Wissenschaftsethik

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2.3 Pflichten, Folgen und Tugenden

Der wohl prominenteste Vertreter einer Pflichtethik ist der berühmte Philosoph Immanuel Kant, dessen Ethik meistens als das paradigmatische Beispiel einer deontologischen Theorie genannt wird.12 Kants Ethik beruht auf der Sichtweise des Menschen als grundsätzlich vernunftbegabtes Wesen, das sich selbst die Gesetze vorschreibt, nach der es handelt. Autonomie ist dementsprechend ein zentraler Begriff seiner Ethik. Kants Ethik ist nun im Wesentlichen der Versuch zu bestimmen, welche die moralischen Gesetze sein könnten, die vernünftige Wesen sich Kraft ihrer Rationalität stellen würden. Eine zentrale Rolle bei der Beantwortung dieser Frage spielt für Kant die Universalisierbarkeit dieser moralischen Gesetze, die in im so genannten kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt. In seiner Kritik der Praktischen Vernunft (1788) gibt Kant die bekannteste Formulierung des kategorischen Imperativs als das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (Kant, 1915, S. 39), das lautet:

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (ebd.).13

Kant erläutert, dass man dieses Grundgesetz „ein Faktum der Vernunft nennen [kann . . .], weil es sich für sich selbst uns aufdringt“ (Kant, 1915, S. 40–41). Das heißt, die Gültigkeit dieses moralischen Grundgesetzes ist für jedes Vernunftwesen unmittelbar deutlich, da es selbst ein wesentlicher Aspekt der Rationalität ist. Dies nun gelte, so Kant, grundsätzlich für alle vernunftbegabten Wesen:

„Dieses Prinzip der Sittlichkeit [. . .] erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftigen Wesen, sofern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin sofern sie der Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Prinzipien a priori [. . .] fähig sind“ (Kant, 1915, S. 41).

Im zweiten Abschnitt seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) findet sich eine andere sehr bekannte Formulierung des kategorischen Imperativs:

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant, 1965, S. 52).

In dieser Formulierung zeigt sich ein wichtiger Aspekt der Ethik Kants, nämlich der Charakter der in der Theorie auftretenden Pflichten von Pflichten anderen Menschen gegenüber. Hier ist zu sehen, dass für Kant die moralische Problematik daraus folgt, dass Menschen durch die Handlungen anderer Menschen betroffen sein können ohne dass es jedoch bei Kant primär um die Folgen von Handlungen gehen würde. Auch geht es nicht so sehr um die Handlung selbst als um das der Handlung unterliegenden Pflichtverständnis. Eine Handlung ist gut, wenn die Person, die sie ausführt, dies auf Grund ihres Verständnisses ihrer Pflicht tut. Bloßes pflichtgemäßes Handeln – Handeln, das zwar der Pflicht konform ist, aber nicht durch diese motiviert – kann nach Kants Ansicht nicht als gutes Handeln gewertet werden.

Der Utilitarismus wird üblicherweise als das paradigmatische Beispiel einer konsequenzialistischen ethischen Theorie der Pflichtethik Kants gegenübergestellt. Er kann im Wesentlichen auf die Werke der englischen Philosophen Jeremy Bentham (insbesondere dessen Buch Introduction to the Principles of Morals and Legislation, gedruckt 1780, veröffentlicht 1789) und John Stuart Mill (insbesondere dessen Utilitarianism, 1861) zurückgeführt werden, obwohl Vorläufer dieser Strömung bereits im 17. und frühen 18. Jahrhundert gefunden werden können (Driver, 2009). Der Utilitarismus ist keine homogene moralphilosophische Position, sondern vielmehr eine Strömung bzw. eine Gruppe von Theorien, deren Vertreter ähnliche, jedoch auch zum Teil sehr unterschiedliche Positionen einnehmen. Die vereinfachte Kernthese utilitaristischer Theorien lautet wie folgt: Die richtige Handlung ist die, mit der man so vielen der Betroffenen wie möglich so viel wie möglich Gutes tut.

