Leidenschaft und Fußball

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1.1.13 Weitere Entwicklungen

Einige weitere, erwähnenswerte Entwicklungen des Fußballs zu dieser Zeit waren kurz und schlaglichtartig:

 Nachdem die Gewaltanwendung im Fußball grundsätzlich reduziert wurde, verfeinerte sich das Spiel nach und nach. Neben den häufigen Kampfszenen in einem Spiel zeigten sich nun erstmals klare Strukturen. So wurden etwa Solo-Einlagen,152 mittels derer die Spieler versuchten alleine zum Tor des Gegners vorzudringen, sehr gerne gesehen. Die Ballabgabe hingegen war nicht sehr populär, sondern wurde als weibisch, feige oder sogar als Spielverweigerung gesehen.153

 1897 wurde die Regel, dass beim Fußball elf gegen elf spielen, erstmals in die offiziellen FA-Regeln aufgenommen. Bis dahin kam es sogar vor, dass zwei unterschiedlich große Teams gegeneinander antraten.154

 Ein durchschnittlicher Spielverlauf war eher schlicht und grob, wie es folgende Beschreibung erkennen lässt: „Hatte ein Angreifer den Ball, dann versuchte er, so lange nach vorne zu dribbeln, bis er ihn an einen Gegner verloren hatte; war das passiert, dann schalteten sich seine Mannschaftskameraden ein, um den Ball wieder zurückzuerobern; war das gelungen, versuchte der Ballbesitzende seinerseits wieder, den Ball dribbelnd nach vorne zu bringen usw.“155

 Erst die Royal Engineers pflegten 1875 einen Kombinationsfußball mit sieben Stürmern, zwei Mittelfeldspielern und einem Verteidiger, womit die Zeit, in der Einzeltaten Spiele entschieden, weitgehend vorbei war.

 In der Cupsaison 1875/1876 kam erstmals die Praxis des Kopfballspiels auf, die bis dahin für die Gentlemen aus London als völlig unangemessen und dem Fußball nicht entsprechend angesehen wurde.156

 Bis 1866 galt die FA-Regel des totalen Abseits, die besagte, dass jeder Mitspieler, der näher an der gegnerischen Torlinie ist als der ballführende Spieler, im Abseits steht. Da diese Regel einen flüssigen Spielverlauf verhinderte, wurde sie 1866 insofern geändert, als dass sich ein Spieler den Ball von einem hinter ihm stehenden Spieler zuspielen lassen darf, wenn sich zwischen ihm und dem Tor des Gegners noch mindestens drei gegnerische Spieler befanden. Durch diese Regeländerung bekam der Fußball eine anspruchsvollere und spannendere Struktur,157 weil das Spiel nicht mehr auf zwei Ebenen beschränkt blieb (Angriff und Verteidigung), sondern sich auf drei Ebenen erweiterte (Angriff, Mittelfeld und Verteidigung), wodurch sich wesentlich variantenreichere Spielzüge entwickeln konnten.158

 Ab Mitte der 1880er Jahre etablierte sich der Mittelläufer als Ballverteiler im Zentrum des Spiels, wodurch dieses zu einem strategisch organisierten Spiel wurde.159

 Der Fußball war mittlerweile deutlich beliebter als Rugby, nicht zuletzt deshalb, da er für die Zuschauer wesentlich leichter nachvollziehbar war.160

1.1.14 Wie der Fußball nach Deutschland kam

Als britische Staatsangehörige den Fußball in sämtliche Länder der Welt mitbrachten, wurde rasch klar, dass der Fußball die Menschen überall auf der Welt faszinieren konnte. Allerdings blieben die Briten beim Spielen zunächst unter sich. Bis auch Einheimische aus den unteren Schichten der jeweiligen Bevölkerung Zugang zum Fußball erhielten, vergingen noch Jahrzehnte.161 In Deutschland entstanden deswegen auch dort die ersten Fußballvereine, wo englische Diplomaten, Studenten und Geschäftsleute waren.162 Der erste deutsche Pionier war der Lehrer Konrad Koch, der, angeregt durch eine Englandreise, bereits 1874 im Martino-Katharineum-Gymnasium in Braunschweig den Rugby-Fußball als Schulspiel einführte. Er übersetzte zum ersten Mal die englischen Regeln ins Deutsche. Der erste deutsche Verein, der Fußball spielte und den es heute noch gibt, war der Berliner Fußballclub Germania 1888. Danach wurden in kurzer Zeit weitere Clubs gegründet.163

