Qualität in Pfarreien

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Hinführung

Die Situation in unseren Pfarreien ist momentan von vielen Herausforderungen geprägt. Trotzdem gibt es weiterhin viele engagierte Menschen, die sich mit Überzeugung für die Kirche vor Ort einsetzen. Einige können mit den Herausforderungen gut umgehen. Andere tun sich mit diesen Herausforderungen schwer.

Die Moderne bringt diese Herausforderungen für die Pfarreien bzw. Gemeinden vor Ort mit sich. Zwischen Tradition und Moderne muss fortwährend vermittelt werden. Das Tun der Kirche findet in der heutigen Gesellschaft statt, hier muss das Handeln greifen, hier muss sie den Menschen nahe sein. Damit geht ein erhöhter Orientierungsbedarf einher. Das machte Klostermann bereits 1981 aus: Es fühlen sich viele, die in der Pastoral tätig sind,

„hinsichtlich der Fruchtbarkeit und damit der Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit verunsichert (…).“1

Unterschiedliche Autoren unterstreichen das in ähnlicher Weise. Die Pastoral braucht verstärkt Orientierung. In Literatur und in der Praxis werden dazu eine Reihe von Hinweisen gegeben, aber

„eine Konkretisierung in überprüfbaren Daten und Fakten dagegen fehlt weitgehend.“2

Orientierung ist nötig. Dann erst kann die Wirkung pfarreilicher Arbeit beurteilt werden. In anderen Kontexten wird von Erfolg gesprochen. Allerdings ist Erfolg als Begriff pastoral bisher nicht verfügbar.3

„Als dringend ausbaubedürftig erweist sich das Feld der Wirkungs- und Erfolgsmessung kirchlicher Aktivitäten. Vermutlich gäbe es bereits ein jähes Erwachen, wenn man z.B. Gottesdienstbesucher danach befragen würde, was bei ihnen von einer Predigt ‘hängengeblieben’ ist oder wovon sie bei Kommunion bzw. Abendmahl erfüllt sind.“4

Wenn man nicht weiß, ob man sich mit dem eigenen Tun grundsätzlich in der richtigen, d. h. wirkungsvollsten Spur befindet, weil man für eine brauchbare Überprüfung keine sinnvollen Kriterien zur Verfügung hat, dann kann man die Orientierung verlieren. Mitarbeitenden fehlt ein solcher unterstützender Kompass, der solche Kriterien anbietet, um die Wirkung des eigenen Handelns zu überprüfen. Gerade für die hauptberuflich in der Pastoral Engagierten besteht immer mehr die Gefahr, in eine Situation zu kommen, die entweder die Motivation nimmt oder sogar krankmachende Effekte zeigt. Das machen z. B. die folgenden zwei Zitate deutlich:

„Für die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergibt sich aus dieser Situation eine Rollenunsicherheit und häufig bei den ‘Hauptberuflichen’ auch eine Berufsunzufriedenheit, die sich im Gefühl von Überforderung und oft auch in entsprechenden aggressiven oder depressiven Reaktionen äußert. Sie werden noch verstärkt durch die weltweit und hierzulande spürbare Umorientierung und Unsicherheit, wie sich der zeitgemäße Dienst der Kirche an und in der Welt vollzieht.“5

„Die kirchliche Lage in unseren Ländern ist sehr zwiespältig; die Stimmung - z. T. gerade beim kirchlichen Personal - ist über weite Strecken sehr gedrückt und missmutig. Ich erlebe bei manchen, wie Kirche krankmachend wirkt.“6

Es lassen sich verschiedene Ursachen ausmachen. Ein wichtiger Punkt wird von Papst Franziskus darin gesehen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedenen Versuchungen (z.B. Pessimismus, Rückzug ins Private, Konflikte, Anerkennungssucht) erliegen (EG 78-109, 266). Andere verweisen auf Ursachen, die sie auf die Art der Ausbildung zurückführen:

„Die Unfähigkeit von vielen akademisch ausgebildeten Theologen, ergebnisorientiert Sitzungen durchzuführen, ihre Gemeindearbeit effektiv zu planen und ihre Planung entsprechend umzusetzen, hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie sie ausgebildet worden sind.“7