Bentham geht bei der Formulierung seiner Position von einer anthropologischen Feststellung aus, nämlich dass Menschen durch das Streben nach Lust („pleasure“) und die Vermeidung von Leid („pain“) geleitet werden. Er schreibt im ersten Satz des o. g. Buchs: „Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Meister gestellt, Lust und Leid. Nur diese sollen uns anweisen, was wir tun sollen, sowie bestimmen, was wir tun werden.“ (Bentham, 1879, S. 1; eigene Übersetzung). Die Grundlage Benthams ethischer Theorie ist somit eine Feststellung über die Natur des Menschen: daraus, dass der Mensch bestimmte Interessen hat, folgt für Bentham das moralische Prinzip, dass diese Interessen in der bestmöglichen Weise gewährt werden sollen. Dieses ist für Bentham das Prinzip,

„das jede mögliche Handlung auf der Grundlage der Tendenz billigt oder missbilligt, die diese zu haben scheint, das Glück der Beteiligten, deren Interessen in Frage stehen, zu mehren oder zu verringern; oder [. . .] dieses Glück zu Fördern oder zu verhindern.“ (Bentham, 1879, S. 2; eigene Übersetzung; siehe auch Mill, 2006, S. 23).

Laut der bekanntesten Formulierung dieses Prinzips, die Berkeley in einer im Jahr 1822 dem Haupttext hinzugefügten Fußnote gibt, ist es das Prinzip, dass „das größte Glück für alle, deren Interessen auf dem Spiel stehen, als das richtige und angemessene, und das einzig richtige und angemessene und universell wünschenswerte, Ziel menschlicher Handlung festsetzt“ (Bentham, 1879, S. 1; eigene Übersetzung; vgl. Mill, 2006, S. 37).

Bentham nennt dieses Leitprinzip des Utilitarismus das Nutzenprinzip („principle of utility“) und erläutert, dass mit „Nutzen“ die (nicht weiter spezifizierte) Eigenschaft eines Dinges gemeint sei, Vorteil, Lust, das Gute oder Glück hervorzubringen oder auch Unheil, Schmerz, das Böse oder Unglück zu vermeiden. Alle diese Begriffe liefen laut Bentham auf das Gleiche hinaus (Bentham, 1879, S. 2). Obwohl Bentham das Glück bzw. die Lust, auf der die Ethik ausgerichtet sein sollte, primär als das Glück bzw. die Lust der einzelnen Person begreift (vgl. Benthams anthropologischer Ausgangspunkt), schreibt er Gruppen von Individuen und der Gemeinschaft als solche auch ein Interesse an Glück bzw. der Vermeidung von Unglück zu. Er fasst die Gemeinschaft jedoch als einen aus einzelnen Personen zusammengesetzten „fiktiven Körper“ auf (Bentham, 1879, S. 3) und erläutert, dass das Interesse der Gemeinschaft nichts mehr oder weniger als die Summe der Interessen deren einzelnen Mitglieder sei.

Das zu erstrebende Glück bzw. das zu vermeidende Unglück der Gemeinschaft sei demnach genau die Summe des zu erstrebenden Glücks bzw. des zu vermeidenden Unglücks der einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft (ebd.). In dieser Summierung zählt jedes Individuum gleich viel. Insbesondere ist bei der Bestimmung des Glücks bzw. Unglücks der Gemeinschaft das eigene Glück und Unglück der Person, das bestimmen soll, was sie zu tun hat, genauso schwer zu gewichten wie das Glück und das Unglück jedes einzelnen anderen Mitglieds. Daraus folgt eine – zumindest in der Theorie – vergleichsweise einfache Berechnung: Man müsse lediglich das mit einer bestimmten Handlung verbundene zu erwartende Glück bzw. Unglück jedes einzelnen Mitglieds der Gemeinschaft summieren und das zu erwartende gesamte Glück gegen das zu erwartende gesamte Unglück abwägen, um zu wissen, ob diese Handlung geboten oder verboten sei.

