Leyendecker

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Leyendecker
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Thomas Stange

Leyendecker

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Leserinfo

Impressum neobooks

Vorwort

Es ist bereits ein paar Jahre her, dass mir die Dokumentation „Denkmaltopografie des Landes Hessen“ in die Hände fiel, eine großformatige, reich bebilderte Enzyklopädie, die den Bestand an denkmalgeschützten Bauten wiedergibt. Beim gemütlichen Schmökern stieß ich auf die Abbildung einer alten Mühle in der näheren Umgebung.

„In dieser Mühle soll der Überlieferung zur Folge Anfang des 19. Jahrhunderts der berühmte Schinderhannes Zuflucht gefunden haben und später dort auch verhaftet worden sein.“

Eine bemerkenswerte Anmerkung. Getreu dem Motto „Wer Räuberballaden mag, wird den Schinderhannes mögen“ begann ich, ein paar zunächst noch unsystematische Nachforschungen anzustellen. Ich sprach mit heutigen und früheren Bewohnen der alten Mühle, und immer wieder tauchte dabei der Begriff „Schinderhannes“ auf. Trotzdem, niemand schien so richtig mit der Sprache heraus zu wollen; man tat ziemlich geheimnisvoll und gab sich auch sonst sehr verschlossen. Wodurch ich nicht umhin kam, mich mit der Geschichte des Schinderhannes näher und damit systematisch zu befassen.

Bei meinen Recherchen fand ich einiges heraus. Tja, der Schinderhannes – eigentlich konnte er es bis in unsere Gegend damals schwerlich geschafft haben; oder vielleicht doch?

Umso tiefer ich in die Geschichte des Hunsrücker Bandenführers eintauchte, desto geheimnisvoller wurde sie.

Schließlich stieß ich auf ein Phantom, ein Phantom in Gestalt eines hinkenden Schusters, der des Schreibens kundig gewesen sein soll und bereits kurz nach seinem Erscheinen zur quasi „Rechten Hand“ des Schinderhannes avancierte.

Nachdem er dem Räuberhauptmann eine ganze Zeit lang zur Seite gestanden hatte, verschwand der hinkende Schuster plötzlich spurlos. Kurze Zeit später flog die ganze Bande samt ihres Hauptmanns auf, wurde verhaftet, abgeurteilt und großenteils hingerichtet.

Der hinkende Schuster hingegen tauchte niemals wieder auf. Nur sein Name ist überliefert:

Er hieß Johann Leyendecker.

Dies ist seine Geschichte….

1. Kapitel

Still, fast einsam liegt die alte Mühle am Ausgang eines tiefen, langgestreckten Wiesentals. Zu ihrer nördlichen Seite fällt der Blick auf einen waldbestandenen Bergsporn, der in seiner Dunkelheit gleich einem wehrhaften Bollwerk Sicht und Gedanken abzuriegeln scheint. Diesem gegensätzlich scheint der weiden- und ackerbedeckte Hügelzug im Süden den unvoreingenommenen Beobachter zum Erklimmen aufzufordern, verspricht Befriedigung der Sehnsucht nach Weite, nach Ruhe für das beengte Auge. Der Hardtbach, der das Wiesental durchfließt, gab der Mühle Funktion und Namen. Zu keiner Zeit ihrer jahrhundertealten Geschichte stand die Mühle im Mittelpunkt des Interesses. Im Gegenteil, die Ströme des Verkehrs, damit die der Menschen, damit die der Aufmerksamkeit mieden das Tal, flossen stattdessen über die Höhenzüge und überließen die Mühle der Abgeschiedenheit. Nur selten kam es vor, dass einsame Wanderer der langgestreckten Scheune und dem quer dazu stehenden Mühlengebäude mit dem großen Zwerchhaus ansichtig wurden. Zumeist zogen sie dann an dem ernst und abweisend wirkenden Bauwerk vorbei, ohne inne zu halten, lockte doch das recht nahe gelegene kleine Dorf mit seinem Angebot zur gemütlich-beschaulichen Einkehr. Welches Bild sich damals, zu Kaiser Napoleons Zeiten, dem zufällig an der Mühle vorbeikommenden Reisenden bot, lässt sich heute nur schwerlich nachvollziehen, brannte die alte Mühle doch mehrfach ab - zuletzt Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - wurde jedes Mal wieder aufgebaut, veränderte dabei Charakter und Aussehen.

