Arkadiertod

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»Die klassischen Symptome: unnatürlich rote Lippen, erweiterte Pupillen, Herzrasen, das dann in eine totale Verlangsamung des Herzschlags übergeht … Schon im Mittelalter war Eibengift sehr beliebt. Das Gift der Eibe ist stärker als das Gift des Fingerhuts, unserer bekanntesten Giftpflanze.

Es ist kein unbekanntes Gift, obwohl es in den letzten Jahrzehnten von den modernen Giften Cyankali und Strychnin abgelöst worden ist. Es gibt ja auch kaum noch Eiben. Die wenigen frei wachsenden Eiben stehen unter Naturschutz. Meist findet man sie noch in alten Parkanlagen …«

»Ja, in Glienicke wachsen auch noch welche. Am Sanctuarium stehen ein paar hübsche Büsche.«

»Du meinst, die könnten vor Ort …?«

»Naja, ganz so abwegig ist das nun auch nicht. Haben die Arkadier denn überlebt?«

»Vier sind gestorben, da war das Gift bereits zu weit im Organismus verbreitet, acht liegen noch auf der Intensivstation im Virchow-Klinikum. Sie haben gute Chancen, durchzukommen.«

»Habt ihr schon erste Befragungen …?«

»Nein, es sind nicht mehr die jüngsten. Alle stehen mehr oder weniger unter Schock. Die Kellner und Köche vom Schlossrestaurant haben wir befragt. Keiner wusste etwas. Ach so, das Gift war in konzentrierter Menge im Glühwein gewesen. Der bittere Geschmack des Gifts wurde vom starken Gewürzgeschmack und dem vielen Zucker neutralisiert. Die vier Toten hatten wohl dem Glühwein etwas mehr zugesprochen. Alle anderen hatten nur einen Becher davon getrunken.«

»Seltsam. Wer hat denn Interesse daran, so eine harmlose Truppe aus dem Weg zu schaffen? Waren das Geheimbündler? Oder haben sie Antiquitäten geschmuggelt, mit Drogen gedealt? Und wieso solch ein mittelalterlicher Giftmord? Gibt es da nicht effizientere Methoden?«

»Mein Gott, Theo! Wir sind noch ganz am Anfang. Vielleicht ist alles auch nur ein großes Missverständnis. Natürlich haben wir uns das auch schon gefragt. Wer weiß, vielleicht hat jemand Eibensamen als Gewürz mit in die Glühweinzutaten gemischt … Wir wissen es noch nicht. Aber wir sollten uns heute Abend nicht mit so etwas Unerquicklichem wie Giftmord befassen. Morgen ist Weihnachten!«

Linthdorf nickte und entgegnete zum Abschluss: »Mir doch egal, geh sowieso nicht hin.«

Dann prostete er seinem alten Freund Voßwinkel zu und schlürfte den Williams-Christ-Birnengeist genießerisch aus dem langstieligen Glas, den die pummelige Kellnerin zwischendurch an den Tisch gebracht hatte.

Manch Bild aus früherer Zeit bleibt unverhangen,

den kühlen Platz am Teich noch stets im Sinn.

Ob sie je kam?

Ich sah sie wohl nie lächeln.

Wie Lotos blüht mir auf das Wort: dahin.

Qi Bai Xi 1935

II

Berlin, Friedrichshain

Sonntag, 24. Dezember 2006

Heiligabend! Aus dem Radio dudelte heiter Besinnliches. Linthdorf saß in seiner Küche und knabberte eine Möhre. Neben ihm auf dem zweiten Küchenstuhl hatte es sich seine buntgescheckte Katze gemütlich gemacht. Sie beobachtete ihren großen Gönner aufmerksam, immer darauf hoffend, etwas Nahrhaftes oder Wohlschmeckendes vom großen Tisch abzubekommen.

Ein Blick auf die Uhr genügte.

Linthdorf lehnte sich entspannt zurück. Es war erst halb Neun. Draußen dämmerte der Tag vorsichtig heran. Ein Blick aus dem Fenster reichte aus, um die Stimmung zu dämpfen. Nein, auch dieses Jahr wollte es nicht so richtig klappen mit der weißen Weihnacht. Bleigrau präsentierte sich der Tag. Das heiter besinnliche Musikprogramm im Radio wechselte in ein süßlich-kitschiges Geplärre. Entnervt drückte Linthdorf die Austaste. Just in diesem Moment ertönte ein vertrautes Klingelzeichen.