Hinzu kommen Rollenveränderungen, die beim Eintritt in das Tätigkeitsfeld so nicht vorgesehen oder gewünscht waren. Gerade die Rolle des Priesters in den Pfarreien hat sich gewandelt. „Vom Seelsorger zum Manager“ ist ein oft gehörter Slogan. Das gilt nicht nur für die katholische, sondern auch für die evangelische Kirche in Deutschland:

„In der Gemeinde besteht ein Großteil der Tätigkeiten von Pfarrerinnen und Pfarrern offensichtlich aus Management. Wenn sie das schon machen müssen, sollten sie dafür auch ausgebildet sein. Damit sie sich dann aber nicht in vielerlei verlieren, bedarf es der Mühe um eine geistliche Identität. Geschieht hier nicht eine Verortung des Engagements, werden Pfarrerinnen und Pfarrer den großen Spielraum ihrer Tätigkeit zufällig und beliebig füllen.“8

Das kann zu einer Überforderung der Einzelnen führen.

„Schließlich leiden Pfarrer wie Manager unter der Zumutung der Allzuständigkeit. Beide sind letztlich für alle Belange des Unternehmens zuständig, sind Krisenmanager, Repräsentanten nach außen, verantwortlich für die Betriebsorganisation und das Betriebsklima und müssen auch zahlreiche repräsentative Verpflichtungen wahrnehmen.“9

Die Situation ist noch ein Stück komplexer. So kommen z. B. die Laiengremien und deren Gestaltungspotential bzw. -qualität in den Blick, das an vielen Stellen nicht ausreichend erscheint:

„Was (…) als relativ einfach beschrieben wurde, scheitert in der Praxis jedoch daran, daß Pfarrgemeinderäte, die vorrangig ein solches Leitungsorgan für die Pfarrgemeinde bilden könnten, sich nicht in der Lage fühlen oder fähig und bereit sind, eine solche Leitungsfunktion zu übernehmen.“10

Kirche wird mehr als Struktur wahrgenommen, die v. a. verwaltet und zu wenig nah bei den Menschen ist. Dazu nochmals Papst Franziskus:

„Außerdem müssen wir zugeben, dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eigene Zugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet, das auch manchen Strukturen und einem wenig aufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfarreien und Gemeinden zuzuschreiben ist oder einem bürokratischen Verhalten, mit dem auf die einfachen oder auch komplexen Probleme des Lebens unserer Völker geantwortet wird. Vielerorts besteht eine Vorherrschaft des administrativen Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung.“ (EG 63)

Das Ziel

Für die Arbeit in den Pfarreien gibt viele Herausforderungen und Hürden. In dieser „stürmischen“ Zeit wäre es sehr wünschenswert, das eigene Tun besser einschätzen zu können und ggf. alternative Handlungsprioritäten genannt zu bekommen. Das eigene Tun braucht Orientierung.

Es stellen sich also die folgenden Fragen: Was heißt wirkungsvolle Pfarreiarbeit? Kann man die Ergebnisse pastoralen Handelns erfassen und wenn ja, wie? Wie wird pastorales Handeln in der Pfarrei möglichst wirkungsvoll? Welche Kriterien gibt es, an denen sich Mitarbeitende orientieren können, um so die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns abzuschätzen?

Damit richtet sich der Blick auf die Wirkungen pastoralen Handelns und zugleich auf die Frage, was in der Pastoral verändert werden muss, damit diese Wirkungen möglichst positiv ausfallen. Es braucht eine Art Kompass, mit Hilfe dessen das eigene Tun Orientierung findet, ob man grundsätzlich auf dem richtigen Weg ist, auch wenn man vielleicht Umwege gehen muss oder sich die erhofften Wirkungen momentan nicht einstellen. Manche Ursachen, die gesellschaftlich bedingt sind, wie z. B. die demographische Entwicklung, können gar nicht beeinflusst werden, wohl aber die Qualität des eigenen Tuns. So gehen im Falle der jugendpastoral die Zahlen insgesamt zurück, was z. T. am demographischen Effekt liegt. Aber eine andere Ursache kann u. U. in der Qualität pastoralen Handelns zu finden sein. Diese Ursache müsste dann dringend bearbeitet werden. Aber dazu braucht es dann Qualitätskriterien, die deutlich machen, welcher Handlungsansatz hilfreich ist und daher verfolgt werden sollte.