Doch all diesen Einwirkungen von Zeit und Schicksal zum Trotz lässt sich die Hardtmühle noch heute finden. Ihr Mühlrad ist schon vor langer Zeit abgebaut worden, kaum etwas erinnert noch an ihre einstmalige Bedeutung. Wer sich die Zeit nimmt und ein wenig genauer hinschaut, kann noch immer den alten Diebsgraben am Waldrand gegenüber erkennen, der es lichtscheuen Genossen früherer Zeiten so trefflich ermöglichte, ungesehen zur Mühle zu gelangen. Oh ja, die Hardtmühle hat in der Tat im Laufe ihrer langen Vergangenheit so manchem Gesetzlosen zeitweilig Unterschlupf und Sicherheit geboten. So manche Tat ist in ihr geplant, so manche Flucht durch sie erst ermöglicht worden.

Und so liegt sie heute noch in ihrem tiefen, langgestreckten Wiesental und wirkt immer noch ein wenig ernst und abweisend und bewahrt immer noch ein Geheimnis, das bis heute ungelüftet blieb. Und an stillen Winterabenden, wenn die Menschen der Gegend vor den Kaminfeuern zusammenrücken, sorgt es als Überlieferung dann und wann immer noch für Gesprächsstoff.

2. Kapitel

Die Augenlider des alten Mannes beginnen zu flattern. Durch zusammenhanglose Traumfetzen und konturlose Erinnerungen bricht sich sein Bewusstsein zögerlich Bahn. Gleichsam in jähem Erschrecken reißt er nun die Augen auf. Ohne den Kopf zu bewegen wandert sein Blick durch den nur von zwei Petroleumlampen und das herunter gebrannte Kaminfeuer schwach beleuchteten Raum.

Er ist allein.

Sogleich beruhigt sich sein angstvoller Blick. Jetzt ist der alte Mann wach.

Sein Leben währt nun schon zweiundfünfzig Jahre und wer ihn sieht, der meint, der alte Mann setze gerade zu einer Verbeugung an, denn sein Rücken ist stets nach vorne geneigt, der Kopf ein wenig tief zwischen die Schulterblätter gezogen. Ebenso auffallend ist sein unsteter Gang, denn sein rechtes Bein ist im Knie unbeweglich, der Fuß leicht nach innen verzogen. Allerdings ist diese Behinderung schon so alt, dass der alte Mann sie gar nicht mehr wahrnimmt. War seine Gestalt selbst in seinen besten Jahren nie als hochgewachsen zu bezeichnen, hat das Alter sie nun noch mehr zusammensinken lassen. Was ist es also, dass den wenigen Menschen, die noch mit ihm zusammen treffen, sein Anblick so bemerkenswert erscheinen lässt?

Es ist sein Gesicht mit den traurigen Augen, von so dunkelgrauer Farbe, dass sie fast schwarz wirken. Sein Blick, sanft, aber durchdringend, wird von einer schmalen, geraden Nase, von tiefen Furchen zu beiden Seiten begrenzt, wirkungsvoll verstärkt. Der Mund ist wohlgeformt und proportioniert, durch eine Grube von dem weichen, wenig energischen Kinn getrennt. Sein Haar ist lang, bis in den Nacken glatt nach hinten gekämmt, aschgrau und immer noch mit schwarzen Strähnen durchwirkt. Welcher Lebensinhalt könnte einen Mann mit einem solchen Gesicht einmal ausgefüllt haben? War er einst ein Gelehrter, ein Chirurg oder gar Arzt? Ein gebildeter Kaufmann vielleicht? Ein vormals berühmter Künstler gar? Die wenigen Leute in der Gegend, mit denen der alte Mann noch Kontakt halten muss, reden ihn mit Euer Ehren an; seinen richtigen Namen kennen sie nicht. Und wenn sie ihn gekannt hätten, hätte ihnen dieser Name nichts gesagt. Anfangs verstiegen sie sich in wilden Vermutungen, versuchten, von dem Gesicht des alten Mannes auf seine frühere Profession zu schließen. Schließlich einigte man sich darauf, dass es sich um einen ehemaligen Richter handeln müsse, der in der alten Mühle seinen Ruhestand verlebe.

