten, was.

Schnell scrollte sie die Mails nach oben. Sie würde ja wohl zumindest im Nachgang eine Info erhalten, um was es bei der Sitzung gegangen war, in ihrem Postkorb war nämlich kein Protokoll gewesen. Aber da war auch nichts! Dann wird es so wichtig nicht gewesen sein… Hm… Egal.

Trotzdem, sie fühlte sich außen vor – wieder einmal. So erging es ihr in letzter Zeit ständig. Sie war ja nicht blöd! Es war offensichtlich, dass ihr Chef sie permanent wie Luft behandelte oder gleich nach besten Kräften mobbte. Er wollte sie loswerden, das war ihr schon länger klar. Einzig die Wertschätzung, die der Herausgeber ihr entgegenbrachte, gab ihr Rückhalt, der kannte ihre journalistischen Qualitäten, während ihr Chefredakteur sich von den erotischen Qualitäten dieser Schlampe Vivian buchstäblich um den Verstand bringen ließ. Dass Vivian scharf auf ihren Job war, wusste im Prinzip jeder. Und auch, dass der Chef scharf auf Vivian war. Und dass Vivian mit dem Chef seit einer Weile ins Bett hüpfte sowieso. Ein offenes Geheimnis. Interne Liebeleien, denen sie schlicht im Wege stand. Nicht, dass sie etwas dagegen hätte – obwohl… wenn es nur darum ging, sich in der Firmenhierarchie von unten nach oben zu bumsen, um auf diese Weise Karriere zu machen, dann konnte sie es nicht leiden! An meinem losen Mundwerk will ich zwar arbeiten – aber das heißt ja nicht, dass ich nicht Klartext denken darf!

 

Vor einer wie Vivian konnte sie einfach keinen Respekt haben. Sie habe sich hochgearbeitet, hieß es gemeinhin. Hochgearbeitet – na klar! Die Frage war nur, wie! Nach oben gebumst, das war auch noch untertrieben. Sie hatte im Erdgeschoss angefangen, damals noch als kleine Praktikantin, und kein Stockwerk und keine Chance ausgelassen. Nun saß sie in der obersten Etage von Blueball News. Hier saß der Chefredakteur, hier hatten die wichtigsten Ressorts ihren Platz und die besten Ressortleiter und wichtigsten Redakteure auch. Diese Anordnung war vor ein paar Jahren auf Balders Mist gewachsen und Spiegelbild seiner Arroganz. Natascha hatte sich hart nach oben gearbeitet, Vivian hingegen sich hart nach oben… Natascha!

Komm runter! Du redest sonst nicht so, und die Tussi ist es nicht wert! Vivian entsprach so sehr dem Klischee der Betriebsschlampe, dass Natascha es nicht glauben würde, wüsste sie es nicht besser. War sie in einem klischeehaften Hollywood-Streifen gefangen?! Selbst der miese Chef kam darin vor: Balder.

Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und nippte nachdenklich an ihrem Kaffee. Das eigentliche Problem war ein anderes. Balder hatte Natascha fortwährend angebaggert und war richtig penetrant gewesen. Doch er hatte immer darauf geachtet, dass es nicht offensichtlich war und sein Image sauber blieb. So richtig bei Balder verkackt hatte sie es nämlich erst, seit sie auch auf der Weihnachtsfeier letztes Jahr nicht auf seine Anmache angesprungen und – anders als Vivian kurze Zeit später – auch nach ein paar Gläschen zu viel nicht mit ihm in die Kiste gesprungen war. An dem Abend war das Ganze zum Höhepunkt gekommen – nur nicht zu dem, den er im Sinn hatte… Wie könnte sie auch! Der Kerl sah zwar gut aus, war finanziell gutgestellt, bestens vernetzt und einflussreich. Doch er war ein Widerling – zumindest nach Nataschas Geschmack. Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden. Seit diesem Event stand Natascha nun auf seiner Abschussliste.

Dieser geile Bock! Wenn es so weitergeht, kostet mich sein verletztes Ego noch meinen Job! Wie in Trance starrte sie auf den Monitor. Sie würde zu gern wissen, um was es bei dem Meeting gegangen war. Was war so wichtig gewesen, dass es nicht hatte warten können, und gleichzeitig so banal, dass man es nicht für nötig erachtet hatte, sie im Nachgang einzuweihen? Es ging schließlich um ihr Ressort!