Missmutig trollte er sich Richtung Flur. Maunzend folgte ihm die Katze. Das Klingelgeräusch ertönte aus der Garderobe. Dort hing Linthdorfs Mantel. Endlich hatte er das Handy aus der Innentasche des Mantels hervorgeholt, das Klingeln war inzwischen verstummt. Ein Blick auf das Display genügte, um Linthdorfs Stimmung vollständig auf null zu fahren.

Es war seine Dienststelle in Potsdam. Eigentlich hatte er noch frei. Seit drei Wochen war er im Urlaub, besser gesagt: er bummelte Überstunden ab. Dank des letzten Falls hatten sich so viele Überstunden angesammelt, dass Linthdorf noch bis in die erste Januarwoche des nächsten Jahres frei hatte. Auch ein paar Tage Resturlaub konnte er mit anhängen.

Sein Posten als Leiter einer temporären Sonderkommission war ausgelaufen. Die SoKo löste sich wieder auf. Steuerfahnder, Computerexperten und Kriminalisten, die allesamt in dieser SoKo tätig waren, hatten genug Material, um damit für Monate die Auswertung voranzutreiben.

Linthdorf zögerte einen Moment, bevor er die Rückruftaste drückte. Er ahnte, dass sein Urlaub wahrscheinlich vorzeitig beendet sein würde. Aber vielleicht war es ja gut, den Kopf mit etwas Anderem zu füllen als dieses ständige Hoffen und Harren an Louises Krankenbett.

Aus dem kleinen Gerät ertönte eine leicht gereizte Stimme. Nun war es zu spät. Linthdorf räusperte sich und nannte seinen Namen.

Es war Nägelein, genauer Kriminaloberrat Dr. Nägelein, Dienststellenleiter und direkter Vorgesetzter Linthdorfs.

»Sagen Sie mal Lintdorf, wie lange haben Sie denn noch Urlaub? Wir backen hier im Moment ganz kleine Brötchen! Alles meldet sich zum Weihnachtsurlaub ab, trifft irgendwelche lang verschollene Onkel und Tanten und hat schon lange vorab Reisen in die Alpen oder an die Ostsee gebucht. Ich sitze hier fast ganz allein herum!!!«

»Frohe Weihnachten, Chef. Wo brennt’s denn?«

»Haha, frohe Weihnachten!!! Ihren Humor möchte ich einmal haben! Überall brennt es! Überall!!!«

»Herr Doktor Nägelein, Sie haben mich doch nicht wegen dieser lapidaren Nachricht am Heiligabend angeklingelt. Also, was ist denn so dringend …«

Er konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Ein Wortschwall folgte, dem Linthdorf nur wenig Konstruktives entnehmen konnte. Das rheinische Temperament seines Chefs war wieder einmal mit ihm durchgegangen.

Linthdorf waren die Wortkaskaden schon vertraut. Das Wortgewitter war vorüber. Es ging um einen Todesfall in einem Obstgroßlager.

Man hatte in einer Apfelmiete eine Leiche gefunden. Die Umstände des Auffindens und die Bekleidung der Leiche hatten bei der herbeigerufenen Streifenpolizei Alarm ausgelöst. Die Kollegen riefen umgehend beim LKA an. Nägelein hatte sich bereits auf ein beschauliches Weihnachtsfest eingestimmt, als ihn der Anruf erreichte. Außer ihm und der Sekretärin war die Dienststelle nicht besetzt. Nägelein selbst hatte schon seit Jahren keinen Außeneinsatz mehr geführt und die arme Sekretärin wäre wohl deutlich überfordert mit so einem Leichenfund …

Linthdorf atmete tief durch. Das war’s! Er würde diese undankbare Aufgabe wohl oder übel übernehmen müssen.

»Wo ist das Ganze denn passiert?«

»Mensch, Linthdorf! Das vergesse ich Ihnen nicht, dass Sie mir aus der Patsche helfen.«, Nägeleins Stimme bekam jetzt sogar einen freundlichen Klang.

»Ja, also draußen in Werder. Werder an der Havel. Kennse doch! Ach, wieso erkläre ich das überhaupt. Fahrnse einfach los. Ich schick Ihnen alles Wichtige per SMS rüber.« Dann legt er auf.

Linthdorf schüttelte nur den Kopf. Er hatte seine Probleme mit dieser Art der Kommunikation, aber letztendlich blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich mit Nägelein halbwegs zu arrangieren. Immerhin war er sein Chef.

