Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt

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Als «Siegesfest der Wissenschaft» galt unter diesen Umständen, dass das Gründungsdatum 1307 für die Eidgenossenschaft, das Tschudi und nach ihm v. Müller überliefert hatten, dem Jahr 1291 weichen musste, dem frühesten urkundlichen Beleg für den Bund der Waldstätte.31 Dass dieser der – zudem «ewige» – Kern war, aus dem die Eidgenossenschaft durch Anschlüsse entstand, übernahm allerdings die liberale Geschichtsschreibung, die um 1891 neue Synthesen vorlegte. Drei befreundete reformierte Freisinnige aus der östlichen Schweiz akzeptierten die Resultate der «kritischen Schule» um Kopp, wollten aber zugleich in positivem Sinn umfassende Darstellungen der Nationalgeschichte schaffen: Karl Dändliker (Geschichte der Schweiz, 1883-84), Johannes Dierauer (Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1887–1917; auf Französisch übersetzt 1910–1913) und Wilhelm Oechsli (Die Anfänge der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1891). Oechslis Werk wurde begleitet von einer verfassungsgeschichtlichen Studie zu den Bundesverfassungen. Sie stammte aus der Feder von Carl Hilty, der die Schweizergeschichte als «Sittenlehre in nationalhistorischem Gewand» betrachtete, die sich nicht nur über die «bloss legendäre Darstellung», sondern auch über die «unfruchtbare Gelehrsamkeit» erheben müsse, also über die kritische und insofern destruktive Schule, als sie den «längst vergangenen Dingen» kein neues Leben einhauche. Als Moral aus der von Hegel inspirierten Fortschrittsgeschichte, welche den schweizerischen, politischen Volksgeist über die blosse Bluts- und Sprachgemeinschaft der anderen Nationen erhob, postulierte Hilty für Zeitgenossen und Nachfahren: «Die politische Selbständigkeit eines freiheitlich organisierten Volkes ist jedem anderen Gute für immer vorzuziehen».32

In einer Zeit, in der nationale Schlachtenfeiern wie in Sempach (1886) Aufsehen erregten und in Zürich das Schweizerische Landesmuseum mit Ferdinand Hodlers Marignano-Fresken eingeweiht wurde (1898), unterzogen sich die Historiker dem volkspädagogischen Auftrag unterschiedlich stark. Dändliker versuchte, die Wissenschaft mit der volkstümlichen Überlieferung auf der Suche nach dem «Geist der Freiheit und Volksherrschaft» in Übereinstimmung zu bringen. Er weigerte sich, «alles Hergebrachte zu negiren», sondern beliess der Legende ihre Berechtigung, wenn er einen historischen Kern erkennen konnte.33 Den Befreiungssagen am entferntesten stand Dierauer, der auf der Basis der Eidgenössischen Abschiede eine nüchterne und präzise Ereignisgeschichte vorlegte, die sich patriotischen Bedürfnissen verweigerte, wenn diese die «sorglose Überlieferung des Volkes» nachsichtig behandelte.34 Diese Strenge war geboten, denn Dierauers Bände erschienen in einer deutschen Reihe zur Geschichte der europäischen Staaten neben vielen anderen Nationalgeschichten, sodass er sich an internationalen Standards messen lassen musste. Oechsli verwarf die Befreiungslegende ebenfalls, deutete aber die mittelalterlichen Schlachten mit klarem Gegenwartsbezug als Kampf von «Bürgern und Bauern» gegen die Adelsmacht.35 Erneut am stärksten bei Dändliker, aber allen gemeinsam war der kritische Blick auf das Ancien Régime als einer Zeit der konfessionellen Konflikte, der aristokratischen Willkür und politischer Fremdbestimmung. Der Bundesstaat erschien in diesen Fortschrittsnarrativen einerseits als Verwirklichung aufklärerisch-liberaler Postulate, andererseits aber auch als Rückkehr zur Anerkennung und zum Respekt, den die mittelalterlichen Eidgenossen erfahren hatten. Diese Geschichtsvision wirkte nicht zuletzt über Popularisierungen wie jene von Johannes Sutz, Schweizer Geschichte für das Volk erzählt (1899), oder Emil Frey, Die Kriegstaten der Schweizer dem Volk erzählt (1904). Freys Schilderung, «wie die wetterharten Bauern und Hirten des schweizerischen Berglandes um ihrer Freiheit willen zum Schwert greifen», war programmatisch für ein Genre, das in der mehrbändigen Schweizer Kriegsgeschichte (1915–1923) ihren Höhepunkte erlebte: Auf Anregung des Generalstabschefs der Armee stellten führende Historiker die Entwicklung von den Helvetiern bis 1914 aus der militärischen Perspektive dar.36