Nataschas Smartphone riss sie aus ihren Gedanken. Gleichzeitig poppte ein kleiner Briefumschlag auf ihrem Monitor auf. Eine Mail. Absender war der Mann, der auf der Liste der Mistkerle in ihrem Leben auf Platz zwei rangierte, wenn auch mit meilenweitem Abstand zu ihrem Ex: Klaus Balder, ihr Chefredakteur.

Sie ahnte nichts Gutes. Derzeit stand sie in der Redaktion extrem unter Druck. Nachdem sie die Mail gelesen hatte, wünschte sie sich, sie hätte die drei Kamikaze-Taucher von ihrem letzten Tauchgang dazu gebracht, bei ihrer nächsten Mission Balder ins Visier zu nehmen… Nataschas offensichtlich bereits chronische Wut hatte ein neues Ziel: Balder. Sie las die Zeilen noch einmal und konnte nicht glauben, was er ihr geschrieben hatte:

Hallo Natascha,

in unserer gestrigen Sitzung sind wir zu dem Entschluss gekommen, »Die Augenöffner« einzustampfen. Wir wollen der zuletzt von Flops gebeutelten Rubrik allerdings noch eine letzte Chance geben. Liefern Sie uns einen Burner, etwas, das die Leser mitreißt! Ein Thema, das wir über mindestens vier Folgen ausschlachten und mit dem wir die Reichweite von Blueball News wieder dorthin katapultieren können, wo sie war, als Ihr Vorgänger noch verantwortlicher Redakteur war. Schaffen Sie das? Ich hoffe es! Ansonsten müssten wir uns zum Quartalsende ernsthaft über Ihre Zukunft unterhalten. Ich muss es leider so deutlich zum Ausdruck bringen. Lassen Sie es nicht so weit kommen! Ich zähle auf Sie, Sie packen das! Überlegen Sie sich was, packen Sie ein heißes Eisen an, etwas, das die Menschen bewegt und am Puls der Zeit ist. Und machen Sie etwas daraus, und das schnell! Nehmen Sie die Sache selbst in die Hand, überlassen Sie es nicht Ihrem Team. Back to the roots, Natascha! Zeigen Sie, dass Sie es noch immer können, besser als alle anderen. Zeigen Sie, dass Sie zu Recht das Ressort in den Händen haben. Lassen Sie sich von Ihren Redakteuren unterstützen, aber nehmen Sie das Projekt selbst in die Hand – somit gibt es hinterher auch keine Entschuldigung, kein Versagen der anderen, nur das Ihrige. Aber Sie werden nicht versagen.

Wenn doch, haben wir ein Problem, Natascha. Ein großes Problem. Das ist mein Ernst. Und Ihre Chance. Die hoffentlich nötige Motivation für Sie… Ich gebe Ihnen eine Woche, um sich auf ein Reportage-Thema festzulegen. Und weitere vier Wochen, um zu recherchieren und die Reportage zu schreiben. Vermasseln Sie es nicht! Und Natascha: konzentrieren Sie sich endlich wieder auf Ihren Job, dann wird auch etwas daraus…! Wir sehen uns nach meinem Urlaub. Bis dann…

Gruß Klaus Balder

Fassungslos starrte Natascha auf den Bildschirm. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Nach einem Augenblick voller Resignation fasste sie einen Entschluss. Die Augenöffner, das war ihre Rubrik, und sie würde sie sich nicht wegnehmen lassen! Sie würde Balder die Augen öffnen – und den Lesern gleich mit. Sie würde ihm die Stirn bieten! Und sie wusste, mit welchem Thema sie das tun würde: die Verrohung der Gesellschaft, das Thema, das sie regelrecht zu verfolgen schien. Vielleicht sollte es so sein?! Sie schnappte sich einen Notizblock und einen Stift und schrieb auf:

Mangelndes Einvernehmen unter den Menschen – Empathie- und Rücksichtslosigkeit – Übervorteilen, Ausboten, Ausstechen der Anderen – für das Erreichen eigener Ziele über Leichen gehen, und das oft auch real – Hartherzigkeit und Selbstsucht, wohin man blickt – Egoismus und Geiz sind up to date – Ich-Bezogenheit und fehlende Hilfsbereitschaft zeichnen die heutige Zeit aus – Ellenbogengesellschaft, das System der Wirtschaft – Gier – Macht – Geld – Wachstum.

