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Du bist so verkopft, nein: bescheuert! Warum denkst du von jedem Mann schlecht, bloß weil der eine dich enttäuscht hat?! Okay, eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft gäbe es wohl nicht. Aber welche Frau in ihrer Situation hätte überhaupt darüber nachgedacht? Totale Blockade! Verklemmte Kuh! Und überhaupt, welche Garantien verlangte sie denn? Chance vertan! Ein Mann, der sie durch seine herzliche und offene Art derart beeindruckte und der offensichtlich etwas übrighatte für Tugenden, ein Mann, der noch dazu blendend aussah – und Single! In ihrem Alter! Der Typ war so was von heiß – aber sie so was von blöd! Und wenn schon, musste sie ihn denn gleich anspringen, als würde sie das mit jedem machen? Würde zwischen ihnen nicht ganz natürlich etwas entstehen, wenn er wirklich das Herz am rechten Fleck und Interesse hätte? War das richtig gedacht? War das falsch gedacht? Keine Ahnung…

Natascha nippte an ihrem Kaffee und versuchte, den Frust zu verscheuchen. Ihr Blick fiel auf eine deutsche Zeitung, die jemand auf dem Tisch nebenan hatte liegen lassen. Hier auf Mallorca, dem siebzehnten Bundesland Deutschlands, schien sie für viele Pflichtlektüre zu sein – ständig lagen die Dinger irgendwo herum.

Warum nicht einen kurzen Blick reinwerfen und schauen, was die Kollegen bei der Konkurrenz so schrieben?! Konkurrenz… Wenn ihr Chefredakteur das hören würde, könnte sie zukünftig über Kochrezepte statt über Brennpunkthemen schreiben, denn er hielt seine online-Redaktion für überaus anspruchsvoll und rümpfte über Medien, die journalistisch anders arbeiteten, gerne die Nase – auch über jene, die sie sich vom Nachbarstisch schnappen wollte.

Natascha maßte sich kein Urteil an über die journalistischen Ansprüche anderer. Hatte sie nie getan. Das war ihr Grundsatz. Rede nicht schlecht über die Konkurrenz, sieh einfach nur zu, dass du deinen Job so machst, dass man gut über deine Arbeit spricht – was im Erfolgsfall vielleicht sogar bedeutet, dass die Konkurrenz schlecht über deine Arbeit redet, weil Erfolg nun einmal geneidet wird. Außerdem waren Geschmäcker verschieden. Das Ressort, das sie leitete, war sicher auch nicht jedermanns Sache. Außerdem konnte man von den Kollegen anderer Medien manchmal auch etwas lernen, es gab so viele gute Reporter.

Beim Gedanken an die redaktionelle Arroganz ihres Chefs griff sie mit besonderer Genugtuung nach dem Blatt. Doch das gute Gefühl währte nur kurz – ihr stockte der Atem.

Die Schlagzeile: Ein Tritt gegen das Herz… vielmehr ein Stich mitten hinein!

In einer Berliner Schule hatte ein vierzehnjähriger Schüler so lange auf einen Mitschüler eingeprügelt, bis dieser noch an Ort und Stelle verstarb. Natascha musste schlucken, als sie den Bericht las, seiner Grausamkeit wegen und auch weil es wie ein Déjà-vu war. In den Medien war immer wieder über ähnliche Fälle berichtet worden, und Natascha hatte sich gefragt, ob sich solche Fälle in letzter Zeit nicht häuften und an Brutalität zunahmen. Auch gestern war in der abendlichen Runde ein solches Beispiel aufgekommen, die Schlägerei in einer U-Bahn, brutal und der heutigen Meldung sehr ähnlich. Sie waren auf dieses schlimme Ereignis gekommen, als sie über die zunehmende Verrohung der Gesellschaft gesprochen hatten und beim Thema der zunehmenden Gewaltbereitschaft gelandet waren. Frank und Mike sagten beide etwas Ähnliches. Etwas wie: »Zu unserer Zeit, als wir noch Kinder oder Jugendliche waren, hat man sich auch geprügelt, das gehörte dazu, vor allem unter Jungs. Das ist halt so. Aber wenn einer am Boden lag, dann hat der andere aufgehört. Nie wäre es jemandem in den Sinn gekommen, hemmungslos und brutal auf einen am Boden Liegenden einzutreten, bis ihm der Schädel bricht. Wo sind wir hingekommen? Die Gewalt kennt heute oft keine Hemmschwelle mehr. Das hat nunmehr eine ganz andere Dimension. Natürlich nicht immer, aber immer öfter. Es ist besorgniserregend!«

Während sie darüber nachdachte und sich erneut in den Artikel der Zeitung vertiefte, bekam Natascha Gänsehaut. Komisch, dass sie ständig über solche Themen stolperte. Passierte so etwas inzwischen wirklich immer öfter, oder stieß sie nur öfter darauf?