Es braucht also ein Herangehen, das die Wirkungen pastoralen Handelns greifbar macht und zugleich darüber informiert, welches Tun mit welchen Wirkungen in Verbindung steht und daher auch gefördert werden müsste. Gerade die Frage nach den relevanten Wirkungen erscheint schwierig: Welche Wirkungen sollten in den Blick genommen werden? Sind es die Kirchgängerzahlen? Oder sollte man sich an Austritten oder Eintritten orientieren? Müsste man nicht eigentlich den inneren Glauben der Menschen irgendwie eruieren? Ist es überhaupt möglich, Wirkungen kirchlichen Tuns zu erfassen? Erst wenn die Frage geklärt ist, ob und wie Wirkungen in der Pastoral fassbar sind, kann auch darüber gesprochen werden, was Handlungsempfehlungen sein können.

Insbesondere für die Gestalter der Pastoral wäre es hilfreich zu wissen, wo man ansetzen müsste, damit Pastoral vor Ort möglichst wirksam ist. Eine spannende, aber zugleich schwierig zu erhaltende Information. Denn nach der Frage, ob „Erfolg“ überhaupt erfassbar ist, stellt sich gleich die Frage, wie das genau gehen könnte. Dazu ist bisher wenig spezialisierte Forschung vorhanden. Diese Arbeit möchte daher eine „Schneise schlagen“, die für nachfolgende Diskussionen eine Orientierung sein kann. Das Ziel der nachfolgend beschriebenen Forschungsarbeit ist es also, die Wirkungen der Pastoral und das Handeln in der Pastoral systematisch greifbar zu machen und miteinander so zu verknüpfen, dass die Handelnden für ihr Tun Kriterien und damit Orientierung erhalten.

 

Das Vorgehen

Im Hauptteil dieser Arbeit werden die drei folgenden Fragen gestellt und beantwortet:

1. Welche Wirkungskriterien und Handlungsansätze können ausgemacht werden? Dazu wird auf lehramtliche und pastoraltheologische Veröffentlichungen zurückgegriffen, ergänzt durch die Sichtweisen von 18 Interviewpartnern.

2. Welche Wirkungskriterien sind hilfreich und welche Handlungsansätze sollten im gemeindlichen Alltag verfolgt werden? Dem dient eine empirische Befragung. Insgesamt waren Fragebögen von 397 Pfarreien11 und, damit verbunden, 1711 Personen auswertbar.

3. Welche Qualitätskriterien zeigen sich somit für die Arbeit in den Pfarreien? Am Ende der Arbeit werden Handlungskriterien benannt, die für die Gestaltung der Pastoral vor Ort von Nutzen sind.

Bevor allerdings auf Wirkungs- und Handlungskriterien geschaut werden kann, muss in einem Grundlagen-Teil (Kapitel 1) zunächst die Voraussetzung kirchlichen Handelns betrachtet werden. Was macht Kirche aus? Was ist ihr Selbstverständnis? Was ist ihr Auftrag? Das ist unbedingte Voraussetzung, um auf Wirkungsweisen und in der Folge auf Handlungskriterien zu blicken.

Die Vorgehensweise der nachfolgenden Teile benötigt einen methodischen Rückgriff auf ein vorhandenes Instrument, um die Fragestellungen systematisch und belastbar begründet auszurichten. Es wird auf das Instrument der Qualitätsentwicklung zurückgegriffen, so wie es im sogenannten „Total Quality Management“ (TQM) mit dem Modell der European Foundation for Quality Management (EFQM) entwickelt wurde. Allerdings ist dieses Instrument ursprünglich für Unternehmen entwickelt worden. Das stellt eine gewisse Hürde dar. Einerseits muss geklärt werden, inwieweit es überhaupt im kirchlichen Kontext angewandt werden kann. Das geschieht in einem eigenen Teil vor dem eigentlichen Hauptteil. Andererseits kann das Instrument nicht „eins zu eins“ angewandt werden, sondern es braucht eine Übertragung auf den pastoralen Kontext. D. h., das Instrument dient zunächst einer systematischen Sortierung, die inhaltliche Füllung muss aber letztlich für den gedachten Anwendungskontext erst noch vorgenommen werden (vgl. Kapitel 5) - und zwar gemäß des Auftrags, den Kirche wahrnimmt. Der Auftrag modifiziert die Anwendbarkeit.