Das gemässigt freisinnige Geschichtskonzept, insbesondere Oechslis Fixierung von 1291 als Gründungsdatum, integrierten an zentraler, staatsbegründender Stelle die katholisch-konservativen Verlierer des Sonderbundskriegs, also namentlich die «Urschweiz». Die Sieger von 1847/48 erkannten ihnen diesen Ehrentitel zu und orchestrierten damit den 1891 erfolgten Eintritt der Katholisch-Konservativen in den Bundesrat. Ebenfalls im historischen Umfeld zu verstehen ist die Geschichte der schweizerischen Neutralität des Zürcher Staatsarchivars Paul Schweizer. Er reagierte damit 1895 auf die Wohlgemuth-Krise, einen Spionagefall, der Bismarck zu Ausfällen gegen die Schweiz und ihre aussenpolitische Maxime veranlasste. Im Bemühen, sie auch historisch zu legitimieren, deutete Schweizer nach intensiven Archivrecherchen die frühesten Belege etwa für das «Stillesitzen» als eidgenössische Form der Neutralität.

Die liberale Geschichtsvision erlebte Fortsetzungen und Aktualisierungen etwa durch den Zürcher Professor Ernst Gagliardi, wogegen die konkurrierenden politischen Lager sie kaum in Frage stellten. Die katholisch-konservativen Historiker mochten keine alternative Perspektive auf die Nationalgeschichte entwerfen. Autoren der mit Geschichtslehrstühlen gut ausgestatteten Universität Freiburg, namentlich Joseph Hürbin (Handbuch der Schweizer Geschichte, 1900/06) oder Gaston Castella (Histoire de la Suisse, 1928), setzten nur bei konfessionellen Themen andere Duftnoten als ihre reformierten Vorläufer um Dierauer. Die meisten katholischen Historiker blieben wie der Nidwaldner Robert Durrer in ihrem föderalistisch-konfessionellen Lagerdenken auf Figuren wie Bruder Klaus und Carlo Borromeo ausgerichtet. Eine Ausnahme war allein die reaktionär-ständestaatliche Geschichtsvision des Freiburger Patriziers Gonzague de Reynold (La démocratie et la Suisse, 1929). Auf der Linken schrieb der Sozialdemokrat Robert Grimm seine Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen nicht auf der Grundlage eigener Forschungen, sondern 1920 während seiner Haft nach dem Landesstreik. Er stützte sich vor allem auf Dändliker und Dierauer, doch betonte Grimm gegen die harmonisierende Sicht der Nationalgeschichte die vielen, oft gewaltsamen Konflikte als Motor der emanzipatorischen Entwicklung. Dazu zählte der Kampf der «Bauern» um 1300 gegen den «Adel», worin Grimm die liberale und konservative Narration übernahm. Auf eigenen Forschungen beruhte die Geschichte der Schweiz (1941) von Grimms Parteigenossen, dem Historiker und Nationalrat Valentin Gitermann. Es war ein aussergewöhnlicher Blick «ohne beschönigende Retouchen» auf die Nation, insofern der jüdische Flüchtling erst fünfjährig aus der Ukraine in die Schweiz gelangt war. Sein ausgewogenes Werk erntete neben Anerkennung auch scharfe Kritik, weil es nicht in der schweizerischen Geschichtsforschung wurzle und er die bündische Ausbildung des christlichen Volksstaats im Mittelalter nur eilig behandelt habe.37 Gitermanns materialistischer Ansatz, der grossen Persönlichkeiten sowie der Militär- und Geistesgeschichte wenig Raum widmete, galt als linke Methode. Das erklärt die Randstellung, welche die Wirtschafts- und Sozialgeschichte beibehielt, obwohl durchaus liberale Historiker wie William Rappard, Eduard Fueter oder Hans Nabholz in diesen Bereichen schweizergeschichtliche Beiträge leisteten. Sie verfassten allerdings keine Gesamtdarstellungen, und Erstere beide schrieben mit einem klaren Fokus nicht auf die mittelalterlichen Anfänge, sondern auf den Bundesstaat seit 1848.