Es war inzwischen halb Zehn geworden. Wenn er Glück hatte, war die gesamte Tatortbesichtigung mitsamt Zeugenbefragung vor Ort bis zum Nachmittag gelaufen und er konnte sich der Bescherung bei seinen beiden Söhnen widmen. Er überlegte noch kurz, ob er sie anrufen sollte.

Immerhin, es könnte ja später werden. Aber dann entschied er sich, erst einmal loszufahren. Vom Friedrichshain brauchte er eine knappe Stunde bis Werder.

Heute war bestimmt wenig Verkehr, da alle Berliner sich schon auf den Heiligabend vorbereiteten.

»Mieze, ich muss los! Benimm dich ordentlich und lass keinen rein. Ist das klar? Auch keine Pakete annehmen und nicht sinnlos durchs Fernsehprogramm zappen!«

Damit verließ er die verdutzt dreinschauende Katze, die während des ganzen Telefonats vor ihm saß und ab und an ein Miau von sich gab.

Das preußische Arkadien …

ist eigentlich keine geographisch exakt festgelegte Region. Mit etwas Fantasie könnte man die Gegend rings um Potsdam, entlang der Havel bis hinein nach Berlin dazu zählen.

Die arkadischen Gefilde sind wie kleine Inseln in die brandenburgische Landschaft eingebettet. All diese Schlösser, Paläste und Parks wurden von den ehrgeizigen Hohenzollern und ihren genialen Bau- und Gartenmeistern erschaffen.

Fast dreihundert Jahre hat es gedauert, bis sich die märkischen Sumpfwiesen in elysische Parkauen verwandelten. Wer heute diese Gegend an der Unterhavel besucht, bekommt eine ziemlich genaue Vorstellung, warum diese einmalige Kulturlandschaft das preußische Arkadien genannt wird.

III

Phöben bei Werder/Havel

Sonntag, 24. Dezember 2006


Nägelein hatte Linthdorf nach Phöben geschickt, einem kleinen Dorf am Schwielowsee, das offiziell zur Stadt Werder gehörte. Die Verwaltungsstrukturen in Brandenburg hatten die Behörden optimiert. Alle kleinen Ortschaften wurden zu großen Gemeindeverbänden zusammengeschlossen oder den nächstliegenden Städten als Ortsteil angegliedert.

 

Manche Städte hatten so eine Verdoppelung ihrer Einwohnerzahl und eine Vervielfachung ihrer Fläche bewerkstelligen können. Dem Städtchen Werder hatte man kurzerhand fast alle kleinen Schwielowsee-Dörfchen eingegliedert. Neben Phöben gehörten nun die vormals unabhängigen Orte Glindow, Töplitz, Kemnitz, Plötzin, Plessow, Bliesendorf, Petzow und Derwitz zu Werder.

Das Städtchen Werder hatte zu DDR-Zeiten knapp zehntausend Einwohner, dank der Eingemeindungen hatte sich Werder zu einer beachtlichen Größe von über 23 000 Einwohner aufplustern können. Verwirrend war nun natürlich, dass man sich auf einer Fläche, die fast zehn Mal so groß war wie zuvor, auf Stadtgebiet befand, auch wenn nirgends ein Haus zu sehen war oder nur ein verlorener Außenposten die Illusion der Stadt erzeugte.

Linthdorf wusste von dieser eigenartigen Verwaltungsstruktur, allerdings schien sein Chef sehr wenig damit vertraut zu sein.

Phöben lag ein paar Kilometer abseits vom eigentlichen Werder. Die angegebene Adresse war noch einmal außerhalb von Phöben, mitten in den Obstplantagen, die jetzt im Dezember verlassen und trist aussahen. Linthdorf mochte diese eigenartige Kulturlandschaft mit den tausenden Apfel-, Kirsch- und anderen Obstgehölzen, die in langen Reihen die sanften Hügel um den Schwielowsee bedeckten.

Sogar Weinreben waren hier wieder heimisch geworden. Direkt bei Phöben befand sich der Wachtelberg, der inzwischen wieder als Weingut offiziell von sich reden machte. Der Kommissar war kein Kostverächter, kannte die leichten und spritzigen Weißweine aus Werderaner Anbau und schätzte sie auch.

Sommers war er öfter hier und kehrte auch gern in eine der vielen, neu entstandenen Gastwirtschaften ein, die den einheimischen Wein protegierten.

Doch jetzt im tiefsten Dezember war von der Leichtigkeit und Geselligkeit des Sommers nichts mehr zu spüren. Ein kalter Nieselregen piesackte die Haut und der Wind hatte zugenommen und pfiff ihm mit einem unangenehmen Geräusch um die Ohren.