 

Dieses Ende der Spekulationen geriet damit gleichzeitig auch zum Ende des Interesses für den alten Mann mit dem bemerkenswerten Gesicht und dem auffälligen Gang, der in der alten Mühle wohnt und Leyendecker heißt.

3. Kapitel

Leyendecker unterdrückt einen schmerzhaften Seufzer, als er sich in seinem Lehnsessel vorsichtig aufsetzt. Einmal wieder in Frieden aufwachen, denkt er beiläufig, einmal von diesem Alpdruck befreit sein. Die Vergangenheit sitzt als Lebenslinie tief in mir drinnen. Sie sitzen mir immer noch im Nacken....

Verdrießlich nimmt Leyendecker die silberbeschlagene Karaffe mit dem alten Port von dem kleinen Rauchtisch zu seiner Rechten und füllt sein Glas. Zwei Schlucke von der braunrotöligen Flüssigkeit. Einen Moment lang genießt Leyendecker den samtigen Nachgeschmack, hebt dann das Manuskript vom Boden auf, das seinen im beginnenden Schlaf kraftlos werdenden Händen entglitten ist. Seine Augen gleiten über die Seiten, ohne an einem Satz, an einem Wort Halt zu finden.

Die Holzdielen knarren leise, als sich Leyendecker schwerfällig erhebt. Ihn fröstelt. Er greift sich ein paar Scheite aus dem Vorratskorb und legt sie in das nur noch schwach züngelnde Kaminfeuer. Nachdenklich, langsam hinkt er dann zu dem alten Sekretär an der Wand hinter ihm, gleich neben der Türe. Mit knappen, durch tägliche Übung geformten Bewegungen schließt er das Manuskript sorgfältig ein. Seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Seine Vergangenheit, so ist ihm klar geworden, würde ihn niemals loslassen, wenn er nicht etwas dagegen unternähme. Schreiben kam ihm in den Sinn. Aufschreiben, was war. Aufschreiben, wie alles begann. Warum alles so wurde, wie es geworden ist. Rechenschaft ablegen vor sich selbst. Ein Geständnis ablegen......

Er hat tatsächlich angefangen zu schreiben, vor...wie langer Zeit? Es muss bereits Monate her sein, dass er sich zum ersten Male an seinen Schreibtisch setzte, um auf die leeren Blätter vor sich zu starren. Gedanken, die sich der Formung widersetzen, Worte, die sich weigern, zu fließen. Rastlos, mit einem Anflug von Verzweiflung im Herzen war er damals von seinem Schreibtisch wieder aufgestanden, hatte sich an sein Pult gestellt, von dem aus er durch das rechte Fenster direkt in den großen verwilderten Garten der Mühle blicken kann. Wenn mir doch jemand den ersten Gedanken gäbe, den aller ersten Gedanken, dachte er. Nur einen Gedanken, dann wird es schon gehen.

Dann hatte er begonnen, langsam im Zimmer auf und ab zu hinken. Fünf Schritte vom Bücherregal rechts am Schreibtisch vorbei bis zum Kamin, zwei Schritte um den Lehnsessel herum, vier Schritte zurück zum Bücherregal. Bei Regenwetter konnte sich sein Bein mitunter besonders nachdrücklich in Erinnerung bringen. Ein Himmelreich für den aller ersten Gedanken. Er hatte seine Wanderung durch den Raum fortgesetzt.

Dann drängte sich eine Zahl in seinen Sinn. Neunundneunzig. Es war ihm gar nicht bewusst geworden, dass er seine Schritte mitgezählt hatte. Neunundneunzig. Und dann war der aller erste Gedanke plötzlich da gewesen.....