Die Westschweizer schauten zwar gelegentlich mit föderalistischem Misstrauen, aber nach den Verwerfungen, die es im Ersten Weltkrieg zwischen den Sprachgruppen gegeben hatte, insgesamt sehr wohlwollend auf die Entwicklung vom Staatenbund zum und im liberalen Bundesstaat, der ihre Autonomie garantierte. Im Unterschied zu den Deutschschweizern beschrieben die Vertreter der Minderheit eher die Ausbildung staatlicher Strukturen in ihrem internationalen Umfeld denn die Entfaltung einer Nation aus sich selbst heraus. Von einem französischen «Joch» nach 1798 sprach aber auch der Journalist William Martin in seiner Histoire de la Suisse: Essai sur la formation d’une confédération d’états, die erstmals 1928 erschien und danach sehr oft neu aufgelegt wurde, für die neuere Zeit mit Ergänzungen von Pierre Béguin. Ähnliches gilt für die vielfach nachgedruckte Histoire de la Suisse (1944) von Charles Gilliard. Der liberal-reformierten, aber auch einer konservativ bernischen Tradition verpflichtet war die «Viermännergeschichte» von Hans Nabholz, Leonhard von Muralt, Richard Feller und Edgar Bonjour, womit erstmals Spezialisten die unterschiedlichen Epochenbeiträge schrieben. Nabholz war von diesen Autoren methodisch am differenziertesten und akzeptierte zwar die sagenhafte Überlieferung als «Verkörperung der Freiheitsidee», doch war ihm klar: «Unsere Darstellung von der Entstehung der Eidgenossenschaft weicht stark von dem Bilde ab, das jeder Schweizer von diesen Vorgängen lebendig vor Augen hat und das sich von Generation zu Generation weitervererbt.»38

Die Formulierungen zeigten bereits die Ausrichtung auch der Historikerzunft auf die Geistige Landesverteidigung der 1930er-Jahre. Die Diskrepanz zwischen dem Forschungsstand und den volkstümlichen Vorstellungen von der Schweizergeschichte war ihr bewusst. Doch der Appell an Freiheit und Opferbereitschaft hatte nichts Theoretisches, wenn ein völkisches Grossdeutschland im Norden drohte, von Süden der faschistische Irredentismus, der alle Italienischsprachigen in einem Staat vereinen wollte. Die Rede vom «Sonderfall» erfüllte nun eine existentielle Aufgabe. Sie legitimierte einen Staat, dessen Gemeinschaft nicht Blut und Sprache definierten, sondern Geschichte und, in Ernest Renans Worten, das alltägliche Plebiszit der Bürger. Die Einheit in der Vielfalt war in der Argumentation des federführenden Bundesrats Philipp Etter das Wichtigste: Viersprachigkeit, kulturelle Mittlerrolle, föderalistische Bundesstruktur, Gemeindeautonomie und Menschenwürde in einem christlichen Sinn. Gegenüber diesem Erbe der Alten Eidgenossenschaft traten die Errungenschaften von 1848 zurück: parlamentarische Demokratie, individuelle Freiheit und Gleichheit, eine liberale Wirtschaftsordnung. Definiert wurde der Sonderfall aussenpolitisch damit nicht nur in Abgrenzung zu den rechten und linken Totalitarismen, sondern auch zu den demokratisch legitimierten Volksfrontregimes in Frankreich und Spanien und den angloamerikanischen Modellen.