Du ziehst diese Themen an wie ein Magnet, weil du selbst schlecht drauf bist, in allem nur noch das Negative siehst und von allem und jedem enttäuscht bist! Die Welt ist schon seit tausenden von Jahren so, es ist nichts Neues! Das gab es schon immer, du nimmst es jetzt nur verstärkt wahr! So und nicht anders ist es!

Hoffentlich schlitterte sie nicht in eine Depression! Natascha da Silva – reiß dich zusammen!

Zeichen der Zeit

Gerd Postlers Arbeitstag startete in der gewohnten und geliebten Routine. Seit dreißig Jahren im selben Job, in derselben Wohnung, mit derselben Frau – was heutzutage zunehmend aus der Mode war, so zumindest Postlers Einschätzung. Für ihn aber war es genau das Richtige. Für ihn zählten Werte wie Treue und Verlässlichkeit, daher hatte es mitunter fast schon neurotische Züge, mit welch beharrlicher Regelmäßigkeit er seinen Aufgaben nachging. Vielleicht aber – und diese Frage hatte er sich früher nie gestellt – scheute er auch nur, Neues auszuprobieren? Nicht, dass er vorhatte, es zu tun. Er war soweit glücklich und zufrieden mit seinem Leben. Und trotzdem – er konnte selbst nicht erklären, warum – hatte er sich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, ob ein wenig Würze sein Leben nicht aufpeppen würde? Eine Würze, die bisher eigentlich gar nicht gefehlt hatte…

Diese neuen Gedankengänge irritierten ihn selbst, sie waren so ungewohnt für ihn, einen Mann, der doch genau wusste, was er wollte und wie er tickte und dessen Leben in bewährten Ritualen ablief. War er ein Langeweiler? Nannte ihn sein Bürokollege Norman Beck vielleicht zu Recht »Pantoffelheld«? Er sollte nichts darauf geben, lieber sollte Beck auf sich selbst schauen, so komisch, wie der in den letzten Wochen drauf war. Wie ausgewechselt erschien ihm der Kollege – und das nicht nur einmal. Er verhielt sich seltsam.

Postler hatte keine Ahnung, was mit dem Mann los war, die letzten Jahre hatten sie eigentlich gut zusammengearbeitet. Bis vor Kurzem, aber nun war Beck wie ausgewechselt, als stecke plötzlich eine andere Person in seiner leiblichen Hülle. Und aggressiver war er auch, rastete manchmal regelrecht aus. Den anderen in der Firma schien es gar nicht aufzufallen – aber die arbeiteten ja auch nicht so eng mit Beck zusammen wie er. Inzwischen gab es ständig Reibungspunkte. Anstatt zu arbeiten, ergötzte Beck sich immer häufiger zwischendurch an irgendwelchen Sachen im Internet; ständig streamte er irgendwelche Videos und sogar ganze Filme, postete und chattete, anstatt sich auf ihr Projekt zu konzentrieren. Postler war es egal, ob Beck immer mehr zum Medien-Junkie verkümmerte oder nicht, aber wenn es um ihren beruflichen Erfolg ging, dann hatte er sehr wohl etwas dagegen. Sollte er die ganze Arbeit allein machen? Beim Chef anschwärzen wollte er Beck aber nicht, er hoffte stattdessen, dass es nur eine Phase war und Beck bald wieder konzentriert und zuverlässig seiner Arbeit nachgehen würde. Persönlich zur Rede hatte er Beck allerdings auch noch nicht gestellt. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich war er eben doch ein Weichei… Besser Weichei als Choleriker wie Beck …

Wie jeden Morgen stoppte Postler nun auf seinem Weg zur U-Bahn an Helgas Kiosk. Ein Start in den Tag ohne Tageszeitung war für ihn undenkbar, und auch der übliche Smalltalk mit Helga gehörte dazu. Verdutzt starrte er nun die fremde junge Dame hinter dem Verkaufstresen an. Helga war nicht da.