In der Praxis wird dieser Ansatz offenbar mit mehreren Problemen konfrontiert. Erstens ist es immer die Frage, wer genau zum Kreis der von einer bestimmten Handlung betroffenen Personen gehört. In einfachen Fällen, in denen es um die Handlung einer Person einer anderen Person gegenüber geht, ist die Situation vergleichsweise leicht zu überblicken. Aber in bei Weitem den meisten Fällen ist der Kreis der möglicherweise von einer Handlung betroffenen Personen deutlich größer und schwierig überschaubar. In den meisten Fällen ist die gesamte Gesellschaft zumindest indirekt von der Handlung betroffen, indem eine Handlung gewisse gesellschaftliche Tendenzen verstärken oder gerade entgegenwirken kann. Außerdem besteht der Kreis der Betroffenen nicht notwendigerweise ausschließlich aus Menschen. Dieser Punkt kann anhand des in der Ethik üblichen Unterschieds zwischen moralischen Akteuren („moral agents“) und moralischen Subjekten („moral patients“) illustriert werden. Dieser Unterschied bezieht sich darauf, auf welcher Seite der Handlung sich ein Wesen befindet. Moralische Akteure sind Wesen, die selbst Handeln und ihre Optionen überdenken können, während moralische Subjekte Wesen sind, die von Handlungen betroffen sein können.

Bei der Bestimmung der Gruppen der moralischen Akteure und der moralischen Subjekte spielen die Begriffe der Rationalität und der Leidensfähigkeit eine wesentliche Rolle. Um in einem wirklichen Sinne handeln zu können, muss ein Wesen in der Lage sein, sich über die betreffende Handlung einige Gedanken zu machen sowie sich zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu entscheiden. Der Kreis der moralischen Akteure ist demnach auf zurechnungsfähige Menschen beschränkt (Säuglinge und nicht-zurechnungsfähige Erwachsenen z. B. gehören nicht in diesen Kreis). Der Kreis der moralischen Subjekte erstreckt sich jedoch auf alle Lebewesen, die leidensfähig sind, d. h. die unter den Folgen einer Handlung leiden können oder durch diese Lust bzw. Glück empfinden können. Der Kreis der von einer Handlung möglich betroffenen Individuen umfasst demnach nicht nur alle Menschen, sondern auch viele Tiere (eine Tatsache, die Bentham auch deutlich hervorhebt).

 

Zweitens müssen Vertreter des Utilitarismus die Frage beantworten, wie sich das „Glück“ bzw. das „Wohlergehen“ der Menschen genauer beschreiben lässt. Bentham und Mill nehmen beide eine hedonistische Position zu dieser Frage ein, obwohl sich ihre spezifischen Positionen von einander unterscheiden. Während Bentham die Begriffe der Lust, der Unlust, des Glücks usw. letztendlich in der menschlichen Natur begründet, versucht Mill in seinem Utilitarianism einen konkreteren Zugang zu diesen Begriffen herzustellen. Mill schreibt, dass „[u]nter „Glück [. . .] Lust und das Freisein von Unlust, unter „Unglück“ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden“ werden solle (Mill, 2006, S. 23–25). Er merkt jedoch zugleich an, dass mit diesem Verständnis von Glück und Unglück das Erstreben von Glück und die Vermeidung von Unglück als moralische Leitlinie zu kritisieren wäre, denn „[d]er Gedanke, dass das Leben [. . .] keinen höheren Zweck habe als die Lust, kein besseres und edleres Ziel des Wollens und Strebens, erscheint [. . .] im äußersten Grade niedrig und gemein; als eine Ansicht, die nur der Schweine würdig wäre“ (Mill, 2006, S. 25). Laut Mill sollte es im Utilitarismus nicht um einfache Lust gehen, denn das menschliche Leben unterscheide sich wesentlich vom Leben der Tiere. Menschen haben eine höhere geistige Begabung als Tiere, und dementsprechend ist das Glück des Menschen von einer anderen Art als die einfache Zufriedenheit eines Tiers: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein“ (Mill, 2006, S. 33).