 

In gewisser Hinsicht hatte die schweizerische Historikerzunft Glück. Einer der Ihren, der Luzerner Katholik Karl Meyer, glaubte selbst an das, was er mit der Autorität eines Professors in Zürich verkündete: Die Befreiungserzählung einschliesslich der Tellensage war nicht Legende, sondern wahre Geschichte, und der einstige Widerstand genossenschaftlicher Kommunen gegen den fremden Adel gab das Modell für die Verteidigung des demokratischen Sonderfalls in der gegenwärtigen Bedrohung ab.39 Ähnlich erklärte der erwähnte Robert Durrer 1934 Winkelried gegen die «Pseudokritik des 19. Jahrh.» wieder zur historischen Figur.40 Dieser Rückschritt hinter Kopps hundert Jahre zuvor etablierte Quellenkritik provozierte klaren Widerspruch von fachkundigen Kollegen. Allein, Meyers Darlegungen fügten sich gut in die politische und gesellschaftliche Erwartungshaltung, dass die Vergangenheit Identität und Kontinuität stiften solle. 1941 beging der Bundesrat in diesem Geist zusammen mit General Guisan den 650. Geburtstag der Schweiz im kurz zuvor eingeweihten Schwyzer Bundesbriefarchiv, um in den ernsten Stunden die Verpflichtung gegenüber den Ahnen und ihr Vorbild zivil und religiös zu unterstreichen.

Die biografische Erfahrung der Kriegsjahre und vor allem des militärischen Aktivdiensts prägte die grosse Zahl von schweizergeschichtlichen Texten, die nach 1945 verfasst wurden und sich oft an ein weiteres Publikum wandten, so die Schriften von Georg Thürer, eines Schülers von Karl Meyer (Bundesspiegel. Werdegang und Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1948). Es fällt auf, dass viele der Autoren nach oder neben ihrer historiografischen Tätigkeit politische Ämter übernahmen und sich somit in doppelter Hinsicht vaterländisch-gouvernemental betätigten. Gottfried Guggenbühl (Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft, 1947/48) war Zürcher Erziehungsrat; Peter Dürrenmatt (Schweizer Geschichte, 1957)vertrat den Kanton Basel-Stadt im Nationalrat; von den Autoren der wiederholt aufgelegten Illustrierten Geschichte der Schweiz (1958–1961) wirkte Karl Schib kurz als Kantonsrat und Sigmund Widmer als langjähriger Stadtpräsident von Zürich. Sie fügten sich in eine lange Reihe von Parlamentariern und Bundesräten ein, die Werke zur kantonalen oder nationalen Geschichte verfassten, wenn auch nicht unbedingt Gesamtdarstellungen. Bei den Bundesräten führte diese Tradition von Emil Freys erwähnten Kriegstaten der Schweizer (1904) über Markus Feldmann, den Koordinator der genannten Schweizer Kriegsgeschichte (1915–1923), bis Georges-André Chevallaz (Le défi de la neutralité, 1995, deutsch 1997).41 Vom Widerstandsgeist gegen den italienischen Faschismus und Irredentismus geprägt waren Guido Calgari und Mario Agliati, die 1969 eine Storia della Svizzera vorlegten.