Als wäre die offensichtliche Tendenz zur zunehmenden Rücksichtslosigkeit und Kaltherzigkeit des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft nicht schlimm genug, schien es, wohin man auch blickte, in der Bevölkerung eine wachsende Gewaltbereitschaft zu geben. Die Gesellschaft verrohte nicht nur immer mehr – sie erkrankte!

Und Natascha fiel auch direkt ein Name für die neue Brennpunkt-Reportage ein: Zeichen der Zeit. Diese Worte richteten sich auch an sie, wenngleich auf andere Weise. Ja, es war an der Zeit, ihr Leben neu anzupacken, privat, beruflich, vielleicht auch in der Liebe. Sich herauszuziehen aus diesem Sumpf von Frust und Selbstmitleid. Die alte Natascha, die selbstsichere, fröhliche und nicht ständig missmutige Natascha aus dem Schlamm, dem Morast zu ziehen, in dem sie vor langer Zeit versunken war. Die wahre Natascha! Vielleicht war all das heute ein Zeichen der Zeit, ein Signal für den Aufbruch, eine Reise, ein Neubeginn. Schade nur, dass jene Zeichen der Zeit, die ihre Gedankenkette angestoßen hatten, so gar nicht zu ihrer Aufbruchstimmung passten – ganz im Gegenteil.

Zeichen der Zeit

Erst Stunden später kam Gerd Postler ins Büro. Noch immer zitterte er am ganzen Leib. Der Schock saß tief. Die Bahnstrecke war noch immer gesperrt – und das würde die nächsten Stunden auch so bleiben. Die Vorstellung, dass die U-Bahn, in der er gesessen hatte, einen Menschen getötet hatte, ließ Postler einfach nicht los. Natürlich wusste er, dass niemand in der U-Bahn es hätte verhindern können. Und doch fühlte er sich in die dramatischen Ereignisse verwickelt, ganz anders, als wenn er nur aus der Zeitung davon erfahren hätte. War es ein Selbstmord gewesen? Oder war wieder jemand vor den Zug gestoßen worden? Er würde es morgen in der Zeitung lesen oder vielleicht sogar schon heute aus dem Radio oder Internet erfahren.

Das Schicksal des verstorbenen Menschen berührte und erschreckte ihn zugleich, er war verwirrt. Verwirrt durch das, was um ihn herum geschah. Da draußen spielte in letzter Zeit so vieles verrückt, war verrückt, ver–rückt im wahrsten Sinne, irgendetwas war dabei zu entgleisen. Ein unpassendes Bild nach dem, was heute auf den Gleisen passiert war, und doch beschrieb es genau sein Empfinden. Bildete er sich nur ein, dass irritierende, bedrohliche, schockierende Ereignisse zunahmen? Und warum fielen ihm plötzlich und so zahlreich eigenartige Dinge und Veränderungen an seinen Mitmenschen auf?

Er wollte und konnte sich damit aber jetzt nicht beschäftigen – in wenigen Minuten stand das Meeting an. Darauf musste er sich jetzt konzentrieren, der Tag war schon genug aus dem Ruder gelaufen.

In diesem Moment betrat Postlers Kollege Beck das Büro. Kein Wort zu dem Vorfall mit der Bahn, dabei hatte er inzwischen bestimmt schon davon gehört. Wie konnte er nur so empathielos sein? Oder sah Beck es einfach nur so nüchtern, wie er es besser auch sehen sollte: Du warst nur ein Fahrgast. Hast die Bahn nicht gefahren. Kanntest den Verunglückten nicht. Konntest ihn auch nicht retten. Und gestoßen hast du ihn erst recht nicht. Und falls es ein Selbstmord war, warst du nicht die Ursache seiner psychischen Probleme. Menschen sterben. Jeden Tag. Tausendfach. Überall. Was nimmst du dir diese Bahnfahrt so zu Herzen?