Endlich sah er die große Lagerhalle, die inmitten einer großen Obstplantage stand. Ein paar Trecker standen in Reih und Glied vor dem Bau. Berge leerer Mieten stapelten sich direkt gegenüber. Linthdorf lief in ihrem Windschatten so schnell wie möglich zur Lagerhalle. Direkt am Eingang parkte ein Streifenwagen der örtlichen Polizeidienststelle.

Linthdorf passierte eine Art Luftschleuse bevor er ins Innere der Lagerhalle kam. Im Innern war es ungewöhnlich kühl. Ihm fröstelte. Da waren ja die Außentemperaturen noch angenehm wohlig warm dagegen. Nur der Wind fehlte. Dafür vernahm Linthdorf das ruhige Summen von Kühlaggregaten, die für Kälte sorgten.

Schmale Gänge zwischen mit Folien verhangenen Abteilen, die voller gestapelter Apfelmieten waren, verhießen ein verwirrendes Labyrinth. Gerade als er auf gut Glück den erstbesten Gang entlang schleichen wollte, kreuzte ein junger Polizist in Uniform vor ihm auf. »Sind Sie der …?«

»Ja, genau der bin ich. Wo liegt denn Ihre Leiche?«

Der Polizist musste schlucken. »Also, so was hat man ja auch nicht alle Tage. Also, das könnense mir glauben, das is schon … Nee, also, so Verkehrsunfälle und Badeunfälle, ja, das is … Aber so was, da bin ich …«

Linthdorf musterte den jungen Beamten. Auf seiner Uniform hatte er die Rangabzeichen eines Anwärters. So viel Schlimmes konnte er noch nicht erlebt haben.

Etwas mitfühlend klopfte Linthdorf dem jungen Mann, der höchstens Mitte Zwanzig war, auf die Schulter. »Na, dann wollen wir mal.«

Der Riese hatte etwas Probleme, dem behänden jungen Polizisten zu folgen. Der sprang wie aufgezogen durch die schmalen Gänge.

Schließlich erreichte das ungleiche Paar den Fundort. Eine mehrfach mit Folien geschützte Sektion voller Apfelmieten über der sich drei weitere stapelten. Die roten Äpfel glänzten wie frisch poliert. Linthdorf sah im ersten Moment nur die Früchte, die bei ihm einen plötzlichen Appetit auslösten.

Äpfel mochte er sehr. Aber jetzt war er hier wegen einem Leichenfund. Ob es sich dabei um ein Verbrechen oder um einen Unfall handelte, hatte er in den nächsten Minuten zu entscheiden.

Ein zweiter, deutlich älterer Polizist in Uniform stand etwas unschlüssig herum. Neben ihm ein nervös dreinschauender Glatzkopf und eine Frau mit modischem Kurzhaarschnitt. Alle schienen schon eine Zeitlang hier zu warten. Man sah ihnen den Kälteaufenthalt an. Die Gesichtsfarbe tendierte zu einem blassen Weiß.

Linthdorf nickte in die Runde und stellte sich kurz vor. Er schüttelte allen Anwesenden die Hand und erfuhr so, wer die hier versammelten Leute waren. Der Uniformierte stellte sich als Polizeiobermeister Lurz vor, der nervöse Kahlkopf war der Besitzer der Obstplantage und auch der Lagerhalle. Er nickte nur kurz und nannte seinen Namen: »Malzbrandt, Werner Malzbrandt!« Die Frau klimperte mit ihren falschen Wimpern, hüstelte etwas gewollt und ließ dann eine erstaunlich tiefe Altstimme ertönen: »Dorothea Bunzmann-Höll, ich bin die Sekretärin von Herrn Malzbrandt.«

»Und wo ist die Leiche?«

»Da!«

»Wo?«

»Na da!«

Ungläubig folgte Linthdorf dem Fingerzeig der Sekretärin, die auf die Apfelmiete direkt vor ihm wies. Dann sah er den Arm, der seitlich aus der Folienabdeckung der Äpfel ragte. Die fünf Finger waren gespreizt, schienen einem älteren Mann zu gehören. Der Arm war von einem Ärmel umhüllt, der zu einem Anzug gehören könnte.

Linthdorf kratzte sich am Kopf. So etwas hatte er nicht erwartet. Mindestens sieben Zentner bester Lageräpfel türmten sich über der Leiche. Er überschlug im Kopf, wie lange es wohl dauern würde, die Äpfel wegzuräumen um an den darunterliegenden Körper zu kommen.

