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Ja, sicher, Nadine gegenüber hatte sie sich die letzten Jahre rargemacht – aber sie hatte es ihr auch immer wieder erklärt. Es war ihr einfach nicht möglich, auf dieselbe Weise wie früher soziale Kontakte zu pflegen. Aber sie war sich sicher, dass sie nicht weniger zugewandt war als früher. Das einzige war, dass freundschaftliche Begegnungen mit anderen Menschen – ihrem fordernden Alltag geschuldet – immer seltener stattfanden. Mit Kind, mit Job, ohne Partner, ohne Eltern, die sie hätten entlasten können, und mit begrenzten Kindergartenöffnungszeiten.

Sicher, sie hätte damals den anderen Kindergarten ein bisschen weiter entfernt wählen können – dort waren die Betreuungszeiten ausgedehnter. Aber sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihrer Tochter verbringen. Sicher, sie hätte öfter die Initiative ergreifen und zu Freunden fahren können, aber aus ganz verschiedenen Gründen war das immer schwieriger geworden. Die Überlastung, die unterschiedlichsten Wendungen in ihrem und im Leben ihrer Freunde, das immer magerer werdende Interesse aneinander bei gleichzeitig immer größer werdender Distanz…

Natascha hatte Lea spät bekommen – na und?! Plötzlich war sie aus dem Raster gefallen – einem Raster, dass die anderen um sie herum definiert hatten – und war mehr und mehr außen vor. Wer aber hatte ihr denn mal angeboten, Lea zu nehmen, sodass sie mal wieder mit anderen etwas hätte unternehmen können? Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie zugesagt hätte, vielleicht war sie dazu viel zu sehr Helikopter-Mama und konnte schlecht loslassen… War das ihr Problem? Konnte sein. Aber wer hatte es ihr denn zumindest mal angeboten? Niemand! Wo war da denn Hilfsbereitschaft? Fürsorge? Das Miteinander? Unterstützung? Gemeinschaft? Freundschaft?! Zu wenig gemeinsame Zeit? Wenn das die Chemie war, die nicht mehr passte, dann war das traurig.

Okay, sie hatten sich teils in andere Richtungen entwickelt. Das ja. Sie hatte wirklich andere Meinungen als Nadine, sah sie doch auch durch ihren Job als Journalistin die Brennpunkte der Gesellschaft, die Krisenherde, notleidende und vom Schicksal gebeutelte Menschen und Missstände in Politik und Gesellschaft. Und sie machte sich viele Gedanken über das, was sie sah, versuchte dem auf den Grund zu gehen. Das war ja sogar ihr Job! Hatte sie es aber verdient, deswegen so abgekanzelt und abserviert zu werden? Gab es deswegen wirklich keine Basis mehr?

Was war nur los mit Nadine? Als hätte sie zu viele Entrümpel-dein-Leben-Ratgeber gelesen und die darin enthaltenen, manchmal sogar ganz hilfreichen Botschaften gehörig missverstanden. Als wäre sie irgendeiner Gehirnwäsche unterzogen worden oder in irgendeine Sekte hineingeraten. Natürlich war sie das nicht, aber was veranlasste Nadine dazu, so auf den Gefühlen eines anderen herumzutrampeln – auf Nataschas Gefühlen?

Am selben Tag hatte sie versucht, Nadine anzurufen, und auch an den Tagen danach. Wieder und immer wieder. Ihr gesimst, gemailt, gewhatsappt. Aber Nadine hatte sie seither wie Luft behandelt. Natascha wollte sich mit ihr treffen, sich aussprechen. Keine Chance. Immer noch glaubte sie daran, dass Nadine doch eigentlich eine ihrer engsten Freundinnen war. Nach zwei Wochen hatte sie es dann auf sich beruhen lassen, erst einmal. Dann, vor ein paar Tagen und mit ein bisschen Abstand, hatte sie sich zaghaft noch einmal gemeldet. Auch darauf keine Antwort. Keine Reaktion.

Bis heute. Hier am Tisch auf der Veranda der Tauchbasis war nun endlich ein Lebenszeichen von Nadine gekommen. Natascha öffnete die Mail und las.