Nein! Es war normal, dass einen so etwas schockte. Was nicht normal war, war die Teilnahmslosigkeit dieses…

»Arschloch!«, entwich es Postler. Leise zwar, aber dennoch hörbar, für ihn zumindest. Es war einfach so rausgerutscht, ausgerechnet ihm!

»Was hast du gesagt?« Beck klang desinteressiert, keinesfalls wütend. Offensichtlich hatte er ihn nicht verstanden. Ein Glück. Postler überlegte einen Moment, ob er es wiederholen sollte, diesmal laut und deutlich, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Er konnte Beck nicht einschätzen, und es war auch möglich, dass der gar nicht wütend reagierte, sondern mit einem selbstgefälligen Spruch, etwas wie: Na, da macht sich ja mal einer endlich locker! Dann hätte seine ungezügelte Charakterskizze des Kollegen Beck ohnehin jede Wirkung verfehlt.

»Nichts. Ich komme mit den Zahlen hier nicht klar«, wich Postler aus, »und das Meeting ist gleich. Bist du vorbereitet? Steht dein Part?« Er schnappte sich sein Notebook und stand auf, um den Raum zu verlassen.

»Nö.« Beck setzte sich und begann, auf der Tastatur zu tippen.

»Wie, nö?!« Postler blieb abrupt stehen.

»Ich reiß mir hier keinen mehr ab, werde ohnehin kündigen…«

Postler sagte nichts. Er starrte Beck nur ungläubig an.

»Und meine Frau verlasse ich auch. Fang komplett neu an. Am besten irgendwo, wo ich schnell und einfach ein paar neue finde.«

»Ein paar neue was?« Postler blickte ihn verwirrt an. »Stellen?«

»Frauen!« Beck begann dreckig zu lachen. Dabei machte er ein paar obszöne Gesten – unmissverständlich, was er damit sagen wollte.

Der Kerl war echt durchgeknallt. Dieser Tag war es auch. Besserung war nicht in Sicht – jetzt durfte er im Meeting wieder allein den Kopf hinhalten. Typisch! Was war der Kerl eigentlich für ein Idiot geworden?!

»Arschloch!«, schrie Postler aus voller Inbrunst. »Du bist so ein Riesenarschloch!«, legte er nach. Es war befreiend. Reinigend. Und überfällig. »Dieses Mal werde ich dich nicht aus dem Schlamassel ziehen! Macht ja auch nichts – du willst ja eh kündigen. Vielleicht kommt dir der Chef ja entgegen und beschleunigt die Sache. Mal sehen, was ich tun kann!«

Wütend stapfte Postler aus dem Büro Richtung Konferenzraum.

Mallorca

Frank Stebe bearbeitete gerade einige Formulare, als es an seiner Bürotür klopfte – kräftig, gut hörbar, aber nicht aufdringlich. Frank blickte auf. Die Tür stand offen, wie immer. Nur wenn Frank ungestört arbeiten wollte, machte er eine Ausnahme und schloss sie.

In der Türschwelle stand ein auffallend gut gekleideter, untersetzter Mann mittleren Alters. Frank hatte keinen Besuch erwartet, und offensichtlich hatte auch niemand vom Basis-Team den Mann bis zum Büro begleitet. Vorne in der Tauchbasis hielten sich momentan Jennifer und drei Mitarbeiter auf, doch der Weg zu Franks Büro, das im hinteren Teil des Gebäudes lag, war auch über den Hintereingang frei zugänglich, letztlich für jeden, der wusste, wo Frank zu finden war. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ab und zu jemand unerwartet vor seinem Arbeitszimmer stand.

 

»Ja, bitte?« Frank schenkte dem Besucher ein offenes Lächeln und bat ihn mit einer Handbewegung hereinzukommen. Im selben Atemzug erhob er sich, um den Mann zu begrüßen.

»Herr Stebe? Doktor Frank Stebe?«

Die Frage klang nicht wirklich, als müsste der Mann sich erst noch vergewissern, ob er überhaupt im richtigen Büro gelandet war.