Ihre Hauptwirkung verdankte die Nationalgeschichte, welche die Geistige Landesverteidung der 1930er-Jahre in den Kalten Krieg transportierte, allerdings weniger der Geschichtsschreibung, selbst wenn sie volkstümlich präsentiert wurde, als dem Schulunterricht und den pädagogischen Schriften etwa des Schweizerischen Jugendschriftenwerks SJW (so 650 Jahre Eidgenossenschaft, 1941). Der Lehrplan für die Berner Primarschulen, der von 1947 bis 1982 gültig war, hielt fest: «Die nationale Aufgabe erfüllt der Geschichtsunterricht in unserem Vaterlande dann, wenn er zum guten Eidgenossen erziehen hilft. Zum guten Eidgenossen gehört das eidgenössische Bewusstsein. Dieses beruht auf einer gewissen Kenntnis der Wesenszüge unseres Staates und unserer Geschichte, aber auch auf einem Empfinden der Unterschiede zwischen uns und den andern.»42 In einem für den Schulunterricht verfassten Buch, Wir wollen frei sein wie die Väter waren, forderte Franz Meyer 1961, den historischen Vorbildern zu folgen: «Auch wir sind bereit, für unser Vaterland Opfer zu bringen, für das Heimatland auf etwas zu verzichten, dem Lande einen Dienst zu erweisen und für die Heimat zu beten. Nur so verdienen wir es, in einem freien Lande leben zu dürfen.» Meyer rettete die mittelalterlichen Legenden zumindest in ihrem didaktischen Kern: «Wir wissen, dass die mündliche Überlieferung Fehler und Ungenauigkeiten enthalten kann. […] Und trotzdem sind diese Geschichten wahr. Das Volk der Hirten stand auf, starke Landammänner führten es, und mutige Helden setzten ihr Leben ein für die Freiheit dieses Volkes.»43 In der Wissenschaft waren solche Positionen nicht mehr haltbar, nachdem der Zürcher Professor Marcel Beck das Vorgehen Karl Meyers und seiner Schule zerzaust hatte. Der Beck-Schüler und Schriftsteller Otto Marchi popularisierte den Kenntnisstand 1971 mit seiner Schweizer Geschichte für Ketzer.

In der Schule dagegen machte die heroische Verteidigung der Freiheit gegen die Habsburger und andere fremde Bedrohungen lange den Hauptteil des schweizergeschichtlichen Unterrichts aus. Die Moral aus der Masslosigkeit der Söldner und der Niederlage von Marignano war die Neutralität, die als aussenpolitischer Grundzug danach die Narration bestimmte, unterbrochen nur durch Napoleon, der die «Franzosenzeit» um 1800 repräsentierte. Die internen Gegensätze wurden gleichsam von der harmonischen Versöhnung her erzählt und aufgefangen: vom Stanser Verkommnis bis zum «Friedensabkommen» in der Metallindustrie von 1937. Die schweizergeschichtlichen Schulbücher begannen sich erst seit den 1970er-Jahren allmählich zu ändern. Die Schweiz wurde als Teil ihrer europäischen Umwelt vorgestellt, ihre Vergangenheit nicht auf das Militärische reduziert, und bei der Behandlung der Helvetik (1798–1803) kamen nun auch positive Aspekte zur Sprache.44

Diese Veränderungen fügten sich in einen allmählichen Wandel, der greifbar wurde, wenn sich Brüche im nationalen Geschichtsbild auftaten. Ein politischer Reflex bestand dann jeweils darin, dass der Bundesrat in der internationalen Tradition der «Weissbücher» historische Fakten von Fachleuten abklären liess.45 So verfasste der frühere Basler Regierungsrat Carl Ludwig 1957 einen nach ihm benannten Bericht über die schweizerische Flüchtlingspolitik im Krieg, als die offizielle Publikation der Akten zur deutschen auswärtigen Politik in der Bundesrepublik belegte, dass der J-Stempel in Pässen deutscher Juden 1938 auf schweizerische Anregung eingeführt worden war. Als weitere Aktenpublikationen und ein Buch des englischen Journalisten Jon Kimche die Neutralitätspolitik im Krieg in ein fragwürdiges Licht stellten, veranlasste die Landesregierung einen prominenten Zeitzeugen, den Basler Geschichtsprofessor Edgar Bonjour, seine Geschichte der schweizerischen Neutralität zu verfassen. Er erhielt ungehinderten Zugang zu den Archiven, doch der Bundesrat willigte in die Veröffentlichung des Berichts ab 1967 erst ein, nachdem Medien und Parlamentarier dies eindringlich gefordert hatten. Die letzten drei Bände, die für die Kriegszeit relevant waren, erschienen auch auf Französisch. Bonjour zeigte sich durchaus kritisch gegenüber einzelnen Aspekten der bundesrätlichen Politik im Krieg. Ihre Gesamtbeurteilung konzipierte er allerdings als folgerichtige Fortsetzung seiner schon früher verfassten Darstellung der schweizerischen Neutralität, die er – wie Paul Schweizer 1895 – möglichst früh, nämlich mit Niklaus von Flüe beginnen liess. So konnte er das Fazit aus den Kriegsjahren ziehen, dass die Neutralität nicht nur mitentscheidend gewesen sei für die Wahrung der Selbständigkeit, sondern dass die Verpflichtungen, die sich aus ihr ergaben, gegenüber dem Ausland erfüllt worden seien.46