Heiligabend konnte Linthdorf vergessen. Auch die beiden Polizisten ahnten, dass eine Menge Arbeit auf sie zukommen würde.

»Okay, dann wollen wir mal … Wer hat denn die Leiche gefunden?«

Malzbrandt meldete sich. »Det war ick!«

»Und? Wann war das?«

»Na heute früh. Ick hab jestan noch nen dicken Auftrach rinbekommen. Fuffzehn Zentner Undine nach Holland.«

»Undine?«

»Kuchenäppel. Beste Kuchenäppel. Eijentlich viel zu schade für die Holländer. Die wollen die sowieso bloß mosten. Zu Saft verwerten. Schade drum. Aba die zahln jut. Na, is ja nu auch ejal.«

»Okay, Sie haben also nachsehen wollen, ob genügend Äpfel bereitstehen? Verstehe ich das richtig?«

»Ja.«

»Und? Was passierte dann?«

»Ja. Dann bin ick zu die Undineäppel. Weil die imma hinta die Elstar und die Granny Smith steh‘n. Wern normalaweise erst spät in nen Handel jebracht. Also erst imma so in Februar. Un die Hollända wolln die schon noch Anfang Januar. Ja, un da hab ick dann den Arm jeseh’n, wie der da so raushing.«

»Der ist doch nicht erst gestern da reingekommen?«

»Nee, nee, der wird wohl schon ne Zeitlang da drinne sein, der Tote. Naja, is ja kalt jenuch. Un die Äppel hier im Laga sin ja alle uff CA, det macht se haltbarer. Also, der Tote dürfte daher ooch uff CA sin. Hia die Undines hab ick sojar uf ULO. Det hat den Toten bestimmt mit konsaviert. Nehm ick ma an …«

»CA? ULO? Können sie mal kurz erklären, was das ist?«

»Na, die Äppel müssen doch scheen knackich un saftich blei’m. Da hat ma ein schlauer Mensch sich wat einfallen lassen und ne optimale Lagerung entwickelt. Det nennt man CA. Wat englischet: controlled atmosphere. Auf jut deutsch: die Äppel komm in so ne Art Schutzatmosphäre mit wenich Sauastoff un ville Stickstoff und Kohlendioxid, dazu die Temparatur runta uff maximal ein bis vier Grad. So wird ihr Reifeprozess extrem verlangsamt und die Biesta blei’m frisch.«

»Und was ist ULO?«

»Ooch wat englischet: Ultra Low Oxygen. Also, det jibt et noch nich so lange. Da würd der Sauastoff uff unta ein Prozent herabjesetzt und det Kohlendioxid dafür uff fünf Prozent hochjefahrn, Rest is Stickstoff. Macht ma bei jute Lagaäppel, die bis weit ins Frühjahr frisch blei’m. Det kann ma hia mit die Adsorbers und Konverters janz jenau einstell’n.« Dabei zeigte er auf ein paar große Metallkästen, die mit Displays ausgerüstet waren.

»Aha.«

Linthdorf zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zusammen. Wenn die arme Seele, die hier unter den Äpfeln begraben lag, noch gelebt haben sollte, war die Vorstellung eines Erstickens in der ULO-Lagerung nicht gerade angenehm. Aber welcher unnatürliche Tod war schon angenehm. Es galt vorerst zu klären, wer der Tote in den Äpfeln war und woran er gestorben war. Linthdorf telefonierte kurz mit Potsdam.

»Okay, und nun gehen wir hier alle erst mal raus. Die Kollegen von der Technik kommen gleich und kümmern sich.«

Dann wandte er sich an Malzbrandt. »Gibt es hier irgendwo einen warmen Platz? So etwas wie ein Büro oder einen Verkaufsraum?«

Die Sekretärin, sichtlich erleichtert aus dem kühlen Apfellager herauszukommen, nickte eifrig. »Wir haben hier ein kleines Büro. Das ist auch beheizt und man kann sich setzen.«

Linthdorf, Malzbrandt und die beiden Streifenpolizisten folgten der resoluten Dame. Am anderen Ende der riesigen Lagerhalle wartete ein kleines, einstöckiges Häuschen. Es war einer dieser typischen Fertigteilbauten, die man auch auf den Baustellen sah. Schmucklos, funktional, praktisch.