4. Kapitel

Monate waren seit diesem aller ersten Gedanken nun vergangen, Monate, in denen aus den ersten, unsicher niedergeschriebenen Zeilen ein umfangreiches Manuskript geworden war, eine noch längst nicht beendete Arbeit, sicherlich nicht; dennoch eine gut strukturierte Sammlung von Gedanken, die vordem so schmerzhaft und unauslöschlich des Schreibers Seele zerfurcht haben. Ist es Leyendecker deshalb nun leichter zumute? Mitnichten. Denn Leyendecker hat erkannt, dass diese schwerlastenden Gedanken bisher geruht haben, in sich und in ihm geruht haben, unsagbar in ihrem Gewicht zum Einen, unsichtbar in ihrer Bedeutung jedoch zum Anderen. Seine Feder, sein Papier hat Belastendes an die Oberfläche gehoben, hat nie Gesagtes gesagt werden, Unkörperliches gegenständlich werden lassen. Augen meint Leyendecker in seinem stillen Zimmer zu erblicken, fremde Ohren lauschen zu hören, als ob er seiner Feder Stimme verliehen hätte. Leyendecker hat erkannt, dass er mit seinem gedankenvollen Manuskript ein gefährliches Schriftstück in Händen hält.

Welch ein Ausweg bliebe ihm? Wie oft schon hat er da gestanden, vor seinem lodernden Kamin, das Manuskript in Händen? Nur einer leichten, einer winzigen, kaum Kraft kostenden Bewegung hätte es bedurft, Gesagtes, Körperliches, Gegenständliches den Flammen anzuvertrauen, damit für immer Augen und Ohren zu entziehen. Was verlieh ihm die Kraft, diese Kraft nicht aufzubringen? Lange genug haben sich Leyendeckers Gedanken auf diese Frage konzentriert, um ihn erkennen zu lassen, dass es die Angst vor der Rückkehr in die Qual war, die ihn zurückhielt. Zu genussvoll war die einkehrende Ruhe der Seele gewesen, zu begehrenswert die geistige Freiheit, die sich ihm im Schreiben erschlossen hatte. Indem er sich dieses Umstands bewusst wurde, hat sich sein Leben verändert. Nachdem ihn der innerliche Druck des Gewesenen so viele Jahrzehnte peinigte, beginnt ihn nun der Druck des Seins äußerlich zu zermürben. Keine Ruhe, die nicht durch wiederkehrende Bilder der Vergangenheit zerfasert wird, kein Schlaf, der nicht in einem angstvollen Erwachen endet. Leyendecker hat den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Bei den wenigen Gelegenheiten, in denen er seine Zuflucht in der alten Mühle verlässt, um die wenigen von ihm benötigten Vorräte im nahe gelegenen Dorf zu besorgen, meidet er in der letzten Zeit den kürzeren Hohlweg und bevorzugt stattdessen den wesentlich weiteren Weg über freies Feld. Auch hat er wieder begonnen, alle zehn Schritt über die Schulter zu schauen, genau so, wie er es vor vielen Jahrzehnten immer tat, als er noch gewärtig sein musste, jeden Augenblick seinen Häschern in die Hände zu fallen.

Nur mühsam ist es Leyendecker gelungen, seine allgegenwärtige Besorgnis in einen tiefliegenden Winkel seiner Seele zu verbannen. Er steht nun vor seinem Schreibpult, eine leere Seite Papier vor sich, das geöffnete Tintenfass und die schreibbereite Feder zur Rechten und blickt durch das kleine Fenster hinaus in den regnerischen Novembernachmittag, hinaus in den von hohem Gras und seit Jahren nicht mehr beschnittenen Obstbäumen und Sträuchern bestandenen Garten.

Ich sollte freien Blick haben, denkt er sich. Es wäre besser, wenn ich den Garten durchblicken könnte, denn wenn, dann kommen sie durch den Garten und nicht über die Straße, denn die lässt sich zu gut einsehen.