Hallo Natascha, sorry, aber ich bin nicht bereit, mich mit dir zu treffen. Nicht, weil ich etwas gegen dich hätte. Einfach weil ich in den vergangenen Jahren gemerkt habe, dass dein Interesse an unserer Freundschaft nachgelassen hat und du dich mehr und mehr von mir zurückgezogen hast und meinen Meinungen widersprichst. Irgendwann wollte ich mich damit so nicht mehr zufriedengeben. Anfangs dachte ich noch, ich hätte etwas falsch gemacht, wusste aber nicht, was. Aber nach und nach wurde mir klar, dass du einfach dein Leben leben willst. Die Zeiten, dass ich mir selbst die Schuld gebe, sind vorbei. Mir ist klargeworden, dass es einfach nicht mehr passt. Ich wünsche Dir für die Zukunft alles Gute! Nadine

Liebevoller Rückzug!

»Ich fass es nicht! Was hat die nur geritten?!« Energisch schob Natascha das Smartphone auf die andere Seite des Tisches außer Reichweite, als könnte sie damit diese unverständliche Situation von sich schieben und die Ereignisse unwichtig machen. Zum zweiten Mal am heutigen Tag fragte sich Natascha, was zum Geier eigentlich mit den Leuten um sie herum los war…

Um zehn vor acht am Abend traf Natascha im Restaurant ein. Mit Lea an der Hand betrat sie den Außenbereich und steuerte geradewegs auf den großen für den Taucher-

abend reservierten Tisch zu. Das Basis-Team war fast vollzählig, und auch erste Basis-Gäste hatten sich zum Taucherstammtisch eingefunden. Die Anwesenden unterhielten sich angeregt und nahmen zuerst gar keine Notiz von Natascha und Lea. Jennifer aber, die in Blickrichtung zum Eingang saß und sie sofort sah, strahlte vor Freude, dann erhob sie sich rasch und eilte auf sie zu. Nach kurzer Umarmung – so herzlich, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen – trat Jennifer einen Schritt zurück und grinste Natascha an.

»Wow! Natascha da Silva, du siehst einfach umwerfend aus, um nicht zu sagen scharf.« Jennifer setzte den übertrieben feurig-scharfen Blick eines Vamps auf und formte mit ihren Lippen eine leicht laszive Geste.

Natascha musste lachen, sie konnte nicht anders. Jennifer stimmte mit ein. Unbefangenes Rumblödeln, lange war es her…

»Du, lass mal…« Natascha lächelte unsicher und stupste Jennifer am Oberarm. Ihr war die Situation irgendwie auch unangenehm. Erst vorhin ihre Tochter, die sie, als sie sich im Hotelzimmerspiegel einem abschließenden Kontrollblick unterworfen hatte, mit ihren kaffeebraunen Kulleraugen angestarrt und dann, nach Sekunden der Stille, mit ihren gerade mal fünf Jahren gesagt hatte: »Mami, du siehst aber toll aus!« Das war so goldig gewesen und Natascha gerührt, aber es war ihr auch etwas peinlich, und wenn nicht peinlich, dann zumindest fremd. Dazu verstärkte sich das schlechte Gewissen, das schon bei der Entscheidung, am Abend auszugehen, von ihr Besitz ergriffen hatte. Normalerweise brachte sie Lea abends um acht ins Bett. Jetzt ging sie mit ihr gerade erst aus. Aber blieben die Kinder im Süden nicht alle länger auf?! Und im Urlaub, da war das doch normal! Und es gefiel den Kindern und gefiel den Eltern! Außerdem hatten Jennifer und Frank auch kein Problem, ihren dreijährigen Sohn Eric abends hin und wieder mal länger aufbleiben zu lassen. Wahrscheinlich dachte sie einfach nicht südländisch genug, trotz ihrer portugiesischen Wurzeln. Also verwies sie den imaginär erhobenen Zeigefinger in seine Schranken. Aber dass Lea ihr Outfit kommentiert hatte, hatte schon ein komisches Gefühl hinterlassen. Es war schön, aber zugleich irritierend. Und nun Jennifer.

Warum musste ich mich auch unbedingt so in Schale werfen?!

»Da kriecht wohl langsam jemand aus seinem Schneckenhaus, was?« Nur Jennifers Blick neckte noch ein wenig weiter, aber es war ein liebevolles Necken.