»Was darf‘s sein?«, fragte sie mürrisch. Die schlechte Laune stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Helga hat gestern gar nicht erwähnt, dass sie in Urlaub fährt«, stammelte Postler. Helga Lauditz, die Kioskbesitzerin, stand eigentlich immer im Laden, selbst mit hohem Fieber, was er stets kritisiert hatte; doch sie hatte immer nur abgewunken und das Thema gewechselt. »Sie ist doch nicht etwa krank?«, fragte Postler.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entfuhr es der jungen Dame barsch. »Ganz richtig in der Birne scheint sie nicht mehr zu sein, drückt mir den Schlüssel in die Hand und haut ab auf Weltreise. Einfach so, von einem Tag auf den anderen, unfassbar!«

»Weltreise?« Postler wusste, dass Helga Auslandsreisen mied wie der Hausstauballergiker einen alten Dachboden.

»Keine Ahnung, was in meine Mutter gefahren ist! Was soll ich mit der Bude hier jetzt machen?!« Die junge Dame hob hilflos die Arme. »Hätte ich heute nicht frei, wäre das Ding zu. Aber die Kosten laufen weiter, und das ist ein Problem! Drückt mir den Schlüssel in die Hand, steigt ins Taxi und haut ab – zack!«

»Ach, Sie sind –«

Postler wurde unwirsch unterbrochen. Ein Mann hinter ihm raunzte: »Also ich geh leider nicht auf Weltreise, sondern muss zur Arbeit, und das möglichst pünktlich. Könnten Sie beide wann anders weiterquatschen?! Hier warten noch andere Leute!«

»Sind in diesem Viertel alle so nett?« Die junge Dame hatte sich zu Postler vorgebeugt. Dabei entspannten sich ihre Züge für einen Augenblick, und sie lächelte Postler verschmitzt an. »Wenn ja, dann versteh ich meine Mutter.« Sie lehnte sich wieder zurück und fragte, nun für alle hörbar und in übertriebener Manier: »Sie wünschen?«

Nachdem Postler seine Zeitung im Aktenkoffer verstaut hatte, schritt er – noch immer leicht verdutzt über die überraschende Seite der Kioskbesitzerin, die sich ihm soeben offenbart hatte – weiter Richtung U-Bahn-Station.

Kurz darauf lief er beinahe an seiner Nachbarin vorbei, ohne sie zu beachten. Was hätte die von ihm gedacht? Dass auch er inzwischen zu einem unhöflichen Stoffel avanciert war? In dem Wohnblock, in dem sie beide wohnten, hatte sich das nachbarschaftliche Klima seit einiger Zeit verändert, kälter war es geworden, um nicht zu sagen: rau. Frau Störz, die Nachbarin, die ihm gerade entgegeneilte, bildete eine wohltuende Ausnahme, sie war noch immer die Alte, fürsorglich und interessiert.

 