In Kapitel 2 wird zunächst auf die Analyse der Situation geschaut. Dieses Teilkapitel dient einem zweifachen Zweck. Einerseits wird damit nochmals deutlich, wo momentan Orientierungsbedarf besteht. Es stellt also eine knappe Situationsanalyse im Überblick dar. Andererseits geht es hier v. a. um die Wirkungskriterien, die dort Anwendung finden. Denn eine Situationsanalyse beinhaltet auch Wirkungskriterien, die die Situation beurteilbar machen. Es schließt sich der Blick in die Literatur an. Sowohl lehramtliche wie auch pastoraltheologische Literatur und angrenzende Ansätze werden befragt, welche Handlungsleitlinien empfohlen und welche Wirkkriterien angegeben werden. Es folgt der Blick in die Gedankenwelt der mit der Pfarreiarbeit Verwobenen. In Interviews geben die Pastoralpraktiker ihre Verständnisse, Herangehensweisen und damit impliziten Ansätze wieder.

All das fließt in einen Fragebogen ein, der in Pfarreien vor Ort zum Einsatz kam. Auf diese Weise konnte eine Gruppe gut wirkender Pfarrgemeinden identifiziert werden, die mit Hilfe des Fragebogens dann auch Auskunft gibt, wie deren Pfarreien die Pastoral vor Ort gestalten.

Auf diese Weise kann am Ende ein Ansatz für ein Qualitätsmodell entworfen werden, das eine erste Orientierung zur Gestaltung einer wirkungsvollen Gemeindearbeit liefert.

Der Blickwinkel wird auf Pfarreien12 beschränkt. Es braucht eine Fokussierung, um methodisch vernünftig auf einen Gegenstand zugreifen zu können. Schließlich nutzt das Qualitätsmodell den Pfarrgemeinden. Es werden sich für sie einige Handlungskriterien zeigen, die offenbar deutlich bessere Wirkungen als andere hervorbringen.

Die Vorgehensweise stellt sich also folgendermaßen dar:


Abbildung 1: Vorgehensweise

Um die Gedanken vom Eingang nochmals aufzunehmen: Die Chance einer Qualitätsbetrachtung kann z. B. darin liegen, dass Mitarbeitende mehr Potential für das eigene Handeln gewinnen. Dazu gehört, dass echte Würdigung stattfinden kann oder dass Mitarbeitende vor Überforderung geschützt bzw. ihre Motivationen erhalten werden können. Das geistliche Leben kann wieder genügend Raum entfalten. Außerdem passiert Verständigung über gelungene Vorgehensweisen, wovon alle profitieren können.13

Noch eine Nachbemerkung: Sollte darauf verzichtet worden sein, die weibliche wie männliche Form zu verwenden, so ist grundsätzlich beides mitbedacht worden. „Mitarbeiter“ meint dann auch die Mitarbeiterinnen.

1 Klostermann (1981), S. 49

2 Schaller(2000),S.250

3 Vgl.Tetzlaff(2005),S.123

4 Raffée(1995),S.172

5 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) (1995), S. 8

6 Karrer (2001b), S.119

7 Abromeit(2001),S.16

8 Abromeit(2001),S.ll

9 Abromeit(2001),S.13

10 Vögele (1998), S.219

11 Vereinzelt finden sich auch Kirchorte in der Stichprobe, also eine Strukturebene innerhalb einer Pfarrei, die sich um eine Kirche in der Pfarrei organisiert und meistens über einen eigenen Ortsausschuss verfügt, der in einem Pfarrei-Gremium vertreten ist.

12 Vereinzelt auch Kirchorte als eine Strukturebene innerhalb einer (großen) Pfarrei.

13 Vgl. Latzel (2010), S. 107-110

1 Grundlegung: Kirche und Qualität

Im ersten Abschnitt der Grundlegung wird auf den Auftrag von Kirche eingegangen, der sich seit dem II. Vatikanischen Konzil mit dem Begriff Sakrament verbindet.