Geregelte Wettbewerbe zwischen einzelnen Vereinen gab es zuerst nur unter einzelnen Städten. Erst der 1897 in Karlsruhe gegründete Verband Süddeutscher Fußballvereine erlangte überregionale Bedeutung. Dieser Verband stellte folglich bei der Gründung des Deutschen Fußball Bundes (DFB) am 28. Januar 1900 in Leipzig fast die Hälfte der 86 Vereine. Ab 1903 veranstaltete der DFB schließlich eine echte deutsche Meisterschaft. Da aber zu dieser Zeit in Deutschland die Leibesübungen vom Turnen abgedeckt waren und sich die Turnlehrer gegen die fremden Einflüsse des Fußballs wehrten, dauerte es noch einige Zeit bis sich der deutsche Fußball zu einem Massenereignis nach englischem Vorbild entwickelte.164

Diese verzögerte Entwicklung wird zum Beispiel deutlich in einer Notiz zur damaligen Situation im unterfränkischen Lohr am Main: „Das Fußballspiel hat bei uns einen Umfang angenommen, von dem sich früher kaum jemand träumen ließ. Das beweist nicht nur die Rührigkeit der Vereine und die Zuschauermassen bei Wettspielen; auch auf den Straßen und Plätzen, die eigentlich dem Verkehr dienen sollten, erhält man eine Vorstellung davon. Hierbei wuchs allerdings auch die Zahl der Gegnerschaft und bei einer Elternversammlung des Gymnasiums 1922 wurde ausgiebig über den Fußball in Lohr gesprochen und die Schulleitung mit Eltern blieben bei ihrem ablehnenden Standpunkt, dass Fußball kein Sport für Gymnasiasten sei. Die Einhaltung dieses Verbots wurde sogar von der Lehrerschaft überprüft. Doch allen Widerständen zum Trotz nahm der König Fußball in Lohr alle Hürden und im Juli 1923 feierte man 10jähriges Bestehen.“165 Und zum 100-jährigen Jubiläum im Jahre 2013 resümierte das langjährige Vereinsmitglied Michael Steger, im Rückgriff auf den Ehrenabteilungsleiter Alfred Stumpf: „Der lange Weg des Fußballs von der verbotenen und verpönten Kickerei aus dem Jahre 1913 bis zum Volkssport Nr. 1 hat im Lohrer Fußball viele Höhen und Tiefen durchwandert. 100 Jahre Fußball in Lohr sind zugleich 100 Jahre Freud und Leid gewesen.“166

Hochgestellte Persönlichkeiten aus Adel und Militär standen dem Fußball in Deutschland hingegen positiv gegenüber. Ab 1910 wurde Fußball sogar zum Teil der militärischen Grundausbildung und ab 1911 wurden im Heer eigene Fußballwettbewerbe veranstaltet. So expandierte der neue Sport auf allen Ebenen. An vielen Orten entstanden regionale Ligen, bald abgestuft nach Leistungsniveaus, und die Zuschauerzahlen schnellten ebenfalls in die Höhe. So verwundert es nicht, dass die Mitgliederzahl des DFB im Jahre 1910 die 100.000-Marke überschritt.167

Selbst im ersten Weltkrieg fanden hinter der Front regelmäßig Fußballspiele statt. Nach dem ersten Weltkrieg entwickelte sich der Fußball in allen heutigen Fußballnationen zum Massenphänomen. Die Mitgliederzahlen der Vereine in Deutschland explodierten und die Zuschauer strömten in die überall neu errichteten Stadien.168

Seppl Schmitt, ein Spieler des in den 1920er Jahren dominierenden 1. FC Nürnberg, erklärte sich diesen nach dem ersten Weltkrieg einsetzenden Boom folgendermaßen: „Diese Generation kam aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, zog die Uniform aus und war arbeitslos. Die Jugend floh [aus den] ewigen häuslichen Sorgen und fand eine zweite Heimat in den Sportvereinen.“169

Nun expandierte der Fußall auch in den großen Städten Südeuropas und Südamerikas. In Deutschland trugen darüber hinaus auch die Medien einen guten Teil zur Verbreitung des Fußballs bei. Im Laufe der 1920er Jahre hatten zahlreiche Zeitungen einen eigenen Sportteil und es entstanden spezielle Sportzeitungen. Auch die immer häufigeren Live-Übertragungen der Spiele im Rundfunk förderten diese Verbreitung.170