»Guten Morgen Frau Störz. Sie haben‘s ja ganz schön eilig.« Postler schenkte ihr ein Lächeln, bekam aber irritierenderweise heute keines von ihr zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Eigentlich schon! Es kam alles nur etwas plötzlich. Jetzt kann ich schauen, wie ich heute und Morgen noch alles schaffe. Sie glauben nicht, was ich zu erledigen habe!«, antwortete sie abgehetzt, während sie, inzwischen auf gleicher Höhe, an ihm vorbeieilte, zu Postlers Verwunderung ohne anzuhalten. Dann wurde ihr offensichtlich klar, dass er überhaupt nicht verstand, wovon sie sprach, und stoppte abrupt. Sie ging drei Schritte zurück. »Guten Morgen«, schob sie jetzt hinterher, »entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich muss schnell noch zurück in die Wohnung. Ich habe etwas vergessen – und das, wo heute Morgen so viel ansteht!« Sie atmete kurz. »Meine Tochter hat mir gestern verkündet, dass meine Enkelin morgen für ein Jahr nach Afrika fliegt. Für eine humanitäre Hilfsorganisation, einfach so, wie aus dem Nichts. Ich finde das ja richtig toll, aber es kam nur so plötzlich, so überraschend eben, auch für meine Tochter! Sie wissen schon …« Nun lächelte sie kurz. Dann seufzte sie. »Ach, ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass sie mit den Monaten bis zu ihrem Studienbeginn noch etwas Sinnvolles anfangen würde. Zuletzt hat sie nur noch zu Hause rumgehangen, ging kaum mehr raus, war nur noch am PC. Ständig Chatten, Serien schauen, stundenlang, jeden Tag. Na ja, Sie wissen ja, wie das ist«, sagte sie wieder. »Heutzutage ist es ja wichtig, in diesen Dingen fit zu sein. Und wenn wir Senioren schon jeden Tag online sind – wer kann es dann der Jugend verdenken?!« Sie hielt Postler ihr Smartphone unter die Nase, das sie noch immer in der linken Hand hielt. Offensichtlich hatte sie es kurz vor ihrem Aufeinandertreffen noch benutzt. »Es war nur so, dass sie plötzlich immer mehr vor dem Bildschirm saß. Ich fand das nicht gut. Das wahre Leben findet doch hier draußen statt«, ruckartig schwang sie ihren rechten Arm vom Oberkörper nach vorne weg und hätte fast Postler erwischt. Sie war jetzt offensichtlich in der gewohnten Plauderlaune, von Eile nichts mehr zu spüren. »Da darf man ja auch mal was sagen, oder nicht?! War halt irgendwie eigenartig, sie hatte sich zunehmend abgekapselt. Da sorgt man sich schon, ob das Kind womöglich bald auf gar nichts mehr Lust hat, vielleicht nicht mal mehr auf das Studium. Und jetzt…« Frau Störz zog die Brauen hoch und machte große Augen, dann stieß sie hörbar die Luft aus und sagte kopfschüttelnd: »Und jetzt ist es das genaue Gegenteil, das andere Extrem kann man fast sagen. Sie stellt den Studienstart zurück, um ein ganzes Jahr in Afrika zu bleiben. Was sagt man dazu?«

Postler wusste nicht, ob er es gut oder schlecht finden sollte, und sagte lieber nichts.

War es nicht zu begrüßen, wenn gerade junge Menschen sich derart engagierten? Und was machte es schon aus in einem so jungen Leben, wenn man ein Jahr früher oder später studierte? Andere stiegen für ein Jahr aus und arbeiteten als Animateurin in einer Clubanlage oder machten Work & Travel. Frau Störz‘ Enkeltochter aber machte eben das – Hilfe leisten, wo die mehr als gebraucht wurde… Andererseits – dafür einen Studienplatz abgeben? Hm. Sicher könnte die junge Dame Menschen helfen, ohne das Land zu verlassen. Wenn es seine Tochter wäre, was würde er ihr raten?

Er selbst hatte keine Kinder, mit solchen Fragen musste er sich also nicht auseinandersetzen.

»Das sind allerdings Neuigkeiten«, sagte Postler. »Ich wünsche Ihrer Enkelin alles Gute! Ich muss jetzt leider los, tut mir leid.«

»Haben Sie das von der Kassiererin im Diskounter um die Ecke gehört?« Frau Störz berührte Postler am Arm, wie um ihn aufzuhalten.

»Was denn?« Postler warf einen Blick auf seine Uhr. Eine Minute hätte er noch. Er wollte nicht unhöflich erscheinen.

»Frau Werner, die Mollige mit den kurzen Haaren, die quasi zum Inventar gehört und seit der Öffnung vor zwanzig Jahren schon dort an der Kasse sitzt…« Sie senkte ihre Stimme.

Postler hatte keine Ahnung, wie lange Frau Werner schon dort gearbeitet hatte – so gut im Bilde über alles und jeden wie seine Nachbarin war er nicht.

»Sie haben es noch nicht gehört?!« Frau Störz sah Postler mit weit aufgerissenen Augen an. »Die hat man gestern festgenommen!«

»Festgenommen? Wie… meinen Sie von der Polizei?« Postler dachte, er hätte sich verhört oder es falsch verstanden.

»Da gab es doch diese Betrugsfälle kürzlich. Die Behörden tappten erst im Dunkeln – aber dann… na ja, es war die Werner mit zwei Komplizen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie mich veräppeln?« Was erzählte die Frau denn bloß?!

»Herr Postler! Meinen Sie, ich mache Scherze über so etwas?!«

»Nein… ich meine, wenn Sie das sagen… es ist nur, das ist ja einfach nicht zu glauben… Was hat die denn geritten? Ich kann das gar nicht glauben – die Story ist echt abstrus. Diese brave Frau…« Was war das nur für ein Morgen? Der erste April? Waren alle verrückt geworden. Wie kam es eigentlich, dass er von der Sache noch nichts wusste?