»Darf ich nicht mal was anderes als meinen Neoprenanzug tragen?« Jetzt war es Natascha, die verschmitzt grinste. »Hat nicht das Geringste mit Mike zu tun.« Sie schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. Stilvoll und nicht billig, sexy aber nicht verrucht, das war schon früher ihr Garderobenmotto beim Ausgehen gewesen, Mike hin oder her. Sicher war er nicht ganz unschuldig daran, dass sie sich nach langer Zeit der Abstinenz vom Sich-in-Schale-werfen endlich mal wieder so richtig schick gemacht hatte. Und sie nahm sich nun heraus, einen Moment lang selbst zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Warum auch nicht? Es tat ihr gut. Ihr halblanges Sommerkleid wartete mit schlichter Eleganz und einem Schnitt auf, der ihre schlanken, aber dennoch femininen Kurven zur Geltung brachte und nicht zu viel und nicht zu wenig preisgab. Die hochhackigen Sandaletten verschafften ihren langen, braungebrannten Beinen zusätzlich Kontur und passten farblich perfekt zu dem azurblauen Kleid. So zumindest hatte sie im Hotel ihr Spiegelbild wahrgenommen, in einem vor Selbstvertrauen strotzenden Moment, und war überrascht gewesen, wie gut es sich anfühlte. Sie war dezent, nicht aufgedonnert, aber doch einen Hauch stärker als gewöhnlich geschminkt. Und um die Sache abzurunden, hatte sie sich heute entschieden, ihre vollen braunen Locken nicht wie sonst mit einem Haargummi zum Pferdeschwanz zu binden. Die dunkle Haarpracht fiel locker über ihre Schultern, nur ein paar widerspenstige lockige Strähnen hatte sie mit Festiger gezügelt – was, wie sie schon auf dem Weg zum Restaurant festgestellt hatte, nicht gut klappte. Sich nicht für ihren Pferdeschwanz-Look entschieden zu haben, den sie fast immer trug, war vielleicht doch falsch gewesen. Sie mochte es nicht, sich ständig Haarsträhnen aus dem Gesicht schieben zu müssen, außerdem konnte es von einem männlichen Gegenüber falsch gedeutet werden – zumindest, wenn man dem Artikel zum Thema Flirten glaubte, den ihre Kollegin Vivian kürzlich veröffentlicht hatte. Gut, dass sie selbst bei der ehrgeizigen und niemals schlafenden online Nachrichten-Plattform Blueball News über wichtigere Themen als so etwas schrieb! Ob es tatsächlich einladend wirken würde? Bestimmt totaler Schwachsinn! Wobei… Wenn da etwas dran war, käme ihr das heute vielleicht ganz gelegen… Sie musste unwillkürlich schmunzeln. Fünf Jahre allein – eine extrem lange Zeit, sie war aus der Übung in diesen Dingen. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, oder vielleicht einfach nicht den Mut für eine neue Partnerschaft. Viel einfacher war es gewesen, sich einzuigeln…

Wusste sie eigentlich selbst, was sie wollte? Ob sie überhaupt wieder irgendeinen Mann in ihr Leben lassen wollte? Sie hatte schon genug Probleme… Und wenn ja, dann einen wie Mike? Ein Mann, der ein ganz anderes Leben führte als sie selbst? Wahrscheinlich machte gerade das ihn so unwiderstehlich. Aussteigerleben hin oder her, er schien ein warmherziger, ehrlicher und gutmütiger Mensch zu sein. Der Ansicht war auch Jennifer, und die kannte sich aus mit Menschen.

 

»Schalt einfach mal deinen Kopf für eine Weile aus und komm!« Jennifer schien just in diesem Moment genau dort hineingespickt zu haben: in ihren Kopf. Und sie hatte recht – wie so oft. Total verkopft! Sie musste lockerer werden und die Dinge laufen lassen. Und sie brauchte unbedingt ihr einstiges Selbstvertrauen zurück, und zwar dringend!

Nichtsdestotrotz – hätte Natascha gewusst, dass nur gut die Hälfte der Taucherstammtischler schick erscheinen und die anderen lässig-leger in ihren Taucher-Shirts und Shorts dasitzen würden, sie hätte sich nicht so aufgedonnert. Aber die Mischung der Gäste war immer bunt, und jeder war willkommen, wie er eben kam, schick oder leger gekleidet – ganz egal. Das jedenfalls hatte Jennifer ihr gesagt, und Natascha hatte sich darauf verlassen. Und heute hatte sie Lust auf schick, und vielleicht auch Lust auf mehr, sie würde sehen. Nur nichts überstürzen. Oder doch?