Hatte Frank soeben eine leichte Betonung auf Doktor herausgehört? Vermutlich hatte es sich einfach nur ungewohnt angehört. Aber warum sprach der Mann ihn überhaupt mit seinem Titel an? Sein akademischer Grad spielte hier auf Mallorca, auf seiner Tauchbasis und unter Tauchern, nie eine Rolle. Nur eine Handvoll Gäste, Kunden oder Geschäftspartner wusste überhaupt, dass er einen solchen besaß, und die, die um Franks früheres Berufsleben wussten, erwähnten den Titel nicht. Dazu kam, dass der dunkelhaarige Mann, der nun gemächlich in den Raum trat, nicht wie ein Taucher wirkte. Nicht wegen seiner Statur – auch unter Tauchern war Übergewicht nicht selten. Auch nicht aufgrund seines eleganten Erscheinungsbildes, wie er dastand, in seinem feinen Zwirn, einem offensichtlich hochwertigen Business-Anzug, mit Hemd im konservativen Stil und teuren Schuhen.

Nicht selten hatte Frank auch mit Geschäftsleuten zu tun und kannte ihr Outfit – schicke Anzüge, die nicht aus Neopren waren, wenngleich die meisten seiner Kontakte eher den sportlich-lässigen Look bevorzugten, so wie er selbst ja auch. Nein, dieser Mann wirkte einfach nicht wie ein Taucher und auch nicht, als wolle er nun im Rahmen eines Tauchkurses einer werden und wäre gekommen, um sich darüber zu informieren. Dieser Mann wollte etwas gänzlich anderes, das wusste Frank intuitiv. Die Frage war nur, was? Franks Neugier war geweckt.

»Ja, da sind Sie richtig.« Frank trat vor seinen Schreibtisch.

»Guten Tag, Dr. Stebe, bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so reinplatze, so ganz ohne Voranmeldung!« Der unangemeldete Besucher sprach freundlich und höflich und machte auch sonst einen sympathischen Eindruck. »Mein Name ist Seth Grothe, CEO von Sub Search. Dürfte ich Sie kurz in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen? Es dauert auch nicht lange.« Er reichte Frank eine Visitenkarte und lächelte ihn an.

Frank reichte Grothe die Hand. Dessen Händedruck war kräftig, aber nicht unangenehm, die Intensität war wohldosiert. Frank beäugte kurz Grothes Karte. Wieso kam jemand aus der Führungsebene selber? Wahrscheinlich war es ein sehr kleines Unternehmen… Sub Search? … »Setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?«

Grothe schien zu ahnen, dass Frank den Laden nicht kannte: »Sub Search ist ein europaweit tätiges wissenschaftliches Forschungsinstitut, Teil eines Verbunds diverser Institute, öffentlicher Einrichtungen und privatwirtschaftlicher Unternehmen, die sich aufgrund ihrer Forschungen und Aktivitäten auf denselben Gebieten und Geschäftsfeldern als eine Art Interessengemeinschaft zusammengeschlossen haben und dabei jeweils einzelne Teilgebiete abdecken. Sub Search fällt dabei eine führende Rolle zu, als einstiger Mitinitiator und Mitbegründer der Gruppe. Wie Sie meiner Visitenkarte entnehmen können, bin ich CEO bei Sub Search Underwater, einem sagen wir mal sehr kleinen, verhältnismäßig unbedeutenden Ableger von Sub Search. Nun, das ist natürlich relativ. Denn ich halte die Forschung, die ich leite, für alles andere als unwichtig im Gesamtgefüge der Thematik, um die es geht. Sie verstehen?« Er lächelte wieder. »Das Anliegen, mit dem ich Sie aufsuche, rechtfertigt es, dass ich persönlich vorbeikomme. Außerdem wollte ich schon immer mal nach Mallorca. Kaum zu glauben: So nah, und ich war noch nie hier!« Grothe schien Franks Gedanken zuvor gelesen zu haben. Er lächelte noch einen Tick mehr, zog sich den Stuhl zurecht und setzte sich – wie es aussah, gab es seinem ausschweifenden Vorstellungsplädoyer nichts mehr hinzuzufügen.