»Wann war das, sagten Sie? Ich habe das gar nicht gelesen – wo ich doch jeden Tag Zeitung lese.« Postler konnte sich an so eine Meldung nicht erinnern.

»Sie lesen ja auch keine lokale Zeitung!« Missbilligend zeigte sie auf seinen Aktenkoffer. Offensichtlich kannte sie seine Gewohnheiten. »Solche banalen Meldungen von kleineren Delikten in den Randbezirken stehen da natürlich nicht drin.« Es klang wie eine Rüge.

Als müsste er sich für die Auswahl seiner Morgenlektüre rechtfertigen, sagte er: »Ich muss aus beruflichen Gründen über den Tellerrand schauen.«

Sie winkte ab, mit einer Geste, die zu sagen schien: Wer interessiert sich noch für das, was mit dem Durchschnittsbürger passiert. Dann sagte sie: »Auf jeden Fall beängstigend. Man denkt, einen Menschen zu kennen, und dann das! Egal, wo man hinschaut, überall Irre. Nehmen Sie doch nur mal den Maier kürzlich – der hat doch tatsächlich –«

»Tut mir leid, Frau Störz, ich muss jetzt wirklich los, sonst verpasse ich meine U-Bahn.« Die Unterhaltung begann, unsachlich zu werden, aber das war nicht Postlers Art. Vom Einzelfall gleich in Verallgemeinerung abzudriften, mochte er nicht. Frau Störz war eine nette Dame, aber sie tratschte manchmal einfach zu gerne. »Ich habe Sie auch schon lange genug aufgehalten. Sie haben doch noch so viel zu tun, Ihre Enkelin und so…«

»Ja! Das stimmt! Wir reden ein anderes Mal weiter.« Es war ihr anzusehen, dass sie sich bei der Verbreitung des Buschfunks ertappt fühlte. Die Sache mit der Kassiererin aber war den Tratsch wert. Unerklärlich!

Postler verabschiedete sich rasch von seiner Nachbarin und schritt nun etwas zügiger als zuvor Richtung U-Bahn-Station.

Heute war Donnerstag, und wie jeden Donnerstag fing er statt um acht erst um zehn Uhr an, genau wie auch jeden zweiten Dienstag. Die gewohnte Routine, ein beständiger Pfeiler im Wirrwarr des immer turbulenteren Alltags. Und eine Möglichkeit, die Wochen im Voraus exakt zu planen. So hatte er es am liebsten.

Er ergatterte einen der wenigen freien Sitzplätze, holte die Zeitung aus seinem Koffer und schlug sie auf. Die U-Bahn-Fahrt dauerte exakt dreiunddreißig Minuten – genug Zeit, um die üblichen Rubriken in der Zeitung zu überfliegen. Meist kam er beim Lesen exakt bis zum Sportteil, das unterstrich seine morgendliche Routine. Den Rest würde er in der Mittagspause querlesen, wie immer. Dafür gönnte er sich dreißig Minuten, dann blieben ihm fünfzehn Minuten fürs Essen, Fleischkäse mit Bratkartoffeln würde heute seine Wahl in der Kantine sein, wie jeden Donnerstag.

Nach wenigen Sekunden schon blieb er an einer Zeitungsmeldung hängen. An ein und demselben Tag waren gleich in mehreren Städten Menschen von völlig Fremden vor den einfahrenden Zug gestoßen worden. »Geschubst« hieß es. Aber war das nicht ein viel zu niedliches Wort für so eine unfassbare Tat? Diese Grausamkeit schien sich auszubreiten wie ein Virus, und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie oft eine solche Tat dann nachgeahmt wurde. Hatte er nicht neulich etwas über diesen »Schneeballeffekt« gelesen? Die Vorfälle hatten offensichtlich nichts miteinander zu tun, aber sie ähnelten sich und folgten zeitlich nah aufeinander. Jetzt noch von Einzelfällen zu sprechen, wäre irreführend.