Dem Thema Berufsspieler erteilte der DFB zunächst eine klare Absage und förderte den Amateurfußball. Erst durch den Druck der Vereine, die immer öfter ihre Spieler heimlich bezahlten, beschloss der DFB 1932 widerwillig die Einführung des Berufssports. Außerhalb Deutschlands hatte sich zu Beginn der 1930er Jahre der Berufsfußball schon etabliert.171

Unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges litten weiterhin - hier fußballbezogen betrachtet - alle Europäer, während sich die Südamerikaner weiterentwickeln konnten und folglich die erste NachkriegsWeltmeisterschaft 1950 dominierten. Doch schon bei der nächsten WM kam es zum legendären Wunder von Bern, als die deutsche Nationalmannschaft die favorisierten Ungarn im Finale mit 3:2 bezwang.172

Dazu einige Originaltöne aus der mittlerweile legendären Radio-Reportage zu diesem Spiel von Herbert Zimmermann: „Deutschland im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft, das ist eine Riesensensation, das ist ein echtes Fußballwunder, ein Wunder, das allerdings auf natürliche Weise zustande kam, und das wir dem Fußballverstand unserer Spieler und der Vollkommenheit ihres Spiels verdanken (…) aber die Ungarn bleiben im Ballbesitz, Bozsik müßte schießen, gibt zu Czibor, Czibor schießt, abgewehrt, Liebrich rettet, noch einmal Nachschuß, Kocsis am linken Flügel, rettet, rettet, rettet, und jetzt ist die Gefahr beseitigt durch Liebrich … Liebrich, Liebrich, wenn wir dich nicht hätten! (…) jetzt Angriff der Ungarn durch Czibor, alleine durch, Turek, geh aus dem Tor heraus, hat gerettet, Nachschuß von Hidegkuti, ans Außennetz, Toni, Toni, du bist Gold wert, du bist mindestens so schwer in Gold aufzuwiegen wie der Coupe Rimet, also der Goldpokal (…). Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor, Tor für Deutschland, halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt, ich glaube, auch Fußball-Laien sollten ein Herz haben, sollten sich an der Begeisterung unserer Mannschaft und an unserer eigenen Begeisterung mitfreuen und sollten jetzt Daumen halten, viereinhalb Minuten Daumen halten in Wankdorf, 3:2 für Deutschland nach dem Linksschuß von Rahn (…) der Sekundenzeiger, er wandert so langsam, wie gebannt starre ich hinüber, geh doch schneller, geh doch schneller, aber er tut es nicht, er geht mit der Präzision, die ihm vorgeschrieben ist (…) und die 45. Minute ist vollendet … aus, aus, aus, aus, das Spiel ist aus! … nach diesen dreißig Sekunden, die Sie dem Reporter verzeihen müssen, ja bitte, müssen, denn Sie können sich nicht vorstellen, was hier los war (…) die Fahnen schwarz-rot-gold sind drüben im weiten Rund zu sehen, und auch wir sind ergriffen, während die deutsche Elf in alle vier Richtungen läuft … wir wollen auch in diesem Augenblick nicht vergessen, daß es ein Spiel ist…“173

 

Diesen „Beginn einer neuen Zeitrechnung“174 beschrieb der Politikwissenschaftler Arthur Heinrich wie folgt: „Die Deutschen hatten in zwölf Jahren die Welt um ihr moralisches Gefüge und sich selbst um ihre Identität gebracht. Sie hatten einen Krieg angefangen und verloren, standen als Täter da, von denen alle wussten, dass sie Verbrechen in einem Ausmaß begangen oder geduldet hatten, das zuvor niemand für möglich hielt (…). Eine Nation, die sich als Gemeinschaft schuldig gemacht hatte und als solche zur Verantwortung gezogen wurde, stürzte sich auf den Wiederaufbau, arbeitete noch verbissener als zuvor und versuchte auf diese Weise, ein Stück Normalität wiederzugewinnen. Und dann fiel das 3:2.“175

Und Christoph Bausenwein liefert eine zusätzlich historische Einordnung dieses WM-Sieges: „Das wilhelminische Deutschland hatte der Welt imponieren wollen und war in den Abgrund des Ersten Weltkrieges gestürzt; Ausrottung alles Fremden und Eroberung der Welt waren die Maximen des nationalsozialistischen Deutschland, und es folgte der totale Zusammenbruch; erst mit dem Fußball waren die Deutschen in der Welt angekommen. Als Fußballnation fanden sie zur Versöhnung mit sich selbst, als Fußballnation wurden sie nun international anerkannt – wenn auch noch nicht überall beliebt.“176

So bewegte und begeisterte der Fußball in den 1950er Jahren bereits zahlreiche Deutsche, wie der Text „Fünfziger Jahre“ von Dieter Pudenz veranschaulicht. Darin wird der Ablauf einer Woche und die Wichtigkeit des Fußballs in ebendieser beschrieben:

„Sonntags Fußballplatz.