Da für Mill das zu erstrebende Glück ein für den Menschen spezifisches Glück ist und nicht lediglich körperliche und geistige Zufriedenheit von der Art, die auch nichtmenschliche Tiere anstreben, meint Mill, dass der Maßstab des Glücks dadurch gegeben sei, was Menschen tatsächlich anstreben:

„der Maßstab, an dem Qualität [des Glücks] gemessen und mit der Quantität [des Glücks] verglichen wird, [sei] die Bevorzugung derer [. . .], die ihrem Erfahrungshorizont nach – einschließlich Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung – über die besten Vergleichsmöglichkeiten verfügen.“ (Mill, 2006, S. 37–39).

Der Maßstab für das erstrebenswerte Glück ist für Mill dadurch gegeben, was vernunftbegabte Menschen auf Grund von Introspektion, Observation des Verhaltens anderer Menschen sowie vertiefte Überlegungen als erstrebenswertes Glück beschreiben würden.

Mill versucht also, den Begriff des erstrebenswerten Glücks zu konkretisieren, indem er ihn aus der Praxis ableitet. Er schreibt diesbezüglich:

„Der Utilitarismus sagt, dass Glück wünschenswert ist, und dass alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist. [. . .] Der einzige Beweis dafür, dass ein Gegenstand sichtbar ist, ist, dass man ihn tatsächlich sieht. Der einzige Beweis dafür, dass ein Ton hörbar ist, ist, dass man ihn hört. Und dasselbe gilt für die anderen Quellen unserer Erfahrung. Ebenso wird der einzige Beweis dafür, dass etwas wünschenswert ist, der sein, dass die Menschen es tatsächlich wünschen.“ (Mill, 2006, S. 105; eigene Hervorhebung).

Mill steht Benthams Auffassung der menschlichen Natur als nur auf die eigene Lust bzw. die eigene Schmerzvermeidung ausgerichtet kritisch gegenüber. Für Mill sind z. B. auch ein Mitgefühl für andere Menschen sowie ein Streben nach Perfektion Bestandteile der menschlichen Natur. Im Allgemeinen hebt Mill hervor, dass verschiedene Formen von Lust unterschiedliche Qualitäten haben können, sodass zwischen mehr und weniger erstrebenswerten Formen von Lust unterschieden werden soll. Seiner Auffassung nach, dass Menschen sich in ihrer geistigen Fähigkeiten wesentlich von den nichtmenschlichen Tieren unterscheiden, sieht Mill intellektuelle Formen von Lust bzw. intellektuelle Befriedigung als ein erstrebenswerteres Ziel an als rein körperliche Formen der Lust bzw. des Wohlbefindens. Letztendlich ist jedoch sowohl in Benthams als auch in Mills Version des Utilitarismus die primäre (aber nicht unbedingt ausschließliche) Grundlage der moralischen Bewertung und Begründung einer Handlung eine Analyse der Folgen, die diese Handlung für die verschiedenen Betroffenen haben kann. Darin unterscheidet sich der Utilitarismus grundsätzlich vom Typus der deontologischen Theorien.