In dem Artikel kam auch ein Sicherheitsexperte der Regierung zu Wort. Man müsse intensiv über strengere Gesetze zur Überwachung diskutieren, um Ereignissen wie diesen zuvorzukommen, sagte er. Um Ereignissen zuvorzukommen? In U- und S-Bahn-Stationen waren doch ohnehin bereits ausreichend Kameras angebracht. Offensichtlich schreckten die niemanden ab. Wie sollten denn noch mehr Kameras diese Dinge verhindern? Sie erleichterten doch lediglich das Ergreifen der Täter. Viel mehr Arbeit müsste in die Prävention solcher Gewalt gesteckt werden, das wäre sinnvoll! Die Frage war doch: Was lief schief, dass es dazu kam? Was trieb die Täter dazu? Diesen Fragen müsste man stärker nachgehen! Kameras gehörten trotzdem dorthin.

Was war das nur für eine Zeit? Was war los mit den Menschen?

Postler blätterte weiter und blieb an einem erfreulicheren Artikel hängen. Zwischendurch schaute er aus dem Fenster. Gerade fuhren sie aus dem Tunnel. Ein Blick auf die Uhr. Auf die Minute! Es ging doch nichts über Pünktlichkeit… Die U-Bahn war zuverlässiger als der morgendliche Straßenverkehr. Gleich fuhren sie über einen Bahnübergang. Danach noch einundzwanzig Minuten bis an sein Ziel. Zeit für den morgendlichen Müsli-Riegel. Die Sorte, die er seit Jahren jeden Morgen verspeiste. Akkurat faltete Postler die Zeitung zusammen und öffnete den Aktenkoffer. Da steckte der Riegel, an Ort und Stelle. In appetitlicher Vorfreude griff er danach.

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, ein ohrenbetäubendes Schleifen war zu hören. Postler katapultierte es nach vorne, direkt auf sein Gegenüber, der Koffer flog herunter und der Inhalt auf den Boden, Passagiere schrien, verloren ihr Gleichgewicht, gerieten ins Schwanken, einige fielen zu Boden, andere wurden auf ihren Sitzen durchgerüttelt.

Der Bahnfahrer musste eine Notbremsung eingelegt haben – die einzige Erklärung, die Postler einfiel. Gänsehaut überkam ihn – er ahnte, warum der Zug stoppte.

Zeichen der Zeit

Fritz Schuster harkte das bunte Herbstlaub zusammen. Ihm und seiner Frau Erna fiel es zunehmend schwer, sich um ihren Schrebergarten zu kümmern. Für Senioren ihres Jahrgangs waren sie beide zwar ausgesprochen fit – fünfundachtzig und noch immer imstande, den Alltag allein zu bewältigen, das war nicht allen vergönnt. Und doch – die Jahrzehnte waren auch an ihnen nicht spurlos vorbeigezogen, und Arbeiten wie diese waren inzwischen erheblich mühsamer. Ihre erwachsenen Kinder lebten weit entfernt, und es war klar, dass sie ihren eigenen Weg gingen, wo auch immer dieser sie hinführte, ob der Liebe wegen oder aus beruflichen Gründen. Dort hinziehen, wo eines ihrer Kinder lebte, wollten sie aber nicht, zu sehr hingen sie an ihrer Heimat und an ihrem geliebten Garten. Schusters Freunde und Bekannte waren entweder auch nicht mehr die Jüngsten oder bereits verstorben. Niemand bot Hilfe an, und um Helfer zu bezahlen, reichte ihre Rente nicht.

Den Schrebergarten aufgeben, das kam aber nicht in Frage. Letztlich tat ihnen die Bewegung an der frischen Luft auch gut. Der Hauptgrund aber war, dass ihr Herzblut an diesem Kleinod am Stadtrand hing. Jahrzehntelang hatten sie nahezu jede freie Minute hier verbracht und den Garten mit viel Sorgfalt und Liebe gestaltet. Daher hielten sie weiter daran fest.

Fritz Schuster hielt kurz mit dem Harken inne und schenkte seiner Erna ein liebevolles Lächeln. Die balancierte vorsichtig das Tablett, auf dem duftender Kaffee und ihr legendärer Käsekuchen standen, aus dem gemütlichen Gartenbungalow in Richtung Verandatisch.

In diesem Augenblick unterbrach lautes Gegröle die idyllische Ruhe in der Schrebergartenanlage. Schuster entging die sorgenvolle Miene nicht, die sich schlagartig im Gesicht seiner Frau breitmachte.