Jennifer bot ihr einen freien Platz an. Und der schien nicht zufällig gewählt – lag er doch in verdächtiger Nähe zu Mike …

Der Abend verlief erwartungsgemäß gesellig, fröhlich, unbeschwert. Während und nach dem opulenten Essen wurde geplaudert, was das Zeug hielt, und je später es wurde, desto wohler fühlte sich Natascha. Die Zahl der Gäste nahm stetig ab, doch je weniger Leute am Tisch saßen, desto persönlicher und tiefgründiger wurden die Gespräche. Ganz nach Nataschas Gusto, oberflächliches Geplänkel war nicht ihr Ding. Smalltalk ja, aber früher oder später sollte man sich auch angeregt austauschen können. So war es jetzt und hier, perfekt! Die kleine illustre Runde war am großen Tisch enger zusammengerückt und bestand mittlerweile nur noch aus ihr, Jennifer, Frank und Ralf – Franks rechter Hand in der Tauchbasis –, Mike sowie Marina, einer jungen Tauchbasismitarbeiterin. Nun rutschte man von einem Thema zum nächsten, während die Kinder unbeschwert um sie her spielten. Doch die Zeit drängte – allzu spät wollte Natascha Lea nicht ins Bett bringen, und Jennifer und Frank sahen das für ihren Eric genauso. Jennifer schlug vor, die gesellige Runde bei ihnen zu Hause noch fortzuführen, die beiden Kinder in Erics Zimmer schlafenzulegen und Nataschas letzten Abend vor dem Heimflug noch auszukosten, so lange es ging.

Gesagt, getan. Eine Stunde später saßen die sechs Erwachsenen bei Kerzenlicht und leiser Chill-out-Musik im Hintergrund auf Stebes Terrasse. Pinienduft schwebte in der sommerlichen Luft, eine leichte Brise wehte. Offensichtlich rieben unzählige Grillen ihre Beinchen aneinander, um mit dem Balzgeräusch die Weibchen zu beeindrucken, und sorgten gleichzeitig dafür, dass sich Menschen, die um diese Zeit draußen verweilten, der Natur noch verbundener fühlten und noch besser zur Ruhe kamen, als es in dieser Idylle ohnehin geschah. Zumindest ging es Natascha so. Ab und zu huschte ein Gecko im Lichtkegel der Lampen die terrakottafarbenen Wände des Hauses entlang. Die Welt war in diesem Moment in Ordnung – sogar für Natascha. So friedlich wie der tiefe Schlaf, in den die beiden Kinder inzwischen gefallen waren.

»Warum bist du eigentlich weg aus Deutschland?« Das wollte Natascha Mike schon die ganze Zeit fragen, und nun traute sie sich endlich. »So mitten im Leben, meine ich. Seit fünf Jahren bist du als Tauchlehrer unterwegs, hast du mal gesagt. Aber es muss ja ein Leben davor gegeben haben, oder nicht? Jemand in Marinas Alter, so direkt vor oder kurz nach dem Studium, der mal ein paar Monate aussteigt – okay. Aber du? Gab es eine Initialzündung, irgendetwas Einschneidendes? Man gibt nicht einfach so alles auf, was man sich aufgebaut hat, oder nicht? Du warst da – wie alt? Knapp vierzig?«

Alle Blicke richteten sich auf Mike. Der schmunzelte auf eine Art, die zu sagen schien: Die Frage musste ja kommen. Aber sie schien ihm keinesfalls zu persönlich oder lästig, im Gegenteil, offensichtlich bezog er gerne Stellung dazu.

Obwohl er schmunzelte, blickte er sie ernst an. »Da kam eins zum anderen. Es ist ja meist so, dass es nicht den einen Auslöser gibt. Aber wenn ich mich auf etwas festlegen müsste, das ich den Hauptauslöser nennen kann, dann wäre es der Job. Wenn ich weitergemacht hätte, dann hätte der mich krankgemacht.« Mike nippte nachdenklich an seinem Wein. Fast im Zeitlupentempo setzte er das Glas wieder ab.

»Warum hast du nicht einfach die Stelle gewechselt?«, fragte Marina.

»Weil das, was mich zunehmend gestört hat, ein grundsätzliches Problem ist – zumindest in meiner Branche. Klar, ich hätte komplett umsatteln können. Aber dann kam da noch die Sache mit meiner Frau dazu – sie hatte Knall auf Fall ihre Koffer gepackt und war abgehauen – und der Tod meiner Eltern, die innerhalb eines Jahres beide gestorben waren. Kinder hatten meine Frau und ich nicht. Was also hätte mich noch halten können, wo ich mich doch immer fremder fühlte?« Nachdenklich rieb er sich seine markante Kinnpartie. Dann lehnte er sich zurück.

Dieser Blick! Ob an Natascha vorbei oder ob durch sie hindurch oder geradewegs in sie hinein – sie wusste es nicht. Nur, dass er sie berührte und etwas in ihr auslöste, das spürte sie. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie.