Du fängst an, unter Verfolgungswahn zu leiden, sagt sich Leyendecker. Was hat sich denn geändert? Du hast angefangen, deine Erinnerungen aufzuschreiben. Was ist schon dabei? Was du geschrieben hast, hast du niemandem gezeigt und hast es niemandem erzählt. Über die Sachen von damals ist längst das Gras gewachsen und außerdem, was hast du schon Schlimmes getan?

Du warst dabei und hast die Briefe geschrieben und hast ein paar der großen Sachen geplant, meldet sich Leyendeckers Gewissen. Hättest du dich dann nicht rechtzeitig auf die Reise begeben, läge auch dein Kopf seit vielen Jahren im Rhein.....

5. Kapitel

Es war im Frühjahr des Jahres 1801 gewesen. Der Zusammenhalt der Gruppe hatte merklich nachgelassen. Immer öfter stießen sie bei ihren Unternehmungen auf erbitterten Widerstand. Das Geschäft war gefährlicher geworden, Erfolge mussten oft teuer erkauft werden. Hannes wurde in dieser Zeit immer rastloser.

Leyendecker, sagte er, kundschafte was aus. Leyendecker, du musst wieder ein paar Briefe schreiben. Leyendecker, wir brauchen was Sicheres, die Leut‘ sind unzufrieden, die Leut‘ folgen mir nicht mehr....

Und Leyendecker schrieb Briefe. Schutzbriefe, Druckbriefe. Johann-durch-den-Wald und drei Kreuze darunter und ab dafür. Alles musste schnell gehen. Heute der Brief, morgen der Besuch. Der Brief war Leyendeckers Sache, der Besuch die von Hannes und den Männern. Trotzdem wusste man nie, ob die nicht schon von einer Horde bewaffneter Bauern erwartet wurden. Oder von den Feldgendarmen. Denn die Franzosen hatten ihren Druck links des Rheins erheblich verstärkt. Das hatte Hannes Respekt eingejagt. Und dann kamen die ersten Verhaftungen.....

Leyendecker, hatte Hannes ein paar Wochen zuvor gesagt, wir dürfen nicht mehr warten, wir müssen Schluss machen. Sonst geht die ganze Bande hoch. Und ich und du mit ihr.

Das geht schief, hatte Leyendecker geantwortet. Sie werden dich verraten, nur um ihre eigene Haut zu retten. Und wenn es nicht alle sind, so genügt doch einer, um dich ans Messer zu liefern. Dabei würde doch fast jeder von ihnen um den Preis der Straffreiheit seine Seele dem Teufel verkaufen.

Die Franzosen, hatte Hannes nach einer nachdenklichen Pause gemeint, suchen doch nach der Bande. Also geben wir ihnen die Bande. Stellen wir sie zufrieden...

Leyendecker hatte wieder einen seiner Briefe geschrieben. Nach Mainz. Diesmal jedoch anonym, ohne Hannes Unterschrift. Schon vorher hatte er seine Siebensachen gepackt und sich auf Hannes Weisung hin per Postkutsche auf den Weg nach Oberhessen gemacht. Er entzog sich auf diese Weise dauerhaft dem Zugriff der Franzosen. Hannes hingegen wollte später zusammen mit seinem Julchen und seinen beiden anderen engen Gefährten, dem Erhard-Christoph und dem „Schwarzen Jonas“ und dessen Frau nachkommen, in das Versteck, das auszukundschaften sich Leyendecker zuvor auf den Weg gemacht hatte. So konnte man die Reaktion der Franzosen auf die Verhaftungen aus sicherer Entfernung abwarten.

Was war dann falsch gelaufen? Die Nachrichten, die Leyendecker in seinem hessischen Exil erreichten, waren spärlich und widersprachen sich zumeist. Eine Reihe von Bandenmitgliedern waren tatsächlich verhaftet, in einzelnen, schnellen Prozessen abgeurteilt und hingerichtet worden. Und auch von Hannes Verhaftung war die Rede. Doch wie konnte das sein? Der Plan war doch so präzise ausgearbeitet. Von einem Aufsehen erregenden Prozess war die Rede und von einem Todesurteil. Diese rätselhaften Nachrichten hatten Leyendecker im Laufe des Jahres 1803 erreicht. Hatte Hannes wieder einmal nicht auf ihn, Leyendecker, gehört? Hannes war ein herausragender Bandit, aber ein ungeduldiger Planer. So kannte ihn Leyendecker seit jeher.