Wenn es nun in der Praxis um Entscheidungen über wissenschafts­ethische Fragen geht, ist der genaue theoretische Unterschied zwischen deontologischen und konsequenzialistischen Typen ethischer Theorien weniger wichtig als die bloße Feststellung, dass in jedem Fall, in der eine Person die ihr zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen moralisch bewerten und ihre letztendliche Wahl begründen muss, zwei grundlegend voneinander verschiedene Bewertungs- und Begründungsweisen zur Verfügung stehen. In der Praxis treten jedoch sehr oft Mischformen dieser beiden Bewertungs- und Begründungsweisen auf. Nur die wenigsten Menschen werden bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsoptionen ausschließlich die Folgen bzw. ausschließlich ihre persönlichen Prinzipien in Betracht nehmen, sondern werden beide Aspekte im Blick haben, diese jedoch als unterschiedlich wichtig einstufen. Darüber hinaus gibt es neben den im Obigen vorgestellten Theorien von Kant, Bentham und Mill viele weitere Möglichkeiten, in der eine deontologische oder konsequenzialistische Theorie ausgearbeitet werden kann.

Der Vollständigkeit wegen soll neben diesen beiden Hauptkategorien ethischer Theorien hier noch ein weiterer wichtiger Typus ethischer Theorien kurz besprochen werden, der Typus der Tugend­ethiken. Im Gegensatz zu deontologischen und konsequenzialistischen Theorien richten sich Tugendethiken nicht unmittelbar auf die Bewertung von Handlungen, sondern auf die Bewertung der Lebensführung. Im Mittelpunkt stehen das gelungene menschliche Leben bzw. das menschliche Gedeihen sowie die Charaktereigenschaften der Person. Dementsprechend geht es nicht um die Erörterung der Werte, Pflichten, Normen oder Ziele, die bestimmen, was richtige Handlungen von falschen unterscheidet, sondern darum, zu erörtern, was einen guten Menschen und was ein gelungenes menschliches Leben ausmachen könne. Tugenden sind in diesem Kontext charakterliche Eigenschaften einer Person, die für das menschliche Gedeihen förderlich sind, wie z. B. Tapferkeit, Gerechtigkeit oder Großzügigkeit.

Während in den Handlungen eines Menschen solche Tugenden zum Ausdruck kommen können, geht es in dieser Kategorie ethischer Theorien dennoch nicht um die Handlungen selbst, sondern um den Charakter der Person, die diese ausführt. In dieser Hinsicht sind Tugendethiken der kantischen Pflichtethik nicht ganz unähnlich, in der es auch weniger um die Handlung selbst geht, in der eine Pflicht zum Ausdruck kommt, sondern darum, dass die Handlung durch diese Pflicht motiviert ist – d. h., dass die handelnde Person versteht, was ihre Pflicht ist, und sich auf Grund dieses Verständnisses frei zu der Handlung entscheidet. In einer ähnlichen Weise verstehen Tugend­ethiken eine Handlung als gut, wenn die sie ausführende Person durch ihre tugendhaften Charaktereigenschaften zu ihr gekommen ist. Tugendethiken wurden bereits in der griechischen Antike stark vertreten, wobei Aristoteles als der prominenteste Vertreter einer Tugendethik gelten kann (siehe insbesondere seine Nikomachische Ethik aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.). Während ab dem 18. Jahrhundert die Tugendethik durch deontologische und konsequenzialistische Ansätze stark verdrängt wurde, ist ab der Mitte des 20. Jahrhunderts eine verstärkte Rückkehr zu tugendethischen Ansätzen in der Ethik sichtbar.

Neben den hier vorgestellten drei Kategorien ethischer Theorien können noch weitere Kategorien unterschieden werden, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Ein im Rahmen der Wissenschaftsethik wichtiger Theorientypus, die unlöslich mit dem Namen des Philosophen Hans Jonas (Jonas, 1984, 1987, 1992) verbundene Verantwortungsethik, wird in Kapitel 4 und 5 im Mittelpunkt stehen, in denen die Verantwortung von Wissenschaftlern näher betrachtet wird.