Stadion am Riederwald, im Osten der Stadt.

Oberliga-Zeiten. Noch keine Pfründe für Profis.

Nummer 10: Alfred Pfaff. Ein Gastwirt, der

aus dem Stand das Spiel der Eintracht lenkte.

Montags Schule.

Lessing-Gymnasium, altsprachlich.

Non scholae, sed vitae discimus.

Zaghafte Versuche, Antikes zu begreifen.

Die RUNDSCHAU lobt Pfaff, der KICKER auch.

Dienstags Kino.

Roxy, Rasiersitz, eine Mark für Reihe 1 bis 3.

Western Marke Hollywood mit Randolph Scott.

Rührende Cowboy-Geschichte. Kugeln, Pferde.

Eisenbahnen und kastanienbraunes Knacki.

Mittwochs Fußball-Training.

Spielvereinigung 05 Oberrad, ein kleiner Vorstadt-Klub.

Aussichtslose Versuche, Alfred Pfaffs Pässe

oder Helmut Rahns Tore zu kopieren.

Aber ganz weiße Stutzen – wie Real Madrid.

Donnerstags Kino.

Endlich die neue Wochenschau.

Fitzel von Fritz Walter, Juan Manuel Fangio,

Sugar Ray Robinson oder Alfredo die Stefano.

Danach die Kulturfilm-Bremse.

Mythos Afrika oder Schönheit des Alpenvorlands.

Warten auf Lollo-Weiten.

Oder auf Jimmy Dean. East of Eden.

Freitags Straßenmeisterschaft.

Treffpunkt Trümmergrundstück. 23 mal 52 Meter.

Kleine Tore, von Pullovern begrenzt.

Lehrlinge demütigen Oberschüler.

Goethe hilft im Zweikampf nur bedingt weiter.

Samstags Schule, Fußball und Kino.

Volles Programm von 8 bis 18.

Morgens Pythagoras, Karl der Große und das Ohm’sche Gesetz.

Mittags Oberrad gegen Niederrad.

Abends Eddie Constantine, Elvis Presley und Brigitte Bardot.

Sonntags Kirche und Fußball.

10 Uhr: Hochamt im Kaiserdom.

15 Uhr: Bieberer Berg in Offenbach.

Die Kickers walzen den Gegner nieder.

Nummer 5: Hermann Nuber. Ein Metzger, der

zeigt, warum der Stopper Stopper heißt.177

1.1.15 Immer weiter

Trotz des Wunders von Bern ging es mit der Weiterentwicklung des deutschen Fußballs nur mühsam voran, vor allem weil es noch keine nationale Liga und keine Berufsspieler gab. Dies sollte sich mit der Gründung der Europäischen Fußball-Union (UEFA) im Sommer 1954178 und mit der Einführung des Europapokals der Landesmeister ein Jahr später179 ändern.180 Denn diesen Pokal gewannen zwischen 1956 und 1966 ausschließlich südeuropäische Teams. Hauptsächlich in Italien und Spanien wurde besserer Fußball gespielt, also genau in den Ländern, in denen die Spieler viel besser bezahlt wurden als in Deutschland oder England. England reagierte darauf mit der Abschaffung der Höchstgehaltsgrenze und der Freigabe der Transfersummen in der Saison 1960/1961. Und in Deutschland wurde 1963/1964 die Bundesliga eingeführt – unter anderem auch deswegen, weil immer mehr Nationalspieler wie beispielsweise Haller, Rahn oder Schnellinger ins Ausland abgewandert waren und man dies in Zukunft verhindern wollte.

Die Einführung der Bundesliga brachte schließlich den Lizenzspieler, der ein festes Gehalt bekam, anfänglich ca. 1200 DM pro Monat. Viele Vereine bezahlten ihren Spielern allerdings mehr als vom DFB erlaubt war. Dies führte sogar so weit, dass sich 1971 im Rahmen des Bundesligaskandals einige Profis, Trainer und Funktionäre hatten bestechen lassen, Spiele absichtlich zu verlieren. Der DFB reagierte darauf, indem er die Spielergehälter und die Ablösesummen freigab. Daraufhin folgte die finanzielle Explosion, die bis heute kein Ende erkennen lässt.