Abbildung 2: Schritt 1

Im zweiten Teil der Grundlegung wird ein Instrument eingeführt, das nachfolgend zur Anwendung kommen soll, um das weitere Vorgehen zu strukturieren. Dieses Instrument hat seinen Urspurng in einem anderen Kontext, wird aber bereits in einigen Handlungsfeldern der katholischen Kirche zum Einsatz gebracht. Es ist also naheliegend, darauf zuzugreifen. Neben einer Erläuterung und Einführung soll es auch um eine theologische Fundierung gehen.

1.1 Die Kirche und ihr Auftrag

1.1.1 Kirche als Sakrament

Kirche ist durchaus greifbar. In das Gebäude „Kirche“ kann jeder hineingehen . Man erhält einen Eindruck von dem, was Kirche sein soll, der je nach Baustil variiert. Je nach persönlichen Geschmack spricht der jeweilige Stil mehr oder weniger an.

Kirche ist auch in einem anderen Sinne greifbar. Es sind die Bilder, die über die Medien vermittelt werden. Man bekommt Amtsträger zu Gesicht oder in aktuellen Serien Klosterschwestern, mit denen man erfundene Geschichten miterleben kann. Und es sind offizielle Vertreter der Kirche vor Ort, mit denen man bei der Feier von Sakramenten oder auch bei einer Beerdigung in Kontakt kommt. Aus der Kirche können Menschen ein- aber auch austreten.

Kirche ist greifbar. Für ethische Kommissionen sind Kirchenvertreterinnen wichtige, kritisch-reflektierte Mitarbeiterinnen. Für die Entwicklungszusammenarbeit zeigt sich ein großes weltweites Netzwerk an kirchlichen Strukturen. Auch gesellschaftspolitisch ist die kirchliche Struktur territorial wie auch z. B. mit Verbänden sehr breit aufgestellt. Allein die Caritas entfaltet ein großes Gewicht, das die Gesellschaft mit gestaltet.

Kirche ist sichtbar. Sie ist da, sie agiert und wirkt, und das schon seit langer Zeit. Es gibt ein einheitliches „Gewand“, das sie erkennbar macht. Es gibt Regeln, nach denen das Miteinander intern funktioniert, Positionen und Aufgaben sind ebenfalls auszumachen. Kirche hat einen Auftrag und damit eine Mission, für die sie steht und die sie erfüllen möchte. Man kann also soziologisch festhalten, dass Kirche eine Institution unserer Gesellschaft darstellt.

Unter dieser Perspektive unterscheidet sich Kirche nicht von anderen Institutionen. Nur Auftrag und spezifisches Tun unterscheidet sie.

„Auf analoge Weise läßt sich dieses Institutionsverständnis auch auf die Kirche übertragen. Die Kirche zeigt sich in ihrem institutionellen Charakter soziologisch dort am deutlichsten, wo ihre geschichtlich gewordenen, ‘typischen’ Grundvollzüge in einem gewissen Sinn ‘formalisiert’ worden sind, wo also ihre Verkündigung und Lehre (Martyria), ihr gottesdienstlichsakramentales Leben (Liturgie) und ihr Dienst an den Armen in Gemeinde und Gesellschaft (Diakonia) eine ‘objektive’, gegenüber den einzelnen Glaubenden relativ eigenständige, allgemein verbindliche und repräsentative Form annehmen. ‘Verbindlich’ meint: Dieses Handeln bringt den Sinngehalt des Glaubens der Gemeinschaft normativ zur Geltung. ‘Repräsentativ’ besagt: Es geschieht stellvertretend und im Namen der ganzen Gemeinschaft. In solchen Handlungsweisen tritt die Kirche als Gemeinschaft im Glauben in relativer Eigenständigkeit den einzelnen Glaubenden und anderen gesellschaftlichen Gebilden in ihrer Umwelt gegenüber; hier ‘objektiviert’ sie sich in einer die einzelnen übersteigenden Form, so daß auch rechtlich gültig gesagt werden kann: Die Kirche verkündet das Evangelium, sie bekennt ihren Glauben, sie betet und feiert Gottesdienst, sie dient den Menschen, sie erläßt Normen und Weisungen usw.“ 14

Diese Wahrnehmung ist völlig richtig. Aber es ist wie bei einer Münze - es gibt genauso eine zweite Seite, deren Missachtung dazu führt, dass man die Münze als ganze nicht wahrnehmen würde.