»Es war damals einfach Zeit für einen Neuanfang, wie ein Weckruf, all den negativen Veränderungen den Rücken zu kehren.«

Die Offenheit, mit der Mike über die Sache mit seiner Frau sprach, überraschte Natascha, doch sie überging das Thema. »Was meinst du mit ›grundsätzliches Problem‹? Was genau war es, das dich so unzufrieden machte?« Natascha da Silva! Schalt deinen Journalisten-Modus aus!

»Unzufrieden passt eigentlich nicht, das wäre zu harmlos. An Unzufriedenheit kann man arbeiten, etwas ändern. Eher habe ich mir Sorgen gemacht. Ja, Sorgen. Die zunehmende Kaltherzigkeit, ja Verrohung unserer Gesellschaft – und dass es die gibt, ist ja offensichtlich, ich denke, das sehen wir alle in den vergangenen Jahren – die habe ich nirgends so sehr gespürt wie damals in meinem Job. Damit meine ich nicht die zunehmende Belastung durch das ständig wachsende Arbeitspensum oder die Herausforderungen ganz allgemein, den Zeitdruck, die Hektik, die schwindelerregenden Anforderungen, denen ich in meiner Position gerecht werden musste. Ich meine auch nicht die Personaleinsparungen, die die verbleibenden Kollegen auffangen müssen, oder die Herausforderung der Digitalisierung oder das Streben nach immer mehr Wachstum, Wachstum, Wachstum oder die Gewinnmaximierung als oberstes Ziel, ganz egal, ob die Menschen dabei zugrunde gehen oder nicht…« Mike schüttelte fast unmerklich den Kopf. Es war offensichtlich, dass all das ihm zu jener Zeit auch gehörig missfallen hatte. »Es hat mich damals auch belastet, dass ich den Druck, den ich von oben bekam, als Führungskraft an meine Mitarbeiter weitergeben musste. Ich stand ständig mit dem Rücken zur Wand, und mir blieb nichts anderes übrig, als wiederum meine Mitarbeiter mit dem Rücken zur Wand zu stellen. Was für ein wahnsinniger Kreislauf! Aber all das war es nicht einmal. Na ja, schon, aber es waren vielmehr die Dinge, die ich grundsätzlich um mich herum beobachtete.« Mikes Blick wurde eine Spur ernster. »Ich meine die Ellenbogenmentalität, das Ausboten, jeder war sich selbst der Nächste. Schlimm! Es gab kaum mehr ein Miteinander, fast nur noch Gegeneinander. Am allerschlimmsten aber traf mich die Erkenntnis, dass ich mich damals selbst verändert hatte, schleichend zwar, aber dennoch deutlich wahrnehmbar und nicht gerade zu meinem Vorteil. Ich war immer verbissener, härter, kälter geworden, ja richtiggehend abgebrüht. Das traf mich, denn ich wollte so nicht sein, ich wollte nicht zu so einem Typen werden, als Preis dafür, im System zu funktionieren. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden. Daher musste ich etwas ändern und tat es dann eben radikal – die einzige Chance, aus dem Kreislauf auszubrechen. So zumindest habe ich es gesehen. Vielleicht habe ich auch nur nicht genug nach anderen Lösungen gesucht und es mir zu einfach gemacht. Vielleicht. Kann sein. Wobei – dann wäre ich jetzt nicht hier.« Mike huschte ein Lächeln übers Gesicht. Er hatte ganz ruhig gesprochen, ohne Groll in der Stimme, aber Natascha konnte die tiefsitzenden Gefühle wahrnehmen, sie hörte sie zwischen den Zeilen heraus. Und hatte er nicht recht?!