Ein paar Beispiele dazu: Bei den Ablösesummen lag der Rekord 1963 für den Wechsel von Günter Hermann von Karlsruhe nach Schalke bei 100.000 DM. 1976 wurde erstmals die Millionengrenze überschritten, als Roger van Gool für 1,05 Millionen DM vom FC Brügge zum 1. FC Köln wechselte. Im August 2012 wechselte Javier Martinez für 40 Millionen Euro von Athletic Bilbao zum FC Bayern München. Und nur vier Jahre später, im August 2016, wechselte der französische Fußballer Paul Pogba181 für eine Ablösesumme von 105 Millionen Euro (!) von Juventus Turin in die englische Premier League zu Manchester United – der bis dahin teuerste Transfer der Fußballgeschichte.

Diese rasante kommerzielle Entwicklung war nicht zuletzt durch die Medien möglich geworden, da der Fußball gerade im Fernsehen immer mehr an Bedeutung gewann. Der Kommerz ergriff weltweit rund um den Fußball die Herrschaft, wodurch dieser im Zuge der Entwicklung der Konsum-, Unterhaltungs- und Freizeitindustrie mehr und mehr zu einer Show wurde.182

So stand nicht mehr der Sport allein im Mittelpunkt, sondern auch die mediale Präsentation und die Vermarktung gewannen an Einfluss. Dies machte aus den Vereinen Unternehmen, aus den lokalen Fußballhelden Popstars und aus den Fans kritische Kunden.

Dies klingt zwar sehr modern, doch bevor es zum wirklich großen Durchbruch der Kommerzialisierung kam, sollte dem Fußball in den 1980er Jahren noch eine große Krise zu schaffen machen. Dies wurde zunächst auf dem Platz sichtbar, wo defensiver und destruktiver, statt offensiver und konstruktiver Fußball geboten wurde. Und obwohl die Deutsche Nationalmannschaft 1982 und 1986 Vize-Weltmeister wurde, konnte sie mit ihrem Fußball, bei dem Sicherheit den zentralen Aspekt darstellte, nur wenig begeistern. Dies wirkte sich negativ auf die Zuschauerzahlen in der Bundesliga aus, die stetig sanken.183 Dazu kam das veränderte Freizeitverhalten vieler Menschen, die sich lieber der sauberen Modesportart Tennis als dem dreckigen Proletenspiel Fußball zuwandten.

Negativ wirkten sich weiterhin die allgemeine Unsicherheit in Bezug auf den Fußball aus, die von gewaltbereiten Hooligans und Sicherheitsmängeln hervorgerufen wurde. Einen gravierenden Einschnitt stellte in diesem Zusammenhang das Jahr 1985 dar. Als am 11. Mai eine Holztribüne im Stadion von Bradford (England) Feuer fing, starben 56 Menschen qualvoll. Und als am 29. Mai während des Europapokal-Endspiels zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool im Brüsseler Heysel-Stadion englische Hooligans randalierten, mussten infolge einer Massenpanik 39 Menschen ihr Leben lassen. Nur vier Jahre später, am 15. April 1989, kam es zur nächsten Tragödie, als im Sheffielder Hillsborough-Stadion beim FA-Cup-Halbfinale zwischen Nottingham und Liverpool 96 Menschen zu Tode gequetscht wurden.

Nach diesen Tragödien reagierten das Fußballmanagement und die Politik auf diese Probleme, die hauptsächlich durch gewalttätige Hooligans und marode Stadien verursacht wurden, mit umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen und Renovierungen oder Neubauten der Stadien.

Im Zuge dieser Erneuerung des Fußballs wandelte sich auch das ganze Setting des Fußballsports grundsätzlich. 1991 etwa wurde in England die finanziell autonome Premier League eingeführt. Sponsorengelder und TV-Einnahmen stiegen stetig und blieben komplett in der Liga. So oder so ähnlich lief es auch in den anderen Ligen Europas184, wobei die Privatisierung des Fernsehens eine wichtige Rolle spielte. Denn beispielsweise durch die 1992 ins Leben gerufene SAT.1-Fußball-Show ran und die zur gleichen Zeit startende Champions League wurde die Bedeutung des internationalen Fußballs enorm gesteigert. Nun änderte sich auch der Vermarktungsstil: Aus trockenen Statistikern wurden redegewandte Showmaster und die Brutalität sollte aus dem Fußball herausgenommen werden. Vielmehr wollte man das offensive Spiel fördern, was unter anderem durch die Einführung der Drei-Punkte-Regel ab der Saison 1995/1996 erreicht werden sollte. Durch die Vergabe der TV-Übertragungsrechte erzielten die Vereine bis dahin nicht gekannte Einnahmen, die den Erlös aus den Stadioneintritten, von denen sie bisher vor allem gelebt hatten, noch überstiegen.