Im Innern war es jedoch erstaunlich gemütlich und geräumig. Umständlich hatte die Sekretärin mit ihrem klappernden Schlüsselbund die Tür geöffnet. Ihre klammen Finger machten das Aufschließen zu einer zeitraubenden Übung.

Es roch etwas muffig im Innern, war aber angenehm warm. Ein kleines Plastikweihnachtsbäumchen auf dem Schreibtisch wies auf das beginnende Fest hin. An der Wand prangte ein Kalender, der viele handschriftliche Einträge aufwies.

»Ich mach uns erstma nen Kaffe. Oda? Herr Malzbrandt? Ooch noch Plätzchen?«

Damit begann sie wie aufgezogen in dem Büro herum zu flitzen und Tassen, Teller, Zuckerdose, Löffel und Sahnenäpfchen zu verteilen. Die Männer hatten sich auf den Stühlen niedergelassen.

Es herrschte eine angespannte Stille. Jeder erwartete, dass einer der Anwesenden zu sprechen anfing. Nur Linthdorf blickte entspannt in die Runde. Er hatte sich eines der Zimtsternchen von dem Plätzchenteller genommen und verspeiste es mit ziemlichem Appetit.

Die Streifenpolizisten waren von dem Anblick des aus der Apfelmiete ragenden Arms mit den im Todeskampf erstarrten Fingern paralysiert. Malzbrandt zupfte nervös an seiner wattierten Jacke herum.

»Na, Herr Kommissar? Sie müssen uns doch befragen, oda? Das ist doch imma so bei die Krimis im Fernseh’n«, die dunkle Altstimme der Sekretärin durchbrach die Stille.

Linthdorf lächelte. »Ja, Sie haben Recht. Ich muss mir aber erst einmal selbst über die Situation ein Bild machen. Alles etwas absurd, nicht wahr?«

Alle nickten.

»Da findet man zu Heiligabend einen unter Zentnern von besten Kuchenäpfeln begrabenen Menschen. Keiner kann sagen wie und wann er dahin gekommen ist. Aber er ist nun mal da. Wie er genau gestorben ist, wissen wir noch nicht und das werden wir hier und jetzt wohl auch nicht klären können. Ob es ein Unfall war, oder ob da jemand nachgeholfen hat, das wird sich alles klären. Nur wir werden dieses Rätsel hier und jetzt nicht lösen.«

Wieder nickten alle.

Die Sekretärin goss voller Begeisterung den frisch gebrühten Kaffee in die Tassen.

Linthdorf trank einen winzigen Schluck und seufzte. »Tja, meine Herrschaften, da werden wir mal ein Protokoll anfertigen müssen und darauf hoffen, etwas Licht in die ganze Angelegenheit bringen zu können. Wir warten jetzt noch auf die Leute von der Technik und dann … Es ist Heiligabend. Wir sollten uns doch lieber mit etwas Anderem beschäftigen.«

Verwundert sahen die Streifenpolizisten auf den LKA-Mann. Sie hatten bereits den Tag abgehakt. Sollte dieser Kriminalist nicht den Ehrgeiz haben, den Todesfall so schnell wie möglich aufzuklären? Auch Malzbrandt wirkte eher verwirrt. Er erwartete da etwas mehr Enthusiasmus.

Draußen fuhren die Transporter der Kriminaltechnik vor. Ein leichter Schneeregen hatte eingesetzt und überzog die Gegend mit einem tröstlichen Hauch von Weiß.

IV

Abendnachrichten des rbb

Sonntag, 24. Dezember 2006

Kommen wir zu den Nachrichten aus der Region. Am heutigen Vormittag ereigneten sich fünf Verkehrsunfälle auf den Autobahnen und Fernverkehrsstraßen. Personenschäden waren nicht zu beklagen. Und hier noch eine traurige Nachricht zum Heiligabend.

 

Bei einer Routineuntersuchung wurde in einem Apfellager in Phöben bei Werder die Leiche eines unbekannten Mannes gefunden.

Näheres über die Todesursache konnten die ermittelnden Behörden noch nicht mitteilen. Ein Polizeisprecher erwähnte, dass ein Fremdverschulden nicht auszuschließen sei. Gegenwärtig ermitteln die zuständigen Behörden in alle Richtungen.

So, und nun wieder zu etwas Freundlichem. Die Weihnachtsfeiern in den Brandenburger Seniorenheimen waren auch dieses Jahr ein willkommener Höhepunkt …

V

Potsdam, Landeskriminalamt

Montag, 25. Dezember 2006

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags war die Innenstadt von Potsdam vollkommen ausgestorben. Linthdorf stand am Fenster seines kleinen Büros und starrte hinaus in den trüben Morgen.