In den letzten Wochen hatten die Pöbeleien überhandgenommen. Nicht dass die Schusters kein Herz für jugendliche Energieabladungen gehabt hätten – sie waren schließlich selbst mal jung gewesen. Das war ihre Devise im Umgang mit jungen Menschen, die hin und wieder über die Stränge schlugen. Aber aus Gegröle der Jungs – allesamt Kinder von Schrebergartenbesitzern – war mittlerweile öfters ein schwerer Konflikt entstanden, der nicht mehr mit pubertärem Hormonchaos zu erklären, geschweige denn zu entschuldigen war.

 

In einigen Schrebergärten hatte es bereits Vorfälle gegeben, die man nicht mehr »unerheblich« nennen konnte. Um des lieben Friedens willen hatte man es unter den Tisch gekehrt. Oder das Finanzielle diskret mit den Eltern der Kinder geregelt. Inzwischen war das Ausmaß der Beschädigungen und Ruhestörung allerdings signifikant angestiegen – so weitergehen konnte es auf Dauer nicht. Zur Anzeige hatte die Vorfälle bisher dennoch niemand gebracht, keiner wollte den Jugendlichen ihre Zukunft verbauen, nicht zuletzt weil man einige von ihnen bereits von klein auf kannte. Doch den Tätern fehlte bisher jede Einsicht, und Besserung war nicht in Sicht.

Schuster machte sich Sorgen um diese jungen Menschen. Irgendetwas lag im Argen. Sie verhielten sich seltsam, immer aggressiver und unberechenbarer. Schlimm genug, dass sie regelmäßig so viel tranken. Das allein reichte ihm als Erklärung aber nicht aus, da musste mehr dahinterstecken. Hoffentlich waren keine harten Drogen im Spiel! Was war nur los mit diesen Jungs? Ein falscher Blick, ein falsches Wort oder schlicht die Tatsache, dass jemand zur falschen Zeit in ihrem Blickfeld erschien, konnte genügen, und sie drehten durch.

Manche Kleingärtner spielten es herunter und sagten, diese Teenager wären schlicht unerzogen. Doch Schuster teilte diese Ansicht nicht. Das griff einfach zu kurz. Den Eltern war die Erziehung und das Wohl ihrer Kinder auch nicht egal gewesen – im Gegenteil! Offensichtlich aber hatten sie nicht den gewünschten Erfolg erzielt.

Die Frage war also, was mit diesen jungen Leuten wirklich los war! Für Schuster unmöglich zu beantworten. Diese Kinder trugen eine Aggression in sich, die nichts mehr mit den Pöbelattacken der Halbstarken früherer Zeiten zu tun hatte. Derart hemmungsloses Verhalten kannte Schuster so nicht. Und wenn er die Zeitungsberichte verfolgte, so schienen immer häufiger bereits Kinder im Alter von zehn bis vierzehn Jahren aufzufallen, sie wurden immer früher und immer öfter aggressiv und handgreiflich, sogar Älteren gegenüber, wenn die in der Unterzahl und somit trotz ihres Alters unterlegen waren. Immer häufiger las Schuster von solchen Gewaltattacken, gehäuft auch gegen junge Frauen. Triebtäter im Kindesalter – wo hatte es früher so etwas gegeben? Schuster konnte sich nicht erinnern. Bei all diesen Meldungen gewann er dann hin und wieder doch den Eindruck, dass sich die Dimension jugendlicher Aggressivität verändert hatte, es war extremer als früher und ging in jüngerem Alter los. Hemmungsloser, brutaler.

Aber vielleicht bewertete er das heute einfach strenger. Es konnte doch sein, dass es früher nicht anders gewesen war. Vielleicht war damals nur sein Blickwinkel ein anderer gewesen. Und schließlich gab es ja in der heutigen Zeit auch das genaue Gegenteil, so jedenfalls argumentierte er für gewöhnlich, wenn man die »Jugend von heute« pauschal in die Sorgenschublade steckte. Dann wies er gerne darauf hin, dass sich immer mehr Jugendliche sozial engagierten, humanitär, ehrenamtlich und sogar auch politisch, dass sie im Umweltschutz aktiv waren oder ein freiwilliges soziales Jahr leisteten, dass sie höflich waren, freundlich, fleißig, zielstrebig und ihr Leben schon früh in die richtigen Bahnen lenkten.