»Ihr Unternehmen sagt mir nichts, tut mir leid. Normalerweise kenne ich die Unternehmen und Institute, die sich mit Tauchen beschäftigen, mit dem Meer, der Welt unter Wasser, deren Flora und Fauna oder den darin versunkenen Objekten.« Frank warf erneut einen prüfenden Blick auf die Visitenkarte, als würde er auf den zweiten Blick den Aha-Effekt erhaschen können, der ihm beim ersten offensichtlich entgangen war. Das Design der Karte war exquisit.

»Nun ja, der Begriff Sub steht nicht zwingend dafür, wofür er in Ihrer Welt meist so steht, obwohl es bei uns auch einen Forschungszweig unter Wasser gibt – dazu komme ich gleich noch, es gibt ja einen Grund, warum ich hier bin.« Grothe setzte eine bedeutungsvolle Pause. »Vielmehr geht es bei uns um Themen, deren Erforschung noch nahezu jungfräuliches Gebiet oder zumindest wissenschaftliches Randgebiet darstellt. Es geht um die teilweise noch recht verborgenen, unbekannten, sozusagen unterhalb der bekannten Wirklichkeiten liegenden wissenschaftlichen Bereiche. Vor allem biologische, medizinische und physikalische Themen. Aber nicht nur. Es ist sehr komplex.« Wieder eine kurze Pause und ein vielsagender Blick. Dann: »Daher steht Sub in unserem Fall für etwas Mehrdeutigeres als nur schlicht für Sub wie in ›Submarine‹ oder dergleichen.« Er lachte. »Aber das würde jetzt wirklich zu weit führen. Wir kommen ohnehin darauf zurück, sollten Sie Interesse haben, Interesse an dem, was ich Ihnen zu unterbreiten, vorzuschlagen, ja: anzubieten habe.« Grothe öffnete die Knöpfe seines Einreihers, nahm eine bequeme Position ein und schaute Frank einen Augenblick lang abwartend an. Seine Erläuterungen wirkten etwas einstudiert, doch er sprach mit einer einnehmenden Stimme und wirkte überzeugend, wie ein Typ, bei dem man gerne seinen Rollrasen bestellte oder mit dem man lange Angeltouren unternahm.

Frank schwieg offensichtlich eine Sekunde zu lang, denn sein Gesprächspartner kam seiner unausgesprochenen Frage zuvor.

»Nun, Dr. Stebe, Sie fragen sich sicher, was das alles mit Ihnen zu tun hat, was ich von Ihnen möchte und um was es überhaupt geht.«

»Allerdings. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Wasser? Was kann ich Ihnen anbieten?« Frank stand direkt auf und setzte sich in Bewegung.

»Kaffee wäre prima, danke. Schwarz, bitte. Ohne Zucker.«

Frank griff nach zwei Tassen, stellt eine davon in Position und drückte den entsprechenden Knopf am Kaffeevollautomaten. Während die Maschine ratterte, drehte er sich zu Grothe. »Schießen Sie los. Was führt Sie zu mir?« Der Kaffee floss derweil zischend in die Tasse.

»Wir betreiben mehrere Unterwasser-Forschungsstationen, Unterwasser-Habitate, über ganz Europa verteilt. Seit Kurzem befindet sich auch hier, nahe des Unterwasser-Naturschutzparks vor der Insel Dragonera, ein Unterwasser-Habitat. Sie wissen davon, nehme ich an?«

»Natürlich. Seither können wir in einer großen Zone rund um Dragonera nicht mehr tauchen. Forschungsarbeiten, heißt es. Um was es da genau geht, erfährt man nicht. Vom ersten Tag an eine ziemliche Geheimniskrämerei.« Frank stellte Grothe die gefüllte Tasse hin. »Bitte.«

»Danke.« Grothe zog die Tasse ein paar Zentimeter zu sich. »Ja, notwendigerweise. Sie können das sicher gut verstehen. Ihre Projekte wurden einst ja auch nicht unnötig vor der Öffentlichkeit breitgetreten, oder nicht? Ist es nicht überall so, ganz egal, welche wissenschaftlichen Arbeiten laufen, bei allen Projekten, die enorm wichtig und sehr kostenintensiv sind, und ganz egal, in welchen Bereichen der Forschung?«