»Das Problem geht ja heutzutage schon bei den Schulanfängern los«, schaltete sich Marina ein. Natascha mochte sie auf Anhieb. Marina hatte frech-fransig geschnittenes, naturblondes, kurzes Haar und sprühte vor Lebensfreude. Das genaue Gegenteil von Natascha – sowohl im Hinblick darauf, was auf dem Kopf war, als auch bezüglich der Einstellung im Kopf. Dazu noch so jung, noch voller Träume und Tatendrang – beneidenswert… »Der Jüngste meiner Schwester ist auch gerade in die Schule gekommen«, sprach Marina weiter. »Da wird schon in der ersten Klasse Druck erzeugt. Sicher nicht bewusst, hoffe ich zumindest, aber er ist halt ganz automatisch da. Bereits die Sechsjährigen kreischen verzweifelt, wenn sie nicht das ersehnte Belohnungssymbol ins Heftchen bekommen, und messen sich daran, wie viele die anderen schon in ihren Heften haben! Und wenn jemand anderes kein Belohnungssymbol bekommt, sind sie voller Schadenfreude! Klar, es ist ja für Kinder wichtig zu verinnerlichen, dass Fleiß belohnt wird. Aber irgendwie hat es seltsame Züge angenommen, finde ich. Ich bin ja viel jünger als ihr…« Ihr stieg plötzlich die Röte ins Gesicht. »Keine Ahnung, vielleicht war das bei euch in der Grundschule ja auch schon so.« Nun blickte sie einen nach dem anderen an, als würde sie sich dafür entschuldigen wollen, den anderen gerade klargemacht zu haben, dass sie ihren Zenit schon überschritten hatten. Dann fuhr sie, ohne eine Antwort abzuwarten, mit ihren Ausführungen fort: »Und ihr werdet es kaum glauben – der ältere Sohn meiner Schwester geht schon ins Gymnasium, achte Klasse, und dort ist es heutzutage schon so weit, dass manche Kinder nicht mal bereit sind, einem erkrankten Kind die Hausaufgaben zu bringen. Die lassen kranke Kinder eiskalt hängen. Heftig! Natürlich passiert das nicht jedes Mal, klar, aber es passiert! Die Kinder entscheiden ganz gezielt, wen sie hängen lassen und wen nicht… Ich meine, war das früher auch schon so?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Passt auf, es wird noch besser!« Nun warf sie theatralisch die Hände in die Höhe. »Meine Schwester hat mir auch erzählt, dass es mitunter sogar vorkommt, dass Kinder manchmal bewusst falsche Aufgaben übermitteln, und das alles nur, um die anderen abzuhängen. Das ist doch krass!« Marina hatte sich regelrecht in Rage geredet. »Und das lässt man denen durchgehen… oder man verschließt die Augen davor, keine Ahnung! Aber wie sind die denn in dem Alter schon drauf?! Die Kinder werden doch quasi auf Ellenbogenmentalität getrimmt, lernen das von der Pike auf, weil es eben gang und gäbe ist, sich so zu verhalten. Schöne Zukunft!« In versöhnlicherem Ton fügte sie hinzu: »Vielleicht sind das auch nur Ausnahmen. Oder es ist nur dort an der Schule so. Hm… Meine Schwester dramatisiert schon mal ganz gerne. Aber erfunden hat sie das nicht.« Sie hielt kurz inne, war aber offensichtlich doch noch nicht alles losgeworden, was sie bewegte. »Aber wisst ihr, man muss sich nicht wundern, manche Eltern leben es ihren Kindern ja auch vor. Neulich zum Beispiel, da steh ich im Foyer des Kinos am Tresen, um Knabberzeug und Getränke zu kaufen. Der Tresen geht ums Eck, besteht also aus zwei Theken. Ich war früh dran und wartete. Hinter mir standen irgendwann weitere Leute. Jetzt kommt ein Mann hinter den Tresen, nur leider an die andere Ecke. Wie von der Tarantel gestochen rennt eine Mami mit ihren zwei Kindern – die drei hatten hinter mir gestanden – ans andere Eck und bestellt ihr Popcorn. Die wussten doch, dass ich vor ihnen gestanden hatte, und das nicht erst seit einer Minute. Also komm! Nicht, dass ihr mich falsch versteht, ich hatte es ja nicht eilig, und es lohnt sich ja eigentlich auch nicht, sich über sowas aufzuregen. Aber dennoch, das ist doch ein Spiegelbild des Zustands unserer Gesellschaft. Wisst ihr, was ich meine?« Sie redete in einem Tempo, das keine Einwände zuließ. »Jetzt sagt ihr vielleicht: ›Ja, blöd, so Leute gab und gibt es aber immer.‹ Stimmt auch! Aber irgendwie ist es doch immer häufiger so. Und was ich sagen möchte: Wen wundert‘s, dass dann die Kinder so werden!« Erneut hielt sie kurz inne, als hole sie sich das Okay, noch etwas hinzufügen zu dürfen. Vielleicht holte sie auch nur mal kurz Luft. Dann redete sie schnell weiter: »Oder versuch mal, auf eine stark frequentierte Straße draufzukommen. Bis dich da mal einer reinlässt. Und und und … Es ist einfach so eine Zeit heute, denke ich. Man ist eben fixiert auf sich selbst. Sicher die Hektik, der Zeitdruck, der Stress, keine Frage! Viele sind vielleicht immer unter Strom und werden dann so, phasenweise zumindest. Ich habe das ja alles erst noch vor mir, den Stress im Berufsleben, meine ich. Erst mal studiere ich – ganz gemütlich.« Sie lachte. »Und nun bin ich erst mal hier.« Sie schnappte sich ihr Bier.