2.4 Abschließende Bemerkungen

Die in diesem Kapitel kurz beschriebenen ethischen Theorietypen stellen im Wesentlichen verschiedene Perspektiven dar, aus denen ein moralisches Problem betrachtet werden kann. Für angehende und praktizierende Wissenschaftler ist es wichtig, sich der Existenz dieser Perspektiven bewusst zu sein, da ihre Tätigkeit nicht nur durch sie selbst, sondern auch von anderen aus diesen unterschiedlichen Perspektiven bewertet werden kann. Es ist ziemlich leicht, mögliche moralische Probleme zu übersehen, wenn man lediglich seine eigene Perspektive kennt und nicht weiß, aus welchen sonstigen Perspektiven eine Situation überhaupt als problematisch gewertet werden kann. Aber welche Rolle können die ethischen Theorietypen in konkreten wissenschaftsethischen Problemsituationen spielen, in denen ein Wissenschaftler mit einem moralischen Problem konfrontiert ist und nicht weiß, was zu tun wäre?

Eine mögliche Rolle ist die eines Werkzeugs, mit dem der Wissenschaftler versuchen kann zu bestimmen, welche der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen die richtige sein könnte. Die von der normativen Ethik bereitgestellten ethischen Theorien geben mögliche Bewertungs- und Argumentationsmuster vor, die man verfolgen kann, um aus einer Problemsituation herauszufinden. Die Theorien können in dieser Weise dem einzelnen Wissenschaftler dabei behilflich sein, sich in moralisch schwierigen Situationen zurechtzufinden und seine Handlungen rational zu begründen. Diese Rolle können ethische Theorien auch für die wissenschaftliche Gemeinschaft spielen, z. B. bei der Bestimmung von Vorschriften und Richtlinien für bestimmte Situationen (siehe dazu Kapitel 6).

Diesbezüglich treten jedoch mindestens zwei Probleme auf. Erstens müssen, um ein bestimmtes moralisches Problem (eine Situation, in der sich die Frage stellt, „Was soll ich tun?“) vollständig durchdenken zu können, mindestens vier Voraussetzungen erfüllt sein. Man muss einen vollständigen oder zumindest ausreichenden Überblick haben über das Spektrum der Handelsoptionen, die einem überhaupt zur Verfügung stehen. Dass man etwas tun soll, setzt voraus, dass man es auch tun kann; wenn lediglich eine einzige Option zur Verfügung steht, ist es auch nicht sinnvoll zu überlegen, ob diese denn die beste Option sei.14 Auch muss man einen ausreichenden Überblick haben über die Umstände, in denen man sich befindet: Wer ist alles durch welche Handlungsoption in welcher Weise betroffen? Weiterhin braucht man ausreichende Kenntnisse der moralphilosophischen Grundlagen, auf denen man die ihm zur Verfügung stehenden Handelsoptionen (gegen den Hintergrund der gegebenen Umstände) bewerten kann. Hier kommen die in diesem Kapitel angesprochenen ethischen Theorien ins Spiel. Und schlussendlich braucht man ausreichend Zeit, um die moralische Bewertung der Optionen abschließend ausführen zu können. Meistens haben wir jedoch weder ausreichend Zeit, um die Richtigkeit bzw. Falschheit der uns zur Verfügung stehenden Optionen vollständig zu durchdenken, noch haben wir einen ausreichenden Überblick darüber, welche Optionen wir tatsächlich haben und in welcher Lage wir uns genau befinden. In tatsächlich auftretenden Situationen, in denen die Frage „Was soll ich tun?“ beantwortet werden muss, wird demnach eine sehr unvollständige Analyse der Situation ausreichen müssen. Diesbezüglich ist es wichtig, die Beschränkungen der moralphilosophischen Werkzeuge zu sehen, die die normative Ethik anbietet.