Im Jahr 1995 brachte das sogenannte Bosman-Urteil dann den gesamten Spielermarkt durcheinander.185 Hintergrund des Ganzen war, dass der belgische Profifußballer Jean-Marc Bosman sich über eine zu hohe Ablösesumme seines damaligen Arbeitgebers RFC Lüttich beklagte, durch die er sich in seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt sah. Bosman bekam bereits 1990 von einem belgischen Gericht Recht und durfte ablösefrei zum französischen Zweitligisten USL Dünkirchen wechseln.186 Dies führte in der Folge dazu, dass der Europäische Gerichtshof die Zahlung von Ablösen für vertragsfreie Spieler generell untersagte, welches wiederum zur Folge hatte, dass die Gehälter der Spitzenstars explodierten und die Ablösesummen zwar formal verschwanden, aber schnell durch die Praxis des Herauskaufens aus bestehenden Verträgen ersetzt wurde. Als Nebeneffekt aus dem Bosman-Urteil ergab sich die aus dem EU-Recht hergeleitete Anordnung, dass seitdem für jeden Verein beliebig viele EU-Ausländer spielberechtigt sind. Dies gab den Spielerkadern vieler Profiklubs ein komplett anderes, vielfältigeres Gesicht. Bereits 2005 spielten in der Bundesliga weit über 200 Profis aus mehr als 60 verschiedenen Ländern und auch heute bereichern Spieler aus den verschiedensten Nationen die Liga.187

1974 wurde der Brasilianer Joao Havelange zum FIFA-Präsidenten gewählt. Unter seiner Leitung trieb der Weltverband des Fußballsports die Kommerzialisierung des Spiels in bis dahin ungeahnte Dimensionen. Nur ein Beispiel dazu: Die Vergabe von Fußball-Weltmeisterschaften wurde oft von Vermarktungsinteressen diktiert. Die beiden WM’s 1994 in den USA und 2002 in Japan und Südkorea etwa sollten neue Märkte erschließen, da in diesen Ländern Fußball noch keine so große Rolle spielte. Diese globale Politik der FIFA wurde seit 1998 vom Schweizer Joseph Blatter fortgeführt, unterstützt durch die mittlerweile milliardenschweren Verkaufserlöse von Fernseh- und Werberechten. Hier muss aber auch erwähnt werden, dass die FIFA immer wieder Entwicklungshilfeprogramme startete, um die bedürftigen Verbände weltweit zu unterstützen.188

Bis zum Jahr 2015 hat sich der Fußball in Deutschland zwar weiterentwickelt, epochale Veränderungen des Spiels gab es hingegen nicht mehr. Einige aktuelle Entwicklungen zwischen 2005 und 2015 sind beispielhaft unter den Punkten 2.1.2 und 2.2 dieses ersten Hauptteils aufgeführt. Der Fokus dieser beiden Punkte soll zwar auf der Darstellung der Signaturen der Leidenschaft beim Fußball liegen, einige aktuelle Entwicklungen lassen sich daraus dennoch ablesen.

 

1.1.16 Erkenntnisse aus der Geschichte des Fußballs für den Fortgang dieser Arbeit

Hierzu eine Aussage von Christoph Bausenwein: „Auf der einen Seite steht fest, dass die Vereine keine Traditionsmannschaften mit fester Anhängerschaft mehr sind, sondern durch-kommerzialisierte Unterhaltungskonzerne mit Umsätzen im dreistelligen Millionenbereich. Die Bindung der neuen Zuschauer an den Verein hat fraglos abgenommen (…). Dafür ist der Zugang zum und der Umgang mit dem Spiel freier und offener geworden. Konfessionelle, klassenspezifische, ethnische und geschlechterspezifische Schranken haben sich weitgehend aufgelöst.“189 Und die Historikerin Christiane Eisenberg fügt hinzu, dass sich der Fußball „zu einem Kulturgut sui generis“ entwickelt habe, der für seine Anhänger selbst, ohne weitere außersportliche Sinnzusammenhänge, Sinn macht.190