 

Natascha staunte. Marina war unter Wasser das komplette Gegenteil, nämlich die Ruhe selbst. Aber das kannte Natascha ja von sich auch: Eintauchen – abschalten!

Nun meldete sich Ralf zu Wort: »Wegen der Schule: Zu unserer Zeit haben wir uns Mitschülern gegenüber auch nicht immer einwandfrei verhalten. Ich denke, das war schon immer so. Vielleicht erinnern wir uns nur nicht daran.« Er zögerte eine Sekunde. »Oder es hatte zu unserer Zeit einfach doch noch nicht dieses Ausmaß«, fügte er dann eher fragend hinzu. »Könnte schon sein, dass da was dran ist. Was meint ihr?«

»Die Kinder mit sechs bilden schon Teams, in die man dazugehört oder eben nicht. Da fängt das Mobbing quasi schon in der ersten Klasse an. Das ist schon erschreckend, finde ich«, warf nochmals Marina ein.

»Gab es bei uns früher aber auch, Banden und so«, sagte Ralf, den sich Natascha mit seinem spitzbübischen Gesicht, den rötlichen Haaren und den frechen Sommersprossen lebhaft als männliche Rote Zora vorstellen konnte, eine TV-Figur aus ihrer Kindheit. »Aber vielleicht in der vierten, nicht schon in der ersten…«

»Man darf und sollte das alles sicher nicht überbewerten, nicht gleich dramatisieren, zumal wir alle mit Abstand draufschauen, weil unsere Kindheit schon ein paar Tage her ist. Aber trotzdem, es ist schon was dran, als würde heute einfach alles früher seinen Gang nehmen, und auch viel intensiver – schlimmer«, schaltete sich Frank ein.

Der ausgeglichene Frank – besonnen wie immer, dachte Natascha. Die Ruhe, die Frank für gewöhnlich ausstrahlte, stand für sie immer irgendwie im Gegensatz zu seinem eher verwegenen Aussehen. Das hätte eher zum Klischee des coolen Surfers gepasst: von der Sonne gebleichtes, naturgewelltes, halblanges Haar, türkisblaue Augen, markante und doch zugleich weiche Gesichtszüge, der gestählte Körper eines Fitnesstrainers und die draufgängerische Aura eines Lebemannes, hinter der aber ein ganz anderer Frank zum Vorschein kam. Diese Mischung versprühte eine starke Anziehungskraft – sicher auf viele Frauen. Jennifer war ein Glückspilz! Wäre da nicht Mike Sauerländer – der gute Frank hätte sich vorsehen müssen, theoretisch zumindest, denn praktisch bestand keinerlei Gefahr, Frank war Jennifers Schatz. Natascha würde sich nie für den Mann einer anderen interessieren – nicht auf diese Art zumindest. Und seit sie selbst Opfer von Untreue geworden war, erst recht nicht. Aber das war ein anderes Thema…

Das Gesprochene hallte noch in Natascha nach. Sie musste an Lea denken. In welcher Welt würde sie groß werden? Stand es wirklich so schlimm um das menschliche Miteinander? Würde Lea sich in dieser rauen Wirklichkeit zurechtfinden? Würde sie zu denen gehören, die andere unterbutterten, oder zu denen, die untergebuttert wurden? Sie würde alles daransetzen, dass Lea sich zu einer liebevollen und trotzdem taffen Frau entwickeln würde. Diese Kombination musste doch möglich sein, oder nicht?! Seinen Weg gehen und das erfolgreich, aber nicht auf Kosten anderer. Lea das zu vermitteln, nahm sie sich in diesem Moment einmal mehr vor.

Nun ergriff Mike nochmals das Wort: »Die Menschen schlagen sich seit Jahrtausenden gegenseitig die Köpfe ein. Das ist ja nicht nur ein Problem der heutigen Zeit. Es ist nur so: wo nach außen hin Friede herrscht, scheinen zunehmend innere Kämpfe stattzufinden – und zwar um Werte, quasi um das Innere des Menschen. Die Zeichen der Zeit, so nenne ich das mal.«

»Zeichen der Zeit…«, warfen nun auch einige der anderen ein. »Das passt doch irgendwie…«

»Die Frage ist nur, Zeichen für was? Was braut sich da zusammen?«, fragte Mike nachdenklich.