Auch Kirche ist sozusagen „zweiseitig geprägt“. Hätte sie nur die soziologische Dimension, so könnte sie nicht die ihr eigentlich zugedachte Aufgabe erfüllen. Sie ist Teil der Gesellschaft, darin muss sie wirken. Dazu braucht sie die institutionelle Gestalt. Aber durch diese Gestalt wirkt letztlich etwas Größeres, das dahintersteht.15

Kasper verweist zur Beschreibung dieses Phänomens von Kirche auf ein Bild, das schon die Kirchenväter verwendet haben: auf den Mond. Der Mond würde nachts nicht zu sehen sein (wie das bei der Mondfinsternis der Fall ist), wenn er nicht von der Sonne beschienen würde. Dieses Licht wirft er auf die Erde zurück, er wird für unsere Augen sichtbar. So ist es auch mit der Kirche. Sie selbst leuchtet nicht von sich aus, sondern weil sich etwas auf ihr spiegelt. Zumindest sollte dieses Leuchten durch sie deutlich werden. Das ist ihr Grundmoment, sie ist ein Reflektor, sie verweist auf etwas, das über ihr steht.16 Das Konzil formuliert in Lumen Gentium zu Beginn:

„Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten (…). (LG 1)

Kirche ist „mehr“. Sie ist komplex, denn in ihr zeigt sich etwas, das sich in rechtlichen Institutionen oder Organisationen wie Parteien und Vereinen nicht zeigt. Dort geht es um geregelte Einheiten, die letztlich kollektives Handeln vereinfachen sollen. Kirche ist per se anders. Es gibt die sichtbare Seite mit ihren Regeln, der Hierarchie, den Gemeinden und Gemeinschaften, aber es gibt genauso gut das göttliche Element, das durch all diese Elemente wahrnehmbar werden soll. Die institutionelle Seite soll dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft immer mehr einem heilvollen Zustand annähert. Das Konzil beschreibt dies mit der Aussage von der komplexen Wirklichkeit:

 

„Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfaßt und trägt sie als solches unablässig (…); so gießt er durch sie Wahrheit und Gnade auf alle aus. Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst (…). Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16) (…).“ (LG 8)

Somit ist die Zweiseitigkeit der „Münze“ ein Konstitutivum von Kirche. Wie eine Münze ist Kirche nicht schon der Zweck an sich, sondern dient einem Zweck. Sie ist ein Instrument, ein Werkzeug. Es ist da, es muss entsprechend seiner Funktion eingesetzt werden. Allein die Präsenz des Werkzeugs verweist schon auf das Veränderungspotential, das mit dem Werkzeug verbunden ist. Dies sind Bilder, die versuchen den Auftrag und die Wirklichkeit von Kirche zu beschreiben.

Kirche ist nicht nur Werkzeug, sondern auch Zeichen. Das II. Vatikanische Konzil spricht in der Beschreibung des Wesens der Kirche davon, dass Kirche „in Christus gleichsam das Sakrament“ (LG 1) ist.

„Die Übertragung des Sakramentsbegriffs vermag den klassischen Gegensatz zwischen der Vorstellung der Kirche als unsichtbarer Gnadengemeinschaft und gesellschaftlichen Gebilde zu überbrücken. Innere und äußere Dimension der Kirche verhalten sich zueinander wie die innere Wirklichkeit des Sakramentes (res sacramenti) und die äußere Zeichengestalt (sacramentum tantum). Die Kirche ist nicht eine um sich selbst kreisende und auf ihren Erhalt als gesellschaftliche Institution fixierte Religionsgesellschaft. Die Kirche ist vielmehr im Heilswillen Gottes verankert.“17