Zu strengeren Urteilen kamen in denselben Jahren um 1968 eine wachsende Zahl von Journalisten und Schriftstellern wie Walter Matthias Diggelmann, Christoph Geiser, Max Frisch und Niklaus Meienberg, die ihre publizistischen Finger in die unheroischen Wunden der Kriegszeit legten.47 Die Historikerzunft griff diese heiklen Themen etwas später auf, in den 1980er-Jahren, nachdem die Sperrfrist im Bundesarchiv auf 35 Jahre reduziert worden war und ab 1979 die zahlreichen Bände der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (von 1848 bis 1945, gegenwärtig fortgesetzt bis 1989) das dort gesichtete Quellenmaterial gedruckt zugänglich machten. Autoren wie Werner Rings oder Jakob Tanner untergruben die Doktrin, dass die wirtschaftliche Kooperation mit dem Dritten Reich nur den Geboten der Not gehorcht hatte. Markus Heiniger behandelte 1989 Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde. Seine Antwort liess sich auf die Formel reduzieren: wirtschaftliche Dienstleistungen und militärische Bedeutungslosigkeit. Georg Kreis und Hans Ulrich Jost sprachen vom «Helvetischen Totalitarismus», um das Vollmachtenregime und den Geist der Kriegsjahre zu charakterisieren.

Aufsehen erregte dies auch deshalb, weil Jost diese Formulierung 1983 im Referenzwerk Geschichte der Schweiz und der Schweizer wählte. Es wollte das solide, aber stark ereignis- und verfassungsgeschichtlich angelegte Handbuch der Schweizer Geschichte (1972/1977) ergänzen, wenn nicht sogar ablösen. Ausländische Einflüsse, vor allem das Modell einer «histoire totale» im Sinn der französischen Annales-Schule, prägten das Konzept der Geschichte der Schweiz und der Schweizer, die auf Deutsch, Französisch und Italienisch erschien. Sie wertete die politische und militärische Geschichte der «grossen Männer» ab zugunsten der langfristigen Entwicklungen, die den Alltag der «normalen Menschen» bestimmten und möglichst mit quantitativen Quellen und statistischen Methoden erfasst wurden: Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaft, sozialer Wandel, Mentalitäten. Für viele dieser Phänomene war der Nationalstaat Schweiz nicht der geeignete Darstellungsrahmen, weil es zwischen den Landesteilen sehr viele Unterschiede gab. Die Verschiebung der Erkenntnisinteressen trug dazu bei, dass die Nationalgeschichte im folgenden Vierteljahrhundert erheblich an Bedeutung verlor. Für eine «histoire totale» eigneten sich die Kantone besser, deren Geschichte zum Gegenstand eines eigentlichen Wettbewerbs um die gründlichste Erforschung und höchststehende Präsentation wurden. Sie integrierten weitere neue Ansätze, etwa die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beatrix Mesmer war eine Mitherausgeberin der Geschichte der Schweiz und der Schweizer, doch Beiträge aus weiblicher Hand zu schweizergeschichtlichen Gesamtdarstellungen finden sich erstmals im Handbuch Die Geschichte der Schweiz, das Georg Kreis 2014 herausgegeben hat.