Eine wahre Generation von Weltverbesserern war da herangewachsen, das fiel Schuster in letzter Zeit mehr denn je auf. Viele junge Leute setzten sich auf dieser Welt für das Gute ein und kämpften gegen negative Strömungen. Manche schwammen auch mal kraftvoll gegen den Strom, wenn es sein musste und ethisch richtig war. Andere aber riss der Fluss dieser seltsamen Gewalt mit sich und trieb sie Richtung Abgrund – es blieb dann zu hoffen, dass sie einen Rettungsring zu fassen bekamen, bevor es zu spät war.

Es gab einfach solche und solche, wie bei den Erwachsenen eben auch. Wie es eben immer schon gewesen war. Allerdings gewann Schuster zunehmend den Eindruck, dass sich etwas in diesem Heute veränderte. Vielleicht täuschte er sich auch, reagierte mit hypersensibler Wahrnehmung auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Und doch: es kristallisierten sich, so schien es ihm, Extreme heraus, alles schien ausgeprägter als noch vor ein paar Jahren, egal in welcher Hinsicht. Extrem gutes Verhalten war ja zu begrüßen – wer konnte sich schon zu gut verhalten? Liebevolles, menschliches, gerechtes und soziales Verhalten konnte man doch nie genug an den Tag legen, je mehr davon, desto besser. Oder nicht? Extrem negatives Verhalten allerdings war zweifelsohne ein Problem.

Schuster hatte genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass oft gerade die rebellischen Jugendlichen besonders sensibel waren und man ihr Verhalten mehr hinterfragen musste, anstatt es vorschnell zu verurteilen. Diese angebliche Null-Bock-Generation versuchte letztlich nur, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Vieles war Fassade, hinter die zu blicken sich lohnte und den Zugang zu diesen jungen Menschen ermöglichte. Die Kunst war es, eine Brücke zu bauen zwischen Jung und Alt, zwischen den Generationen und unterschiedlichen Lebensmodellen.

Vor Kurzem hatte Schusters Sohn gesagt, dass die »Jugend von heute« mitunter sogar vernünftiger sei als es ihre Eltern im selben Alter gewesen waren. Sein Jüngster hatte kürzlich zu seinem achtzehnten Geburtstag eine große Party veranstaltet, um die fünfzig Jugendliche waren gekommen, und Schusters Sohn, der die Feier mit Argusaugen beobachtet hatte, war positiv überrascht gewesen, wie konsequent das Kein-Alkohol-bei-denen-die-fahren gehandhabt wurde. Er hatte festgestellt, dass es zu seiner Zeit oft weit weniger vernünftig hergegangen sei. Nein, es war nicht so, dass die heutige Jugend chaotischer war als je zuvor. In mancher Hinsicht hatten sie die Dinge sogar besser unter Kontrolle als früher ihre Eltern – oder wenigstens nicht schlechter.

Keinesfalls stand es um die Jugend so schlecht, wie oftmals behauptet wurde, so Schusters feste Meinung. Aber nicht alle in seinem Alter sahen das so, schon gar nicht in dieser Kleingärtneranlage, und erst recht nicht, nachdem sich in den letzten Monaten das in vielen Köpfen vorhandene Klischee bezüglich der »Jugend von heute« zu bestätigen schien.

Schuster hatte für sein Alter eigentlich einen guten Draht zu jungen Menschen. Ohnehin war er ein sehr moderner Rentner, nutzte den PC, besaß ein Smartphone und surfte bei Bedarf durchs Internet. Auch bezüglich der Rentner gab es Klischees, eben nicht nur, wenn es um die Jugend ging. Und dennoch, trotz allem: Diese Jungs hier verbreiteten Angst und Schrecken, und beides stand seiner Erna nun ins Gesicht geschrieben, sie war aschfahl. So konnte es nicht weitergehen!

Die Jungs kamen immer näher, alle drei hielten ihre Smartphones in der Hand. Der Junge in der Mitte – Schuster schätzte ihn auf sechzehn oder siebzehn – hielt seines so, dass alle drei auf das Display schauen konnten. Was auch immer sie sich da gemeinsam anschauten, es schien, als heizte es ihre Stimmung so richtig an. Das Gegröle wurde immer lauter. Gehässiges Lachen, das aus ihren höhnisch verzerrten Mündern drang, wechselte sich ab mit begeistertem Geschrei in dem für viele junge Leute üblichen Sprachjargon, an dem sich Schuster allerdings noch nie gestört hatte. Die Jugend hatte nun mal ihre eigene Sprache, auch wenn diese nicht die seine war.