Ein Sakrament fungiert als ein Zeichen und Werkzeug und verweist auf etwas anderes, etwas, das nicht unmittelbar sichtbar ist, sondern mit einer Handlung oder einem Gegenstand verbunden ist, so wie Bilder auf Erinnerungen verweisen und Personen wieder sehr lebendig werden lassen. Ein Sakrament verweist auf die Zuneigung Gottes, es macht durch rituelles Handeln die Nähe Gottes zugänglich und erfahrbar. Kirche als Sakrament hat die Aufgabe, als ein Realsymbol auf die Gnade zu verweisen, um so Veränderung zu bewirken. Kirche ist nicht das Licht Christi selbst, sondern der Widerschein.18

Nicht die Kirche, sondern „Christus ist das Licht der Völker“ (LG 1). Sie ist „nur“ Zeichen und Werkzeug. Als Zeichen verweist sie auf die eine transzendente Wirklichkeit, auf Gott und auf sein Heilswirken. „Werkzeug“ beschreibt ihren Dienstcharakter, ihre Instrumentalität: Kirche dient dem Reich Gottes und dem von Gott für die Menschen gewollten Heil. Sie hat einen universalen Heilsauftrag für die Menschen - als „Sakrament des menschlichen Heils“ (LG 59).19 Oder anders gesagt:

„Die Existenz der Kirche ist Proexistenz. Die Kirche ist nicht für sich, sondern für andere da; Kirche gibt es um des Menschen, um der Menschen willen.“20

Kirche ist somit nicht schon das Heil oder Christus selbst, vielmehr verweist sie auf Christus. Zugleich kann das Heil durch sie gefunden werden, Christus wird durch die Kirche gegenwärtig.21 Die folgenden drei Zitate erläutern dies:

„Als ‘Sakrament’ vergegenwärtigt die Kirche die heilende Liebe Gottes in Jesus Christus ‘totum, sed non totaliter’; d. h. sie vermittelt den (geistgewirkten) Gehalt der Liebe Gottes in seiner ganzen Fülle (vgl. Eph 1,23), aber von ihrer (menschlich-endlichen und sündigen) Gestalt her nur in unvollkommener Weise. Das völlige Zusammenstimmen beider Seiten bleibt der vollendeten Gestalt des Reiches Gottes Vorbehalten.“22

„Die sakramentale Wesensbestimmung der Kirche besagt also, dass die Kirche Zeichen und Werkzeug ist für Christus und sein eschatologisches Heil. Durch sie soll das Mysterium, das Christus ist, geschichtlich aufleuchten; die Kirche soll Christus ihre Stimme, ihre Hände und ihre Herzen leihen, damit er durch sie in der Geschichte der Menschen wirksam gegenwärtig sein kann als Hoffnung auf die künftige Vollendung.“23

„Als Volk Gottes und als rechtlich-gesellschaftlich organisiertes Volk Gottes ist die Kirche aber nicht nur Heilsanstalt, sondern die Fortsetzung, die bleibende Gegenwart der heilsgeschichtlichen Aufgabe und Funktion Christi, seine Gegenwärtigkeit in der Geschichte, sein Leben, eben Kirche im eigentlichen und vollen Sinn.“24

Das Verständnis als Sakrament hebt also die komplexe Wirklichkeit von Kirche hervor.25 Mit dieser Wirklichkeit ist das Reich Gottes, das Heil für die Welt schon anfanghaft präsent, auch wenn es erst eschatologisch gesehen zur Vollendung kommt (LG 3, 5, 9).26 Auch das kann durch den Vergleich mit einem Werkzeug verständlich werden: mit dem Einsatz eines geeigneten Werkzeugs z. B. für den Hausbau wird Stein für Stein das Ziel vollendet. „Sakrament“ ist mit Kasper ein „begriffliches Mittel“27, um auszudrücken, dass Christus der Ursprung und Bezugspunkt der Kirche ist und sie zugleich zum Dienst an den Menschen beauftragt ist.28 Der Geist wirkt dabei in der Institution, d. h. auch durch die formalisierten Vorgänge.29 Diese institutionalisierten Formen existieren von Anfang an, z. B. Taufe, aber auch Leitungsamt oder Konzilien.30

1.1.2 Der Auftrag

Nun bliebe ein Werkzeug unnütz, wenn nicht klar wäre, wofür man dieses Werkzeug gebrauchen kann. Genauso ist ein Zeichen, z. B. ein Straßenschild, unwichtig, wenn es nicht eine Aufgabe erfüllen würde. Das gilt auch für die Kirche. Die Kirche hat ihren Ursprung bei Christus und hat sich nachösterlich gesammelt, um den „umfassenden Heilswillen Gottes“31 zu verwirklichen.