Zweitens können unterschiedlich denkende Personen, die unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem haben, zu ganz unterschiedlichen Lösungen für das gleiche Problem gelangen. In einer konkreten Situation kann es leicht vorkommen, dass ein kantischer Pflichtethiker auf Grund von Überlegungen dazu, welche menschlichen Pflichten im vorliegenden Fall zum Tragen kommen, eine ganz andere Handlungsweise als die richtige auswählt als die Utilitaristin, die die zu erwartenden positiven und negativen Folgen der verfügbaren Handlungsoptionen gegen einander abgewogen hat. Und der Tugendethiker könnte auf Grund der Überlegung, welche menschlichen Tugenden in der spezifischen Situation in welcher Weise zum Ausdruck kommen können, wieder eine andere Handlungsoption als die richtige hervorheben als der Pflichtethiker und die Utilitaristin.

Hier ergibt sich also ein Problem auf der Ebene der wissenschaftlichen Gemeinschaft: Während der einzelne Wissenschaftler die verschiedenen ethischen Theorien als Wegweiser und Bewertungsgrundlage für sich selbst benutzen kann, um sich in einer konkreten Situation zu orientieren, scheinen die Theorien weniger dazu geeignet, auf gemeinschaftlicher Ebene zu einer Lösung zu kommen. Die von einer Person gegebene Begründung ihrer Handlungsweise muss ja von ihrem Gegenüber, der vielleicht eine völlig andere Perspektive einnimmt und eine andersartige ethische Theorie vertritt, überhaupt als gültige Begründung angenommen werden. Um mehr sein zu können als Werkzeuge für eine persönliche Bewertung und Begründung von Handlungen, müsste sich die wissenschaftliche Gemeinschaft erst einmal darauf einigen, welche die richtige Perspektive ist, aus der moralische Problemsituationen im Wissenschaftsbetrieb zu betrachten sind.15

 

Zwar ist es unwahrscheinlich, dass eine solche Einigung auftreten wird, aber für den spezifischen Problembereich der Wissenschaftsethik ist ein Ausweg aus dieser Situation möglich. Dieser besteht darin, die verschiedenen ethischen Theorien sehr explizit auf die Profession des Wissenschaftlers zu beziehen. Aus deontologischer Sicht könnte man z. B. fragen, ob eine Person in der Rolle des Wissenschaftlers besondere Pflichten hat, welche nur der Wissenschaftler als Wissenschaftler hat, und wem gegenüber diese Pflichten zum tragen kommen. Aus utilitaristischer Sicht könnte man fragen, welche die Folgen des Betreibens wissenschaftlicher Forschung sein könnten und wer in welcher Weise durch welche Folgen betroffen sein könnte. Aus tugend­ethischer Perspektive könnte man fragen, ob das Idealbild der „Person der Wissenschaft“ spezifische Tugenden beinhaltet, die durch Wissenschaftler in einem besonderen Maße realisiert werden sollten. So könnte Wahrhaftigkeit eine spezifische charakterliche Tugend der wissenschaftlichen Person sein, da sie ja eine Rolle ausübt, die in besonderem Maße auf Wahrheit ausgerichtet ist. Tapferkeit scheint dahingegen keine Tugend zu sein, die für Personen in ihrer wissenschaftlichen Rolle eine besondere Relevanz hat.

Leider hat die Wissenschaftsethik bislang noch kaum konkrete Ergebnisse solcher Überlegungen anzubieten.16 Dennoch hat sich ein Theorietypus, die Verantwortungsethik, in der Wissenschaftsethik besonders hervorgetan und scheint mit dem Begriff der Verantwortung einen sehr wichtigen Aspekt der Wissenschaft erfassen zu können. Dementsprechend wird dieser Theorietypus in zwei der zentralen Kapitel des vorliegenden Buchs, Kapitel 4 und 5, im Vordergrund stehen. Bevor jedoch die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers und der wissenschaftlichen Gemeinschaft als solche angesprochen wird, muss im nächsten Kapitel zuerst eine andere wichtige Frage erörtert werden: Was haben moralische Urteile überhaupt in der Wissenschaft zu suchen? Ist die Wissenschaft nicht eigentlich die wertfreie Suche nach der Wahrheit, und nichts als der Wahrheit?