Die Abteilung wirkte ziemlich verlassen. Wo sonst das rege Hin und Her der Kollegen und das dauernde Telefonklingeln für einen ständigen Lärmpegel und Geschäftigkeit sorgten, war jetzt gespenstische Stille. Wieso er an diesem Feiertag in sein Potsdamer Büro gefahren war, hatte er im Moment verdrängt. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf. Weihnachten war schon lange nicht mehr sein Fest.

Gestern am späten Nachmittag war er wieder in seiner Friedrichshainer Wohnung eingetroffen. Die Abwicklung des Leichenfundes war für ihn Routine. Er hatte alles Notwendige eingeleitet, um den Fundort zu sichern und die Techniker mit der Bergung der Leiche beauftragt, die Zeugenprotokolle aufgenommen und war so gegen Zwei Uhr Richtung Berlin gefahren.

Um Fünf kamen seine beiden Jungs vorbei. Geschenke abholen. Linthdorf hatte für sie einen großen Berg bunt eingepackter Pakete vorbereitet. Er wusste über die Vorlieben seiner Söhne Bescheid. Sein Großer war ein begeisterter Lego-Bastler, der kleine hingegen ein Bücherwurm. Beide mochten Süßigkeiten und freuten sich ebenfalls über Brettspiele, am meisten über komplizierte Strategiespiele, in denen es darum ging, in stundenlanger Geduldsarbeit ganze Königreiche zu erbauen.

Linthdorf spielte gern Brettspiele. So nach und nach hatte sich in einer Ecke seines Wohnzimmers eine stattliche Sammlung dieser Spiele aufgestapelt. Da gab es Klassiker, wie »Monopoly«, »Die Siedler von Catan«, »Das verrückte Labyrinth« oder »Carcassonne«, exotische Spiele, die lange Vorbereitungszeiten erforderten um sie wirklich spielen zu können, wie etwa das verwirrende »Erebus«, ein Spiel, das in die finstersten Winkel der griechischen Unterwelt führte, oder »Eurotrucker«, was mehr eine Mischung aus »Mensch ärger‘ dich nicht« und »Bingo« war.

Die Geschenke trafen auch dieses Mal wieder voll ins Schwarze. Stollen essen, Weihnachtstee, dazu eine Schallplatte mit Bachs Weihnachtsoratorium und ein paar Räuchermännchen, die einen angenehmen Duft verbreiteten. Der Heiligabend verlief harmonisch. Nach zwei Stunden verschwanden die beiden Jungs wieder um Heiligabend bei ihrer Mutter, seiner Exfrau Corinna, zu feiern.

Linthdorf musste dauernd an Louise denken, die in ihrem einsamen Krankenzimmer lag und vielleicht gar nicht mitbekam, das Weihnachten war.

Was merkte ein Komapatient überhaupt von seiner Umwelt? War es wie ein tiefer Schlaf? Oder war man nur gefangen in einem Körper, der nicht mehr reagierte, aber der Geist war noch hellwach?

Linthdorf grübelte über diese Fragen schon seit Tagen. Gestern war der erste Tag seit Louises Einlieferung in die Charité, an dem er nicht zu ihr gekommen war. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn sie doch etwas bemerkte, dann war das ein nicht zu entschuldigender Umstand. Tief in seinem Innersten hatte sich der Glaube festgesetzt, dass seine Besuche für ihre Genesung immanent wichtig seien.

Er hatte unruhig geschlafen. Verstörende Träume ließen ihn immer wieder aufwachen.

Entsprechend unausgeschlafen war Linthdorf am Morgen des ersten Feiertags. Schon um Acht hatte seine Katze an die Tür des Schlafzimmers geklopft. Ein deutliches Signal: Hunger! Steh auf und gib mir mein Futter!

»Miezi, du nervst!«

Er trat die Flucht nach vorne an. Fuhr gleich nach dem provisorischen Frühstück nach Potsdam. Vielleicht hatten die Kollegen von der Technik schon etwas über den ominösen Leichenfund im Apfellager herausgefunden.

Als er so gegen Elf in seinem Potsdamer Büro eintraf, hatte er bereits mit der Kriminaltechnik telefoniert. Die waren gestern noch bis spät am Abend beschäftigt gewesen. Vor allem das Abtragen der Apfelberge kostete Zeit. Entsprechend schlecht gelaunt war der Kollege am Telefon. Er hatte sich den Heiligabend anders vorgestellt. Auf Linthdorfs Computer blinkte das Posteingangssymbol. Es war der Bericht der Kriminaltechnik.