Er selbst hatte mit seiner Vergangenheit sehr schnell gebrochen. Leyendecker lebte still vor sich hin, bewahrte eine Aura der Unnahbarkeit - aber nicht ein Tag verging, ohne dass er über sein vorheriges Leben nachgedacht hätte.

Dann fingen die Träume an, die Alpdrücke, das angstvolle Erwachen. Es geht schon vorbei, hatte sich Leyendecker gesagt, ich muss nur lange genug abwarten, fern von allem, was passiert ist. Aber es ging nicht vorbei, fast zehn Jahre lang ging es nicht vorbei. Leyendecker saß fest, fest in seinem letzten Auftrag. Mit seinen Erinnerungen an lang vergangene Zeiten, glücklichere Zeiten, Zeiten mit Hannes… Aber auch das half nichts, die Träume blieben ihm, diese furchtbaren Träume.....

6. Kapitel

Lange hat Leyendecker so dagestanden. Bewegungslos. Seine Gedanken sind abgeschweift, haben sich immer mehr verloren. Jetzt drängt sich ein gewohntes, monotones Geräusch in sein Bewusstsein. Das unterschlächtige Mühlrad ist angelaufen, der Müller hat das Mahlwerk in Betrieb genommen. Damals, 1801, musste Leyendecker den Müller nicht lange bitten, um die Mühle erwerben zu können. Nicht für sich selbst hatte Leyendecker dieses Geschäft getätigt, sondern –natürlich- für Hannes.

Sie war recht hübsch gelegen, die Mühle am Hardtbach, nahe vor den Toren des kleinen Marktfleckens, vor allen Dingen weit, weit entfernt vom üblichen Betätigungsgebiet der Bande. Einen Bannkreis von mindestens zwei Tagesreisen hatte Hannes bestimmt. Leyendecker hatte sich daraufhin auf die Suche begeben und dieses ideale Versteck in Oberhessen ausfindig gemacht. Das Investment hätte sich rentiert gehabt, wäre Hannes und sein kleiner Trupp plangemäß aufgetaucht. Seit beinahe zehn Jahren dient die Mühle nun Leyendecker als eine ständige Zuflucht, die sich in der Zwischenzeit zu einem Alterssitz entwickelt hat. Der Müller besaß die Mühlenkonzession und ahnte von allem nichts. Für ihn war Leyendecker der Eigentümer. Von Hannes hatte er niemals etwas gehört und ihn nie zu Gesicht bekommen. Nie einen Mitwisser mehr als nötig, hatte Hannes immer gepredigt. Und genau so hat es Leyendecker sein Leben lang gehalten.

 

Gleichmäßig dringt das Knirschen des Mahlwerks an Leyendeckers Ohr, scheint seine Gedanken zu versammeln und anzutreiben. Er steht immer noch an seinem Pult, greift nun zur Feder, taucht sie ein, hebt die Hand, wie um zu schreiben. Doch etwas lässt ihn wie zu Eis erstarrt innehalten. Ein Gedanke, der gleich einem unerwarteten Blitz aus der hintersten Ecke seines Gehirns direkt in die Muskeln seiner rechten Hand fährt. Diese Bewegung des Schreibenwollens, wie oft hat er sie im Zusammenhang seines Manuskripts ausgeführt, begonnen und vollendet. Warum bleibt Leyendecker nun in dieser Bewegung stecken? Ein Gedankenzusammenhang ist es, unbemerkt präsent, etwas unbedacht Gedachtes, was seine Bewegung unvermittelt zum Stillstand kommen lässt.

Langsam, müde fast, legt Leyendecker die Feder wieder beiseite.

Er hat sich vor seinem Schreibpult stehen sehen, vor dem Schreibpult in seiner kleinen Schusterei in Lauschied, die er mit seinen damals siebenundzwanzig Jahren besessen hatte. Das Pult war sein ganzer Stolz und das Produkt dreijährigen unermüdlichen Sparens gewesen.