Dieser Sinn steht in engem Zusammenhang mit der Begeisterung, die dieser Sport ausgelöst hat und auch heute noch auslöst. Fakt ist, dass der Fußball unzählige Menschen auf der ganzen Welt seit seiner Gründung begeistert hat und dies heute noch ungebrochen tut. Das ist auch der entscheidende Punkt, weshalb die Geschichte des Fußballs so intensiv thematisiert werden musste. Denn im Laufe dieser Geschichte gab es immer wieder Strömungen oder Entwicklungen, die der Verbreitung des Fußballs zum Massenphänomen entgegenwirkten bzw. kontraproduktiv waren, wie beispielsweise die Krise der 1980er Jahre. Diese Entwicklungen mussten auch teilweise gestoppt werden, denkt man nur an die große Brutalität einiger Vorformen des Spiels. Die heutigen negativen Facetten des Fußballsports, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben, werden unter Punkt 2.2 näher beschrieben.

Die treibende und tragende Kraft blieb dennoch stets die Leidenschaft, die dieser Sport über die Jahrhunderte hinweg ausgelöst hat und heute noch auslöst. Sie war schlichtweg zu groß um den Fußball verschwinden zu lassen. Und diese Leidenschaft ist es auch heute noch, die unzählige Menschen weltweit in ihren Bann zieht.

1.2 Die Grundlagen der Leidenschaft sind bereits im Wesen des Fußballspiels angelegt

Anknüpfend an die Erkenntnis des letzten Gliederungspunktes, dass die Leidenschaft des Fußballs die Menschen auch heute noch begeistert, ist im Bericht von Michael Baumgärtner vom April 2014 über eine FußballDiskussion des Café Scientifique Basel zu lesen: „Fussball ist die mit Abstand populärste Sportart der Welt. Fussball zieht Millionen von Aktiven und Beobachtern in seinen Bann. Fussball ist Faszination, Emotion (…) Fussball, Fussball, immer Fussball. Angesichts der Omnipräsenz dieses Sports in unserem Alltag stellt sich die Frage, was genau ihn eigentlich so populär macht.“191 Dieser Frage soll im Folgenden detailliert nachgegangen werden, da sie die Grundlage für die weiteren Überlegungen bildet.

Dies geschieht, indem in einem ersten Schritt immanente Wesensmerkmale des Fußballsports an sich im Hinblick auf deren Leidenschaftspotential dargestellt werden (1.2.1). In einem zweiten Schritt (1.2.2.) wird dieses Leidenschaftspotential des Fußballs anhand philosophischer (1.2.2.1) und soziologischer (1.2.2.2) Perspektiven um zusätzliche Aspekte erweitert.

Damit kann zwar die Frage, warum der Fußball weltweit Millionen von Menschen begeistert, keineswegs umfassend geklärt werden. Die beiden folgenden Gliederungspunkte liefern aber wesentliche Beiträge zur Beantwortung dieser Frage. Zunächst also zum Leidenschaftspotential der immanenten Wesensmerkmale des Fußballsports.

1.2.1 Das Leidenschaftspotential der immanenten Wesensmerkmale des Fußballsports

1.2.1.1 Die Unkompliziertheit der Regeln ermöglicht einen leichten Zugang zum Fußballspiel

Ein Grund, warum der Fußball so beliebt ist, liegt in der Unkompliziertheit der Regeln, die für jedermann schnell und einfach zu verstehen sind. Dies ermöglicht einen leichten Zugang zum Spiel. Es gibt zwar ein umfangreiches Regelwerk, wie wer was auf dem Spielfeld zu tun oder zu lassen hat, doch im Grunde genügt es, wenn man sich dreier Sachverhalte bewusst ist:

 Die Idee des Spiels: Die Grundidee des Fußballs liegt im frei fließenden Spiel zwischen zwei Mannschaften, die versuchen den Ball im Tor des Gegners unterzubringen ohne dabei die Hände zu benutzen.

 Die Funktion der sogenannten Standardsituationen: Die Standardsituationen (Einwurf, Eckstoß, Freistoß)192 stellen sicher, dass das Spiel auf die einfachst mögliche Art und Weise fortgesetzt wird, nachdem es unterbrochen wurde.