„Vor allem aber wird dieses Reich offenbar in der Person Christi selbst, des Sohnes Gottes und des Menschensohnes, der gekommen ist, ‘um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für die Vielen’ (Mk 10,45). Als aber Jesus nach seinem für die Menschen erlittenen Kreuzestod auferstanden war, ist er als der Herr, der Gesalbte und als der zum Priester auf immerdar Bestellte erschienen (vgl. Apg 2,36; Hebr 5,6; 7,17-21) und hat den vom Vater verheißenen Geist auf die Jünger ausgegossen (vgl. Apg 2,33). Von daher empfängt die Kirche, die mit den Gaben ihres Stifters ausgestattet ist und seine Gebote der Liebe, der Demut und der Selbstverleugnung treulich hält, die Sendung, das Reich Christi und Gottes anzukündigen und in allen Völkern zu begründen. So stellt sie Keim und Anfang dieses Reiches auf Erden dar. Während sie allmählich wächst, streckt sie sich verlangend aus nach dem vollendeten Reich; mit allen Kräften hofft und sehnt sie sich danach, mit ihrem König in Herrlichkeit vereint zu werden.“ (LG 5)

Die Kirche hat also einen Auftrag, eine Mission, die sie erfüllen soll. Sie ist gesandt, um das „Reich Gottes anzukündigen und in allen Völkern zu begründen“ (LG 5).

„Aber die Kirche mit all ihren Institutionen ist ein Mittel für die Menschen, und diese sind ihr Zweck.“32

Das Werkzeug dient auf diese Weise einer Verbesserung der Zustände in der Welt. Schon für die Propheten im Alten Testament gehört die kritische Wahrnehmung des Sozialen zu ihrem Glauben. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, dass sich Kirche für einen positiven Fortschritt unserer Gesellschaften einsetzt. Das drückt sich auch in der Option für die Armen aus.33

„Das Ziel der Mission ist die eschatologische Einheit der Völker, die Beförderung von Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen und damit die Heraufführung der einen Welt in Frieden und Freiheit.“34

„Darum hat die Kirche von Anfang an bis zum heutigen Tag ihre Mission immer so verstanden, dass sie im pädagogischen, diakonischen und politischen Bereich am Aufbau einer humanen Welt und eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen mitwirkt.“35

Natürlich ist die Heilssendung an den konkreten Problemen zu verwirklichen. Zugleich ist das Heil im christlichen Verständnis immer etwas Größeres, das von Gott her kommt. Indem man als Glaubender Christus nachfolgt, wird man ihm ähnlich. Man empfängt so die Liebe Gottes und kann darauf antworten. Als Glaubender ist man gleichzeitig aufgefordert, dies wieder in die Gemeinschaft zurückzugeben.36

„Erst dann, wenn die Einsammlung der ganzen dazu bereiten Menschheit zur Einheit mit Gott und untereinander geglückt ist, hat auch die Kirche ihr Ziel erreicht (…). Indem sie identisch wird mit der ganzen versöhnten Menschheit, findet sie selbst zu ihrer eigenen vollen Identität. (…) So nimmt (…) die Kirche dieses Reich in seinem ganzen Sinngehalt als durch Christus in der Welt angekommener Friedens-, Gerechtigkeits- und Lebenswille Gottes ‘realsymbolisch’ vorweg; sie darf im Vollzug der Nachfolge Jesu bereits in der Geschichte die Antizipation des alle Geschichte transzendierenden und vollendenden Reiches Gottes sein.“37

Kirche ist pilgerndes Volk Gottes, eine Weggemeinschaft, die auf die Vollendung hofft, die ein gemeinsames Ziel vor Augen hat. Kirche ist von den Menschen in ihr geprägt, daher kann das Ziel nicht abschließend erreicht werden.38 Kirche ist Teil der Welt, sie ist kein fertiger Idealzustand, sondern auf dem Weg. Das endgültige Heil bleibt also unerreicht und kann erst letztlich durch das göttliche Element geschenkt werden.39