Praktisch alle diese neuen Schweizer- und Kantonsgeschichten umfassten mehrere Bände, in denen Experten die jeweiligen Epochen behandelten. Diese Spezialisierung war wie die neuen inhaltlichen und methodischen Interessen ein Zeichen dafür, dass die schweizerischen Geschichtswissenschaftler Anschluss an internationale Entwicklungen fanden. Schweizergeschichte war nicht mehr ein Geschäft für sich, das als Entfaltung der Nation über die Jahrhunderte hinweg verfolgt wurde, sondern unterteilte sich mit einem vergleichenden Blick auf ausländische Forschungen in eigenständige Epochen. In der universitären Lehre und in ihren Prüfungen waren nicht unbedingt Themen aus der Schweiz stark rückläufig, wohl aber solche der Nationalgeschichte. Der Internationalisierung entsprach es, dass die Zeitschrift für schweizerische Geschichte schon 1951 einen neuen Namen erhielt: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Das Historische Lexikon der Schweiz, welches das Historisch-Biographische Lexikon der Schweiz (1921–1934) ablöste und von 2002 bis 2014 in drei Landessprachen erschien, behandelte nicht nur die vielen Personen und Orte im Land, sondern präsentierte in Sachartikeln Phänomene, die bereits im Ausland Gegenstand der Forschung geworden waren.

Wie stark sich das populäre Geschichtsbild und die universitäre Forschung auseinandergelebt hatten, zeigte sich 1986 beim Jubiläum der Schlacht bei Sempach, dann 1989, im Umfeld des Mauerfalls und der Armeeabschaffungsinitiative, und 1991 bei der Jubiläumsfeier «700 Jahre Eidgenossenschaft», die in ihrer ursprünglich geplanten Form scheiterte. 1995 wurde die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg gar zum Thema internationaler Polemiken. Vor allem Amerikaner formulierten Anschuldigungen über die schweizerische Kollaboration mit Nazideutschland, die zum Teil aus der Luft gegriffen waren und zum Teil auf solider Quellengrundlage beruhten. Dazu gehörte kaum etwas, was den Fachleuten nicht bekannt gewesen wäre. Aber weite Kreise, nicht zuletzt viele Angehörige der Aktivdienstgeneration, die damals Militärdienst geleistet hatten, empfanden die Weltkriegsdebatte als Demütigung der Schweiz und ihrer Leistungen im Weltkrieg. Der Bundesrat setzte erneut eine Kommission zur «historischen Wahrheitsfindung» ein, die von Jean-François Bergier geleitet wurde. Sie legte 2002/03 in zahlreichen Einzeluntersuchungen und einem Schlussbericht ihre Einschätzung vor, wie sich die Schweiz, namentlich ihre Unternehmen und der Finanzplatz, verhalten hatte. Die Konfrontation mit dem Forschungsstand führte zu heftigen öffentlichen Debatten: «Junghistoriker» erschienen den einen als besserwisserische «Nestbeschmutzer» und marxistische «Schweizhasser», während die anderen forderten, endlich mit den Geschichtsmythen aufzuräumen.48

 

Geschickt nutzten vor allem die Schweizerische Volkspartei (SVP) und ihre Schwesterorganisation, die Aktion für eine neutrale und unabhängige Schweiz (AUNS), das vergangenheitspolitische Thema, das viele als Frage der nationalen Ehre ansahen. Ihr Anführer Christoph Blocher ordnete die Auseinandersetzung um Entschädigungszahlungen und deren Gegenstand in den jahrhundertelangen Widerstand gegen Aggressoren und in diesem Fall «Erpresser» aus dem Ausland ein. Diese Argumentation fügte sich gut in das rhetorische Abwehrdispositiv, das die Nationalkonservativen bereits gegenüber dem Europäischen Wirtschaftsraum (1992) und gegenüber der Europäischen Union pflegten, in der sie eine zentralistische und imperialistische Grossmacht erblickten. Diese Überzeugung ergab sich nicht aus neuen historischen Publikationen oder eigenständigen Forschungen. Im Gegenteil, die Nationalkonservativen wiederholten bloss, aber mit anhaltendem Erfolg die Kernelemente des Geschichtsbilds, wie es im Kalten Krieg für die politischen Parteien bis weit in die Linke hinein und für grosse Teile der Bevölkerung Gültigkeit gehabt hatte. Einleitend zu den hier folgenden Kapiteln wird diese Position jeweils durch ein Zitat der beiden SVP-Bundesräte Christoph Blocher oder Ueli Maurer illustriert. Es bildet den Ausgangspunkt zu den folgenden Überlegungen, ob und wie weit die schweizerischen Heldengeschichten der historischen Überlieferung entsprechen und angemessene Modelle für die Zukunft liefern.

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