 Die Rolle der Abseitsregel: Die Abseitsregel besagt, dass ein Spieler sich den Ball in der gegnerischen Hälfte nur dann zuspielen lassen darf, wenn sich im Moment des Abspiels zwischen ihm und dem gegnerischen Tor noch mindestens zwei Spieler des Gegners befinden. Diese Regel zwingt alle Spieler auf dem Fußballplatz zu geordnetem Verhalten und sorgt dafür, dass ein Tor meistens nur mit spielerischer Übersicht und Intelligenz erzielt werden kann.193

Selbst der als intellektuell geltende ehemalige Fußballtrainer Dettmar Cramer stellte fest: „Fußball selbst ist ja geradezu primitiv: Tore verhüten, Tore schießen, das ist alles.“194

Selbst die wichtige Abseitsregel ist im Grunde nicht schwer zu verstehen. Sie ist deshalb wichtig, weil im Fußball viel von spontanen, ungeplanten Einfällen der Spieler abhängt, wo sie den Ball als nächstes hinspielen könnten. Die Abseitsregel zwingt die Spieler zu einer gewissen Planung ihres Vorgehens.195 Und gerade „diese in den Regeln angelegte Dialektik von Plan und Spontaneität“196 trägt einen großen Teil zur Faszination bei, die der Fußball verbreitet. Es kann demnach kein Zweifel daran bestehen, dass der Fußball unkompliziert und unter den minimalsten Voraussetzungen gespielt werden kann.197

Die Zuschauer sehen sich auch deshalb so gerne Fußball im Stadion und im Fernsehen an, weil sie ihn selbst spielen können und weil sie vielleicht selbst aktive Fußballer sind oder waren: „So groß die Kluft zwischen Anfängern, Durchschnittsspielern und Könnern auch sein mag – die Distanz bleibt immer so gering, dass jeder noch so unbegabte Hobbyspieler unmittelbar nachvollziehen kann, was die Stars auf dem Rasen im Stadion zelebrieren. So groß der Unterschied zwischen Profi und Freizeitkicker hinsichtlich Athletik, Kondition, taktischer Disziplin, Schusskraft und technischer Perfektion auch sein mag – die besonderen ‚Gesetze‘ des Fußballs sorgen dafür, dass beide immer einander nahe bleiben.“198

Leicht zu verstehen, leicht zu spielen, leicht nachzuvollziehen – in diesen Schlagworten liegt für viele Fußballkenner das Geheimnis des Spiels. Der DFB-Historiker Carl Koppehel meint daher, dass das Geheimnis um den Fußball schnell gelüftet ist, denn Fußball sei seinem Wesen nach ein sehr einfaches Spiel, in der Ausführung billig und leicht verständlich, da die Regeln frei von erschwerenden Vorschriften sind und die Wertung unkompliziert ist.199

Bausenwein wendet hier aber zurecht ein, dass auch viele andere Sportarten leicht zu verstehen oder zu spielen seien. Zum Volleyball etwa genügt ein leichter Ball und eine Schnur, die zwischen zwei Stangen gespannt ist; und schon kann es losgehen. Die Einfachheit der Fußballregeln führt zwar schon zu seiner schnellen Verbreitung, begründet aber noch nicht hinlänglich, dass der Fußball zu einem Massenphänomen wurde. Um dem Phänomen bzw. dem Geheimnis des Fußballsports auf die Spur zu kommen, muss man deshalb nicht nur die Regeln kennen, sondern auch den Kern des Spiels in den Blick nehmen, und sich fragen, was den Fußball so unvergleichlich macht, dass er Millionen von Menschen weltweit fasziniert.200

„Zunächst und vor allem ist es der scheinbar primitive Vorgang des Tretens, der eine überraschende Vielfalt der Spielmöglichkeiten entfaltet.“201 Der Fußball ist das einzige Spiel, bei dem das Bewegen des Balles mit dem Fuß zur Regel gemacht wird. Spiele, bei denen der Ball mit der Hand oder - quasi als Verlängerung der Hand - mit einem Schläger bewegt wird, haben eine weitaus geringere bzw. oft nur regionale Bedeutung erlangt. Das Treten des Balles macht den Fuß-Ball somit einzigartig.202 Bausenwein resümiert daher: „Tatsache (…) ist, dass der Fußball den anderen Ballspielen nicht nur den Ball, sondern ganz offensichtlich auch die Gesetze des Erfolgs aus der Hand genommen hat203 (…) [und die Regeln] Hand und Fuß haben204.“