Nataschas Blick blieb an ihm haften. Der Mann sieht nicht nur gut aus, er hat offensichtlich auch etwas in der Birne und das Herz am rechten Fleck – und einen Hang zum poetischen Philosophieren. Schnapp ihn Dir, Natascha, und besser bald – bevor es eine andere tut!

Die nächste Stunde unterhielten sie sich weiter angeregt über dies und das. Gegen zwei Uhr ließ Jennifer durchblicken, dass es nun an der Zeit war, den schönen Abend zu beenden. Mike und Marina hatten beide ihren tauchfreien Tag vor sich – sonst hätten sie schon längst die Runde verlassen, immerhin hatten sie als Guides Verantwortung für tauchende Gäste. Jennifer, Frank und Ralf würden morgen nur in Papierstapeln abtauchen, aber Eric wäre bald wieder fidel und die Nacht somit kurz. Mit Lea würde es Natascha nicht anders gehen, und den letzten Urlaubstag nur kaputt herumzuhängen, wäre auch blöd. Irgendwann musste auch der netteste Abend zu Ende gehen – und der Zeitpunkt dafür war ohne Zweifel gekommen.

»Ich mach dir das Gästezimmer zurecht.«

»Danke, Jenny, lieb von dir, aber das Hotel ist gleich ums Eck. Ich schnappe noch ein bisschen frische Luft. Du hast keinen Aufwand und mir ist noch nicht nach schlafen zumute. Darf ich Lea nachher einfach bei dir abholen? Gegen Acht? Ist das okay?«

»Du kannst Neun daraus machen, kein Stress! Aber du kannst gerne bleiben, das weißt du. Ist doch kein Aufwand!« Jennifer hielt abrupt inne und schmunzelte. »Ah, verstehe.« Ein kurzer Luftkuss und Augenzwinkern, das Natascha allzu gut kannte. Grinsend machte Jennifer auf dem Absatz kehrt und schritt Richtung Küche. Im Laufen winkte sie Natascha noch über die Schulter zu und rief: »Viel Spaß!«

Nach gerade mal vier Stunden Schlaf und einem ausgiebigen Abschlussfrühstück, saß Natascha nun an einem kleinen Tisch des Strand-Cafés, einen Kaffee vor sich und immer wieder mal ein Auge auf Lea werfend, die fröhlich und ausgelassen mit zwei anderen Kindern eine Sandburg baute.

Nataschas Stimmung war das genaue Gegenteil. Wie hatte sie nur so blöd sein können?! Mike hatte sie in der Nacht noch zum Hotel begleitet, aber sie war nicht fähig gewesen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und Mike wiederum so umsichtig, sie nicht zu drängen. Ihr Verlangen, ihn zu küssen, war kaum zu bremsen gewesen, doch sie hatte sich derart gegen den Impuls gewehrt, dass es ihr letztlich auch gelungen war. Selbst schuld! Mist!

Sein Blick… Es war offensichtlich… Und sie? Bescheuert!

Und warum? Er wolle in die Karibik – zumindest diesen Herbst und Winter über, dann würde er weitersehen, wo es ihn als nächstes hintreiben würde. Wahrscheinlich nach Indonesien. Oder auf die Malediven. Irgendwohin, wo es unter Wasser richtig bunt war. Nach Deutschland würde es allerdings auf gar keinen Fall gehen. Wenn er wenigstens ihre vorsichtige Frage, ob er vielleicht wieder nach Mallorca käme, bejaht hätte! Etwas über eine Flugstunde für sie – ein Klacks! Dann wäre sie vielleicht über ihren Schatten gesprungen. Mancher Mann wäre in so einer Situation mit Kalkül vorgegangen, hätte ihr durch ein, zwei Sätze Hoffnung ins Herz gesetzt, die Situation zukunftsfähig dargestellt, nur um sein Ziel zu erreichen. Fast wünschte sie sich, er hätte sich so verhalten! Nun aber hatte er mit seiner Ehrlichkeit Pluspunkte gesammelt. Es war doch kein Kalkül, oder? Oder war es genau das? Quatsch! Keinesfalls konnte er angenommen haben, dass sie genau das suchen würde – einen One-Night-Stand, eine unverbindliche, lockere Nacht – und sich gedacht haben, sie genau so für sich gewinnen zu können.