5 Zur Natur der Moralphilosophie, siehe z. B. Frankena (1963, S. 3 ff.). Angemerkt sei, dass in anderen Sprachen als dem Deutschen die entsprechenden Begriffe eine etwas andere Bedeutung haben können.

6 Dieses Beispiel zeigt bereits ein Problem auf: es ist fraglich, ob überhaupt sinnvoll von einer christlichen Moral gesprochen werden kann, da es ja durchaus sehr unterschiedliche moralischen Systeme gibt, die alle in der Tradition des Christentums stehen. Welche Moralsysteme als christlich gelten können ist demnach eine Frage für die christliche Ethik, d. h. das Arbeitsgebiet, das sich mit der Erforschung und Begründung der christlichen Moral befasst und als solches eher ein Teilbereich der Theologie als ein Teilbereich der Philosophie ist.

7 Vgl. die Erörterung der Frage in Kapitel 1, was die Wissenschaftsethik leisten kann.

8 Die verschiedenen Bereichsethiken bzw. angewandten Ethiken werden oft zusammen als angewandte Ethik benannt.

9 Der Begriff „Wissenschaft“ wird hier im breiten Sinne aufgefasst und umfasst neben den Natur- und Sozialwissenschaften auch die Geisteswissenschaften und die sonstigen akademischen Disziplinen. In diesem Sinne können auch für die Philosophie und ihre Teilbereiche eigene Wissenschaftsphilosophien bestehen. Zur weiterführenden Lektüre zur Metaethik siehe z. B. Smith (2005).

10 Siehe z. B. Nida-Rümelin (1996 b) für eine vertiefte Besprechung dieser und weiterer Ansätze sowie ein Verzeichnis weiterführender Literatur.

11 Die gleiche Gegenüberstellung kann im Übrigen auch mit den Begriffen des Richtigen und des Guten gemacht werden (Driver, 2005, S. 34 und 41). In konsequenzialistischen Theorien wird das Richtige (das Gebotene) durch das Gute (d. h., die Zustände, die wir als gut bewerten) bestimmt. Eine Handlung wäre demnach richtig, also geboten, wenn sie einen guten Zustand realisieren kann. Deontologische Theorien hingegen suchen die Richtigkeit einer Handlung ohne einen Rekurs auf das Gute zu begründen.

12 Aber wie es so oft in der Philosophie der Fall ist, besteht auch diesbezüglich eine Diskussion und fragen sich einige Autoren, inwiefern die kantische Ethik tatsächlich als deontologisch verstanden werden kann (Driver, 2005, S. 42).

13 Kritik der praktischen Vernunft, erster Teil, I. Buch, 1. Hauptstück, § 7. Siehe auch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, erster Abschnitt (Kant, 1965, S. 20).

14 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, erster Teil, I. Buch, 1. Hauptstück, § 6 (Kant, 1915, S. 39).

15 Das gleiche Problem tritt natürlich auch im Alltagskontext auf. Auch hier gibt es verschiedene Individuen und Gruppen von Menschen, die zum Teil stark unterschiedliche Perspektiven auf moralische Probleme einnehmen. Diese Problematik wird in der Ethik unter dem Titel des „ethischen Relativismus“ bzw. des „moralischen Relativismus“ verhandelt. Siehe dazu Frankena (1963, S. 92–94), Gowans (2012) oder die Aufsätze in Ernst (2009).

16 Diese Situation kann jedoch als Herausforderung an die wissenschaftliche Gemeinschaft umgedeutet werden, selbst darüber Erörterungen anzustellen, welcher ethischer Theorietypus eine sinnvolle Perspektive auf die Wissenschaftspraxis bietet, welche professionelle Pflichten der Wissenschaftler haben könnte, wie der Wissenschaftsbetrieb aus einer folgenorientierte Perspektive bewertet werden könnte usw.

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