Das erste Mal, dass Leyendecker eines solchen Pults ansichtig wurde, war in Mainz. Dorthin musste er ziehen, um die Erlaubnis zu erwerben, sich als Schuster im eigenen Namen verdingen zu dürfen. Der Code Napoléon ließ es nicht zu, dass ein Jeder nach seinem Gutdünken ein Gewerbe ausüben dürfe. So hatte Leyendecker also sein Bündel geschnürt und sich auf Wanderung begeben, mal unermüdlich zu Fuß und hinkend, mal als Mitfahrer auf einem Ochsenkarren, einmal sogar auf einem Pferdefuhrwerk. Die Nächte verbrachte er im Obdach von Bauern, die ihm als Gegenwert für eine gefegte Hofreite oder einige gestapelte Heuballen einen Platz im Stroh offerierten. Drei Tagesreisen hatte es so gebraucht, bis er in Mainz schließlich anlangte. Sich bis zur Kommandantur durchzufragen, bereitete Leyendecker wenig Schwierigkeiten. Dann hieß es warten, warten, warten, bis die Schar der vor dem Kontor des zuständigen Beamten wartenden Antragsteller zusammen geschmolzen war und die Reihe an ihn kam. Da stand er, klein und unscheinbar, der hohe Beamte, der über Wohl und Wehe von Leyendeckers Zukunft zu entscheiden hatte, vor einem Ehrfurcht einflößenden Schreibpult, welches für Leyendecker in diesem Moment zum Sinn und Ziel allen beruflichen Trachtens wurde. Es war ein Sinnbild für Macht und Einfluss - und genau das wollte Leyendecker auch haben, eines Tages....

Doch damals, 1798, hielten die Franzosen das linksrheinische Volk in fester Hand; die Zeichen für einen kleinen Schuster standen nicht günstig.

Zuerst hatte sich alles recht wohl angelassen. Leyendecker hatte sein Handwerk gut gelernt und konnte sich in seinem Gewerbe einen Namen machen, der weit über die Grenzen seines Dorfes hinaus ging. Schuhe von Leyendecker sind gut, hieß es. Schuhe von Leyendecker sind bequem, sagten die Leute. Schuhe von Leyendecker halten lange, meinten die meisten. Schuhe von Leyendecker sind zu teuer, sagten, Gott sei’s gedankt, anfangs nur wenige. Und so verdiente Leyendecker Geld. Nicht sehr viel, aber zum Leben reichte es aus und sparen ließ sich sogar auch etwas. Und der Tag kam, an dem aus Leyendeckers Traum Wirklichkeit wurde, der Tag, an dem er dem Schreiner des Dorfes ein Schreibpult in Auftrag gab, an dem er von nun an seine Briefe schreiben, seine Einnahmen verzeichnen wollte.....

Bereits kurze Zeit später jedoch zerbrach der Traum an der Wirklichkeit. Der Druck der Besatzer wurde immer unerträglicher, stürzte besonders die Landbevölkerung in Hunger und Armut. Zuerst wurde die Anzahl der Schuhe, die Leyendecker in Auftrag nehmen konnte, weniger und weniger. Dann nahmen die Reparaturen ab, blieben schließlich ganz aus. Das Schreibpult stand verwaist, Staub sammelte sich auf dem schönen Holz. Leyendecker begann, sich nach Zusatzarbeit umzusehen. Doch die war rar und von Vielen begehrt.

Schließlich kam der Tag im kalten Frühjahr des Jahres 1799, an dem Leyendecker erkannte, dass er mit einem halben Laib Brot und einem schmalen Stück Speck nicht würde überleben können. Nach kurzer Überlegung spaltete seine Axt das Schreibpult in Späne für ein letztes Feuer im Kamin, eine letzte warme Nacht. Mit dem Schreibpult gingen auch Leyendeckers Träume in Flammen, Rauch und Ruß auf. Am nächsten Morgen, als das Kaminfeuer herunter gebrannt war, machte er sich auf den Weg, einen Sack mit den wichtigsten Werkzeugen und seinen letzten Vorräten auf dem Rücken...