Linthdorf vertiefte sich in den mehrseitigen Text und schaute zuerst die beigefügten Fotos an.

Der Polizeifotograf war ein sachlicher, emotionsloser Mensch. Linthdorf kannte ihn. Schweigsam und stets mit einer missgelaunten Miene ging er seinem Beruf nach. Es war schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber er lieferte immer erstklassige Fotos ab, vergaß kein Detail, auch wenn es noch so unbedeutend erschien, er fotografierte wirklich alles.

Auch diesmal hatte er wieder ganze Arbeit geleistet. Bestens ausgeleuchtete Fotos, gestochen scharf und aussagekräftig. Einfach perfekt.

Linthdorf musste schlucken beim Betrachten der Bilder. Ein älterer Mann erstarrt im Todeskampf. Weit aufgerissene Augen und der Mund wie zu einem Schrei geöffnet. Der spärliche Haarkranz stand wie eine graue Aura vom Kopf ab und verlieh dem Mann einen seltsamen Heiligenschein.

Der Mann war mit einem grauen Anzug bekleidet. Anstelle einer Krawatte trug er eine Fliege. Seltsam, er erinnerte Linthdorf in dieser Aufmachung an einen Lehrer aus seiner Schulzeit. Der kam auch immer mit einer Fliege zum Unterricht. Damals hatten sich alle darüber lustig gemacht. Allerdings nur hinter seinem Rücken. Dank dieser Fliege strahlte er im Klassenzimmer eine Würde aus, die es nahezu unmöglich machte, ihn nicht zu respektieren.

Linthdorf wandte sich dem Bericht der Rechtsmedizin zu. Als Todesursache wurde Ersticken angegeben. Im Blut war de facto kein Sauerstoff mehr nachweisbar. Dafür aber deutlich überhöhte Mengen an Kohlendioxid und Stickstoff. Das würde ja zu dem von Malzbrandt geschilderten Szenario passen.

Der Todeszeitpunkt konnte nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Aufgrund der kühlen Temperaturen und der veränderten Gasanteile der Umgebungsluft sei es wohl sehr schwierig, einen exakten Todeszeitpunkt anzusetzen. Eine mikrobiologische Untersuchung wäre hier wohl unerlässlich. Aber das würde doch etwas länger dauern. Eine erste vorsichtige Schätzung ging von einem Todeszeitpunkt vor fünf bis acht Wochen aus. Linthdorf atmete tief durch. Wieso hatte keiner bemerkt, dass da ein Mensch einfach spurlos verschwunden war?

Die Spurensicherung hatte ebenfalls ihren Bericht angehängt. In den Taschen des Mannes habe man nichts gefunden außer ein paar Tabakkrümeln und ein unbenutztes Papiertaschentuch. Weder Papiere noch eine Brieftasche oder ein Portemonnaie hatte der Mann bei sich. Die Abgleichung der biometrischen Daten mit den diversen Datenbanken der Polizei hatte auch nichts gebracht. Auch die am Fundort vorgenommene Untersuchung der direkten Umgebung war ergebnislos.

Inwieweit der Mann durch die auf ihm lagernden Apfelmengen bereits bewusstlos war oder noch lebte, konnte bisher nur vermutet werden. Linthdorf musste an die beigefügten Fotos denken. Der Gesichtsausdruck hatte da schon eine gewisse Aussagekraft.

Linthdorf arbeitete sich systematisch durch das gesamte Material, las auch noch einmal die gestrigen Protokolle.

Ein Blick auf die Uhr, es war kurz nach Eins. Ein Magenknurren meldete den Hunger an. Heute hatte die Kantine ein schmales Angebot. Nur wenige Mitarbeiter waren über die Weihnachtsfeiertage im Dienst. Etwas enttäuscht packte sich Linthdorf ein paar belegte Brötchen auf sein Tablett, dazu eine Apfelsine und ein paar Kiwis.

Weihnachten hatte hier in der Kantine vollends seinen romantischen Reiz verloren. Obwohl ein künstlicher Tannenbaum festlich geschmückt auf einem kleinen Tischchen direkt neben der Kasse aufgebaut worden war und auf jedem der quadratischen Tische kleine Vasen mit Tannengrün und einer Kerze standen, verbreitete die Kantine die anheimelnde Atmosphäre einer Bahnhofswartehalle.